Hausärztliche Versorgung reloaded

In Baden-Württemberg haben die AOK, der Ärzteverbund Medi und der regionale Hausärzteverband einen Vertrag zur ambulanten Versorgung von AOK-Patienten nach § 73 b SGB V geschlossen.

Das geht an die Struktur des uns bekannten Versorgungssystems: Der bisherige Quasi-Monopolist für die ambulante Versorgung, die kassenärztliche Vereinigung (KV), ist nämlich von diesem Vertragswerk ausgeschlossen. Der Rest der Republik, alle Spieler im System werden genau beobachten, wie Patienten und Ärzte den Vertrag annehmen und mit Leben füllen. Gespannt sein dürfen wir vor allem, ob bei der AOK am Ende die Kasse stimmt.

Die Vergütungsangelegenheiten sind klar geregelt: Pro Jahr und eingeschriebenem Versicherten 65 Euro, unabhängig davon, ob der Versicherte den Arzt in Anspruch nimmt. Geht der Versicherte zum Arzt erhält der für das entsprechende Quartal weitere 40 Euro (allerdings für maximal 3 Quartale im Jahr). Der Krankheitsstatus wird gesondert abgegolten: Chronisch kranke Patienten werden mit zusätzlichen 25 Euro im Quartal vergütet, diesmal aber für alle vier Quartale.

Auch das ist umstürzlerisch – und die Beteiligten nehmen auch gleich die Bierdeckelmetapher für sich in Anspruch: Ein Vergütungssystem, das auf einen Bierdeckel passt. Die AOK hofft, die Mehrausgaben durch effizientere Versorgung auszugleichen: Weniger Doppeluntersuchungen, mehr preiswerte Medikamente, eine echte Lotsenfunktion der Hausärzte. Den Patienten wird eine Abendsprechstunde angeboten und eine Behandlungsgarantie bis zum Ende des Quartals gegeben. Die bei bisherigen Hausarztverträgen übliche Rückerstattung der Praxisgebühr ist nicht vorgesehen.

Die AOK erwartet etwa 5000 teilnehmende Hausärzte und rund eine Million Versicherte, die sich einschreiben.

Das Projekt startet am 01. Juli 2008.

Funktionelle Beschwerden – Beschwerden mit Funktion

Obwohl die körpermedizinischen Spezialisten funktionelle Beschwerden diagnostizieren, verlangt es sie also nur in Ausnahmefällen danach, mehr über die Funktion der Beschwerden zu erfahren. Der gegenwärtige Abrechnungsmodus unterstützt zudem die Vernachlässigung des Gesprächs zwischen Arzt und Patient. Damit sind gute Voraussetzungen geschaffen, die Beschwerden möglichst lange und in wechselnder Symptomatik aufrecht zu erhalten.

Allerdings gehören auch zur Arzt-Patient-Beziehung zwei Seiten, die bestimmen, was geschieht. Als Patienten fordern wir nämlich das ärztliche Gespräch weit weniger offensiv ein als eine weitere organmedizinische Abklärung. Wir erwarten Hilfe, wünschen uns das Gespräch, sorgen aber nicht dafür, dass es dazu kommt. Vielmehr arrangieren wir uns mit den Ärzten und bohren das gemeinsame Brett an der dünnsten Stelle an.

Anstatt über die Funktion der Beschwerden nachzudenken, hängen wir der Hoffnung an, der nächste Fachmediziner möge doch nun bitte einen organischen Befund vorlegen. Offenkundig ist es uns zu anstrengender, über die psychosozialen Aspekte der Beschwerden zu reden. Wir vermeiden, wie die Ärzte, Antworten bspw. auf die Frage nach dem (psychosozialen) Sinn der Beschwerden – und verlängern auf diese Weise nicht selten unser Leiden. „Dies läßt sich als Ausdruck eines „Kampfes um Legitimität“ der Beschwerden verstehen, insbesondere bei Patienten mit „neuen“ funktionellen Syndromen wie Multiple Chemische Sensitivität oder Chronisches Erschöpfungssyndrom“, sagt Peter Henningsen, Chef der Psychosomatik an der TU München. „Ebenso typisch ist das für Fibromyalgie-Patienten. Das hat nicht nur mit dem Widerstand gegen die Stigmatisierung als psychische Krankheit zu tun, sondern auch mit der moralisch schwierigen Situation im Graubereich zwischen „Nicht-Können“ und „Nicht-Wollen“.

Körperliche Beschwerden, egal ob organisch erklärt oder nicht, beeinträchtigen die Lebensqualität und das psychische Befinden. Umgekehrt produzieren Antriebsarmut, emotionale Leere, Gesundheitsängste und andauernde Herabgestimmheit eine Vielzahl körperlicher Symptome. Was Ei ist und was Henne, läßt sich unter den gegebenen Umständen kaum entscheiden. Für den Umgang mit den Symptomen scheint es sowieso eher nebensächlich, denn die Besserung einer Seite, bessert immer auch das Befinden der anderen. Wenn die Körperbeschwerden nachlassen, steigt auch die Lebensfreude wieder. Wächst die Lebensfreude, richten wir weniger Aufmerksamkeit auf Körpersignale, die sich zu Beschwerden verstärken lassen.

Im Lichte dieser engen Vernetzung des leib-seelischen Wohl- bzw. Missbefindens nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren empfiehlt es sich, das eine nicht künstlich vom anderen zu trennen. Vielmehr gilt es, die Verflechtung zu nutzen und die Funktion der Beschwerden für das eigene Leben zu entdecken, ihnen einen Sinn zu geben, so unsinnig der auf den ersten Blick sein mag. Zudem gilt es, das Vertrauen ins medizinische System zurück zu gewinnen und die Selbst-Verunsicherung zu verringern. Dazu ist es laut Norbert Hartkamp notwendig, der ideologischen Überhöhung von Eigenverantwortung und Selbstkontrollvermögen zu widerstehen: „Wir bekommen eingeflüstert: Erkennen Sie die Krankheit, bevor sie eine Krankheit ist.“ Die neue

Exemplarisch dafür scheint die Diskussion, ob es gut sei, dass sich die gesamte erwachsene Bevölkerung den Darm spiegeln lassen sollte. Dadurch verstehen noch mehr ausgebildete Kranke ihren Körper als Maschine statt als eine systemische Größe des leib-seelischen Erlebens, deren Wohlbefinden nicht ausschliesslich von Blut-, Urin- oder Leberwerten, Hormonspiegeln und Cholesterinpegeln abhängt.

Das spezialisierte Gesundheitssystem

Ein großer Anteil psychosomatisch-funktioneller Erkrankungen in Hausarzt- und Spezialistenpraxis erklärt sich durch die zeit- und kostenintensive Ausschlussdiagnostik. Ein bildgebendes Verfahren hier, ein Laborwert da, eine Darmspiegelung in dieser Praxis, ein Muskelbelastungstest in einer anderen. Einerseits wollen die Behandler wegen des eigenen Haftungsrisikos sicher gehen, nicht doch etwas übersehen zu haben. Andererseits erscheinen organisch unerklärte Symptome im Gewand bekannter körperlicher Erkrankungen: Eine ähnliche Symptomkonstellation von Unterbauchbeschwerden und unregelmäßigem Stuhlgang führt organisch erklärt bspw. zur Diagnose eines Morbus Crohn. Findet der Arzt keine andere organische Ursache, bspw. eine Milchsäureunverträglichkeit, heisst die Kategorie Reizdarmsyndrom.

Das ärztliche Vorgehen ist wenig vertrauenswürdig, denn die Symptome erscheinen als diagnostische Kippfiguren. Je nach eigenem Fachgebiet stellt der Untersucher bestimmte Symptome einer Konstellation in den Vordergrund und rückt die anderen in den Hintergrund. Auf der Basis derselben Symptome (Muskelschmerzen, Müdigkeit und Kopfschmerzen) entscheidet der Rheumatologe, es liege ein Weichteilrheumatismus (Fibromyalgie) vor, während der Neurologe eher ein Chronisches Erschöpfungssyndrom erkennt (vergleiche Tabelle 1).

Britische Untersuchungen aus den letzten Jahren belegen diesen Eindruck: Zwischen 30% und 70% aller Patienten, die in der rheumatologischen Praxis ein Fibromyalgie-Syndrom bescheinigt bekommen, erhalten in einer gastroenterologischen Praxis die Diagnose Reizdarmsyndrom – und umgekehrt. Eine Diagnose erlaubt somit eher Rückschlüsse auf das Fachgebiet des diagnostizierenden Arztes als auf den körperlichen Zustand des Patienten.

Tabelle nach Wessely ea. 1999 (++ charakteristisch für Syndrom, + assoziiert mit Syndrom)

Der so eingeengte Blick und die Vielzahl der Erklärungen, welche die einzelnen Fachleute anbieten, verwirrt die Patienten. Selten sind die Kollegen einer Meinung. Jeder Spezialist offenbart eine eigene Sicht auf die präsentierten Symptome. Entsprechend variabel fallen die Therapievorschläge aus. Wer hat denn nun recht, fragen wir uns anschliessend berechtigt und mit wachsender Sorge. Jeder weitere Arztbesuch nämlich, der nur eine neue Diagnose, aber keine Erklärung und schon gar keine Besserung der Symptome zustande bringt, frustriert uns zusätzlich. Die Zweifel an den Ärzten wachsen. Umgekehrt beginnen die Ärzte über uneinsichtige, querulatorische Patienten zu klagen, deren Sehnsucht nach einer organischen Erklärung für die Beschwerden sie nicht befriedigen können.

Dabei stecken die Mediziner in einem aktuell kaum auflösbaren Systemzwang. Sie wissen um die psychosozialen Einflüsse, welche die Beschwerden gestalten. Sie sind sich dessen bewusst, dass sie sich die Zeit nehmen müßten, länger mit dem Patienten zu reden. Weil das Abrechnungssystem jedoch körpermedizinische Diagnostik und Therapie favorisiert, und dem Gespräch mit dem Patienten nur wenig Raum gewährt, bleiben wichtige Fragen zur besseren Erklärung der Symptome offen. Dem Arzt bleibt nur die Wahl zwischen zwei unerfreulichen Optionen: Entweder er sucht das Gespräch und ruiniert damit seine Existenz. So der Fall in vielen Hausarztpraxen, die auf Umsätze verzichten, wenn sie sich den sonstigen Sorgen und Nöten der Patienten zuwenden. Oder der Arzt behelligt die Patienten unnötiger Weise mit wiederholter Körper-Diagnostik und verschreibt Medikamente (z.B. Schmerzmittel), um die akuten Beschwerden zu lindern. Damit hat er sich zwar ökonomisch abgesichert, aber den Patienten keineswegs optimal versorgt – denn die möglichen Ursachen der Beschwerden bleiben weiter verborgen.

Patienten: Das veränderte Körperbild

Einen weiteren Grund für die starke Präsenz funktioneller Beschwerden im Versorgungsgeschehen diskutiert Norbert Hartkamp, Chefarzt an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Stiftungsklinikum Mittelrhein in Boppard: „In unserer Kultur hat die Bereitschaft des Einzelnen abgenommen, Schmerz zu ertragen.“ Schmerz und körperliches Leiden sind stark soziokulturell überformt. Die Individuen der postmodernen Industriegesellschaften akzeptieren nur die Abwesenheit jeglicher unangenehmer Empfindungen als wünschenswerten Wohlfühlzustand. Erlebte Beschwerden und daraus resultierende Krankheitsängste werden deswegen möglichst frühzeitig durch einen Besuch beim Experten zu klären versucht.

Die veränderte Einstellung den selbst erlebten Schmerzen gegenüber, geht nach Hartkamp einher mit dem Verschwinden körperlicher Versehrtheit in der Öffentlichkeit. Zur gesellschaftlichen Wirklichkeit in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts gehörten bspw. Körperschäden wie amputierte Beine, Arme, Hände und Finger als Kriegsfolgewirkungen. Sie waren selbstverständlicher Teil unserer Wahrnehmung und beeinflussten unsere Vorstellungen dessen, was „normal“ und „akzeptabel“ und individuell tolerierbar ist.

Das ausgeklügelte und technisch hoch gerüstete Gesundheitssystem führt offenbar zu einem Paradoxon. Es verlängert unser Leben, drängt den Schmerz durch Tabletten, Spritzen, Nadeln und Massagen zurück und findet immer neue Wege, bisher Unbehandelbares zu behandeln. Gleichzeitig kommt der Schmerz als funktionelle Beschwerde durch die Hintertür zurück, weil ein schmerzfreies Leben der menschlichen Natur kaum Genüge zu tun scheint – als habe unser Körper das Bedürfnis, das Phänomen Schmerz in die Zukunft zu retten – gegen den Anspruch von Wissenschaft und Forschung, ihn aus unserer Wahrnehmung zu verbannen.

Darüber hinaus haben wir auch die Sicht auf unseren Körper den postmodernen Erfordernissen angepasst: Individuelle Verantwortung für einen Körper, der wie eine Maschine funktioniert. Deren Einzelteile können mit Viagra, Silikon oder Botulin individuell optimiert werden. Skalpell und Fettabsaugpumpe stehen für eine Generalüberholung zur Verfügung. Zudem zerlegt die Medizin der Apparate das körperliche Geschehen in kleine, analysierbare Einheiten. Sie verspricht genaue Befunde und versäumt es, darauf hinzuweisen, dass es sich um Wahrscheinlichkeitsaussagen handelt, die zutreffen können – oder auch nicht. Als Patienten verinnerlichen wir das mechanistische Selbstbild und tragen die damit verbundenen Erwartungen an Heilung und Verbesserung unseres Zustandes in die Praxis unseres Arztes. Entsprechend groß ist die Enttäuschung, wenn die Beschwerden nicht verschwinden.

Gleichwohl sind wir inzwischen alle überzeugt, dass jeder seines eigenen Körpers Gesundheitsschmied ist – entweder durch die Vermeidung individueller Risiken (Rauchen, Bewegungsarmut, Fehlernährung) oder durch die Inanspruchnahme von Vorsorgeprogrammen und Reihenuntersuchungen. Die Ergebnisse bestätigen das: Wir leben gesünder, sportlicher, körperbewusster. Und durch die Fortschritte der Medizin leben wir länger.

Den Körper nur als Maschine zu betrachten, deren Daten wir lesen und interpretieren, die wir gesund erhalten und optimieren können, stärkt unseren Glauben, alle Abläufe liessen sich steuern und regeln. Unangenehmer Weise zeigt uns unsere körperliche Wirklichkeit, wie sehr wir damit einer Illusion erliegen: Krankheit kommt, so oder so, und meistens auf eine Weise, wie wir sie nicht vorher sehen konnten.

Funktionelle Beschwerden sind der beste Beleg dafür.

Morgen: Das spezialisierte Gesundheitssystem

Patienten und Ärzte: Das verschobene Machtgefüge

Ohne Zweifel hat sich unser Verhalten als Patienten in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert: Wir sitzen im Schnitt häufiger in einer Arztpraxis. Wir gehen wegen leichterer Beschwerden in die Sprechstunde. Wir sind weniger bereit als frühere Generationen, ein aus dem Gleichgewicht geratenes körperliches Befinden längere Zeit zu tolerieren. Wir achten stärker auf die Signale unseres Körpers, verstärken sie damit allerdings zusätzlich, weil sich die körperlichen Reaktionen in unserem Bewusstsein festsetzen und unsere Aufmerksamkeit fesseln.

Norbert Donner-Banzhoff, in Marburg gleichermaßen als Wissenschaftler und als Hausarzt tätig, erklärt die herab gesetzte Schwelle für einen Arztbesuch mit einer veränderten Sozialisation: „Auffällig ist das am Krankheitsverhalten von Kindern. Schon kleine, banale Störungen oder Wehwehchen veranlassen die Eltern, mit ihren Kindern einen Arzt aufzusuchen.“ Auf diese Weise lernt der Nachwuchs bereits in jungen Jahren, dass körperliches Unbehagen an einen Arztbesuch gekoppelt ist – ohne vorher von den Eltern Methoden und Mittel zur Selbsthilfe zu bekommen.
Veränderte Familienstrukturen tun das Übrige. Weil die Familien weniger Kinder zählen und diese Kinder selten gemeinsam mit Gleichaltrigen aufwachsen, sind die Immunsysteme anfälliger und neigen zu Überreaktionen. Weil die Familienverbände kleiner geworden sind und kaum noch drei Generationen unter einem Dach leben, ist auch das großelterliche Erfahrungswissen nicht unmittelbar verfügbar. Diese sozialen Umstände führen zu einem Mangel an körperlicher Selbstkompetenz – und zu einer erhöhten Inanspruchnahme von Ärzten.
Dem steht eine Zunahme an Wissen und Aufgeklärtheit seitens der Patienten gegenüber. „Die Patienten treten heute selbstbewußter und informierter auf“, stellt Donner-Banzhoff fest. Der Widerspruch zur soeben konstatierten Verunsicherung ist nur ein scheinbarer. Um nämlich unsere Verunsicherung zu kompensieren, nutzen wir alle verfügbaren Informationsquellen: das Internet, Ratgeberbücher oder Gesundheitssendungen des Fernsehens.

Mit unserem gesammelten Wissen treten wir dem Hausarzt gegenüber. Damit ist das klassische Verhältnis zwischen dem Halbgott in Weiß und dem Empfänger göttlicher Ratschläge zum historischen Auslaufmodell geworden. Weil in der so gestalteten Arzt-Patient-Beziehung der Expertenrat immer auch durch den Patienten angezweifelt werden kann, ergibt sich daraus eine weitere Ursache für verändertes Patientenverhalten: Wir brauchen einen, zwei oder drei weitere Ärzte, um eine bereits erfolgte Diagnose zu bestätigen – oder zu widerlegen.

Die Kombination aus weiter Verbreitung und mangelnder organischer Erklärung der Beschwerden resultiert in einem weiteren Phänomen: Der Etablierung eines öffentlichen Diskurses über die möglichen Quellen der Leiden. Dabei spielen Störquellen außerhalb des Körpers eine Rolle (z.B. Elektrosmog, Erdstrahlen). Oder der symptomauslösende Wirkstoff wird innerhalb des Körpers vermutet (z.B. Amalgam-Füllungen, belastete Nahrung). Beeinflusst durch Medien, Juristen, interessierte ärztliche Spezialisten und die Lobby der Betroffenengruppen verselbstständigen sich die Symptomkonstellationen und werden in den Rang von eindeutig abgrenzbaren Krankheitsentitäten erhoben. Diesem Druck geben Gerichte, Rententräger und Krankenkassen nach und nehmen die Syndrome in den offiziellen Krankheitskatalog auf.

Morgen: Patienten – Das veränderte Körperbild

Symptome ohne Befund, medizinhistorisch gesehen

Funktionelle Beschwerden sind medizingeschichtlich eng an den Begriff der Hysterie gekoppelt. Im antiken Rom und Griechenland geprägt, galt die im Körper wandernde Gebärmutter (griech.: Hystera) als Ursache für ansonsten organisch nicht erklärbare Symptombildungen im Kopf-, Hals-, Kiefer- oder Nackenbereich, aber auch als Ursache diverser Wahrnehmungsstörungen.

Wie Hans Morschitzky (2000) in seiner Überblicksarbeit schreibt, verwandeln sich die Erklärungsmodelle für derlei Körperbeschwerden entsprechend der Zeit. Im Mittelalter wurden hysterische Symptome mit der Besessenheit von Dämonen assoziiert. Während die Antike eher einen Mangel an Sexualität und Lust mit diesen Symptomen verband, verkehrte das christlich geprägte Mittelalter diesen Ansatz in sein Gegenteil: Die Besessenheit durch den Teufel bot den Betroffenen vermeintlich eine Entlastung für das als sünd- und schuldhaft erlebte Begehren.

Nach der Zeit der Hexenverfolgungen vertrat der englische Arzt John Sydenham im 17. Jhd. als erster die Ansicht, seelische und psychosoziale Faktoren seien Auslöser für die so genannten hysterischen Symptome. Der Pariser Arzt Charcot vermutete hinter der Hysterie eine neurologisch-organische Erkrankung, bedingt durch neuromuskuläre Übererregung. Sein Schüler Janet entwickelte das Konzept der Dissoziation, um hysterische Zustände zu erklären. Die mit diesen Zuständen einher gehenden Symptome entstanden nach Janet durch die Abspaltung (Dissoziation) von Aufmerksamkeits- und Bewusstseinsprozessen.

Laut dem US-amerikanischen Medizinhistoriker Edward Shorter (1992) war die Hysterie eine in der zweiten Hälfte des 19. Jhds. weit verbreitete Störung. Sie drückte sich in epilepsie-ähnlichen Anfällen, Pseudohalluzinationen, Anästhesien, Lähmungen, Ohnmacht- und Atemnotanfällen, Schmerzen, Seh- und anderen funktionellen Störungen aus.

Das Freudsche Hysteriekonzept lieferte das erste integrierte, psychologisch-dynamische Modell, hysterische Phänomene zu erklären. Dabei verzichtete der Wiener Arzt auf die (nicht belegbaren) Annahmen, mit denen auch Charcot und Janet arbeiteten, dass derlei Symptome neurologischen Ursachen zuzuschreiben wären. Nach den ersten Studien zur Hysterie verlautbarte Freud, äußere Ereignisse im frühen Kindesalter (Traumatisierungen) wären für derlei Symptombildungen verantwortlich. Diesen Standpunkt verließ Freud im Zuge weiterer Forschungen und postulierte den innerpsychischen Konflikt als Ursache der körperlichen Beschwerden: Im Zuge des Konflikts zwischen den psychischen Instanzen (Ich, Es, Über-Ich), der abgewehrt und verdrängt werden musste, entstanden die hysterischen Symptome. Triebimpulse, die unterbunden werden sollten, und die resultierende Abwehr verschmolzen in den körperlichen Symptomen zu einer Kompromisslösung. Der Patient zog aus dieser Lösung einen doppelten Krankheitsgewinn: Er blieb von unerwünschten Triebimpulsen frei (primär) und die Umwelt schonte ihn aufgrund der Krankheit (sekundär).

Medizinhistoriker Shorter verweist auf eine wichtige Rahmenbedingung, in welcher sich die Sicht der jeweiligen Zeit auf Symptome dieser Art ausdrückt: Das herrschende medizintheoretische Paradigma. Führte das Reflexzonenparadigma zu eher motorischen Symptomen, erzeugte der hirnorganisch-neurologische Ansatz in der Medizin eher sensorische Symptome bei den Patienten. Mit Freud löste das psychologische Paradigma den neurologischen Ansatz ab. Die Patienten präsentieren vermehrt Symptome ähnlich derer, die mit organpathologisch belegbaren Veränderungen verknüpft sind, denn sie stehen dem psychischen Paradigma skeptisch gegenüber.

Die psychodynamische Sicht auf nunmehr so genannte psychosomatische Erkrankungen bzw. hysterische Neurosen prägte bis in die 1970er Jahre die diagnostischen Manuale: Die von der WHO herausgegebene International Classification of Disease (ICD) orientierte sich bis zu ihrer 9. Revision, die in Deutschland bis ins Jahr 2000 gültig war, an Freudschen Konzepten. Das von der American Psychiatric Association verantwortete Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) enthielt bis zur 3. Revision 1980 „Hysterische Neurosen“ (vom Konversions- und vom Dissoziationstyp) als diagnostische Kategorien. Die psychoanalytischen Begriffe Hysterie und Neurose bildeten also das gemeinsame Dach, unter dem sich diese Beschwerdebilder erfassen ließen.

Weil der Begriff Hysterie als unpräzise und theoretisch vorbelastet galt, entschieden sich die Verantwortlichen der dritten Überarbeitung, rein phänomenologische Beschreibungen in Diagnosen zu gießen, um ein Ordnungssystem für die nun so genannten „Somatoformen Störungen“ zu verabschieden. Dieses System fasst seitdem bestimmte Symptomkonstellationen zu abgegrenzten Krankheitsentitäten zusammen. Es entstanden somatoforme Beschwerdebilder wie das Konversionssyndrom, die Hypochondrie und die Somatisierungsstörung. Die so genannten funktionellen Beschwerden bleiben im DSM aussen vor.
In der ICD-9 wurden organisch unerklärte Symptome als hysterische Neurosen oder als körperliche Funktionsstörungen psychischen Ursprungs abgebildet. Der seitdem gültige ICD-10 beschränkt sich ähnlich dem DSM auf die deskriptive Krankheitsklassifikation, um keinerlei Annahmen über den Ursprung der Symptome in die Diagnose aufzunehmen. In Anlehnung an das DSM fanden die Somatoformen Störungen Eingang in das Klassifikationssystem. Im Gegensatz zum DSM berücksichtigt die ICD-10 jedoch auch weiterhin funktionelle Störungen ohne organische Ursachen – als somatoforme autonome Funktionsstörungen des jeweiligen Organsystems.

Literatur:
Morschitzky H (2000): Somatoforme Störungen. Springer-Verlag, Wien New York.
Shorter E (1992): Moderne Leiden – Zur Geschichte der psychosomatischen Krankheiten. Rowohlt-Verlag, Reinbek.

Morgen: Patienten und Ärzte – Das verschobene Machtgefüge

Was passiert, wenn der Arzt nichts findet?

Eine funktionelle Störung diagnostiziert der Arzt dann, wenn organische Befunde durch gezielte Untersuchungen ausgeschlossen sind. Kann der Körper nicht für das körperliche Leiden verantwortlich gemacht werden, stehen unmittelbar zwei Vermutungen im Raum: Entweder der Arzt hat nicht korrekt diagnostiziert oder unsere seelische Belastung ist so groß, dass sie sich in körperlichen Symptomen ausdrückt. Entweder die Diagnostik muss fortgesetzt werden oder die Symptome sind psychosomatisch, d.h. durch psychosoziale Faktoren verursacht und aufrecht erhalten. Beide Vermutungen fordern die Beziehung zwischen Behandler und Behandelten auf besondere Weise heraus. Während der Arzt vorsichtig die psychosoziale Erklärung erwägt, weisen wir häufig diese Unterstellung zurück: Glaubt der Doktor, wir seien verrückt?

Beharren wir nun auf unserer organischen Ursachenüberzeugung, droht eine lange Kette wiederholter Arztbesuche: Doktor-(S)hopping. Auf der Suche nach einer organischen Ursache für die körperlichen Beschwerden werden wir als Patienten mit funktionellen Beschwerden häufiger untersucht, stärker invasiv behandelt und unter größerem Kostenaufwand laboranalytisch vermessen als der durchschnittliche Patient einer Praxis. Und nur selten kommt es auf diese Weise zu einem körperlichen Befund. In der Praxis eines Spezialisten, der unsere Symptome begutachtet, ist jeder zweite Patient von funktioneller Symptomatik betroffen – beim Kardiologen, beim Internisten oder auch beim Orthopäden.

Obwohl uns also die Nachricht, dass medizinisch keine körperliche Schädigung feststellbar ist, zunächst beruhigen sollte, tritt genau das Gegenteil ein. Suchen wir weitere Spezialisten auf, ohne dass einer von ihnen eine plausible Begründung vorlegt, sind wir beunruhigter als zuvor.

Morgen: Symptome ohne Befund – eine lange medizinische Tradition

Funktionelle Störungen bzw. Beschwerden

Ich habe schon in meinem Kommentar zur freien Arztwahl darauf hingewiesen: Etwa ein Drittel aller Beschwerden, mit denen Patienten eine Hausarztpraxis aufsuchen, bleiben organisch unerklärt (Henningsen P, Zipfel S, Herzog W (2007). Management of functional somatic syndromes. The Lancet, 369, 9565, 946 – 955). Die mit der körperlichen Symptomatik verbundene funktionelle Einschränkung gibt den Störungen ganz pragmatisch ihren Namen.

Doch warum organisch bzw. medizinisch unerklärt, wenn es doch der Körper ist, der nicht korrekt funktioniert?

Körperliche Beschwerden an sich sind uns allen wohl vertraut. Manchmal hämmert der Kopf bis zum Zerplatzen. Manchmal schmerzen die Glieder und der Rücken. Manchmal fließt der Schweiß unkontrollierbar. Hin und wieder regt sich der Darm in kaum nachvollziehbaren Zyklen und die Magensäure steigt die Speiseröhre hinauf. Ab und an ertönt ein lästiges Fiepen im Ohr, welches aus uns selbst zu kommen scheint. Ein anderes Mal wird uns schwindelig oder unser Herz beginnt zu rasen…

Epidemiologische Befragungen zeigen, dass innerhalb einer Woche rund drei Viertel der Bevölkerung einmal über ein solches körperliches Symptom klagt. Die meisten der unspezifischen Signale des Körpers verschwinden nach kurzer Zeit. Wir erkennen sie als vorübergehend und entwickeln eigene Selbsthilfeprogramme, den Kater, den Durchfall oder das Pfeifen im Ohr zu kontrollieren. Um die Regungen des Körpers zu verstehen, greifen wir auf nahe liegende Erklärungsmuster zurück, in deren Licht uns die Beschwerden als „normal“ oder „berechtigt“ erscheinen: eine durchzechte Nacht, ein verdorbenes Kantinengericht, laut dröhnende Boxen auf der letzten Drum’n‘Bass-Party.

Darüber hinaus wissen wir um das Wechselverhältnis zwischen Körpersymptomen und psychosozialen Belastungen. Der Zusammenhang ist fest in der Sprache verwurzelt – ohne dass wir uns dessen immer Gewahr sind. Da „klingen Worte immer noch in den Ohren“. Eine Nachricht „macht schwindelig und kippt jemanden aus den Latschen“. Eine Prüfung „schlägt dem Prüfling auf den Magen“. Eine Ungerechtigkeit „versetzt das Blut in Wallung“. Oder ein Verlust „tut im Herzen weh und geht an die Nieren“. So lange wir auf diese Weise eine Erklärung für die leidvollen Körperreaktionen bekommen, die Symptome abklingen und das Gleichgewicht zurück kehrt, kommen wir nicht auf die Idee, damit einen Arzt zu behelligen.

Bei etwa einem Viertel der Betroffenen entwickelt sich jedoch eine dauerhafte Störung der körperlichen Befindlichkeit. Die Symptome verselbstständigen sich, der Kopf hämmert fortgesetzt, der Durchfall dauert wochenlang. Das körperliche Unwohlsein beginnt, den alltäglichen Gang der Dinge und die Lebensqualität zu beeinträchtigen. Halten die Beschwerden weiter an, sehen wir keinen anderen Ausweg, als uns in die fachkundigen Hände eines Mediziners zu begeben. Der Fachmann soll nun klären, welche körperliche Veränderung das Symptom erzeugt.

In dem Moment nämlich, in dem die Beschwerden länger andauern, als wir es gewohnt sind, tritt die Sorge vor einer körperlichen Ursache in den Vordergrund. Mögliche psychologische Erklärungsmuster verlieren an Erklärungskraft. Angesichts der erlebten, massiven Beeinträchtigung, die ja unseren Arztbesuch erst auslöst, erscheint es uns zwingend, dass mit unserem Körper „etwas nicht stimmt“.

Leider erweist sich unsere Annahme, dass stark beeinträchtigende, körperliche Symptome auch organisch erklärbar sein müssten, häufig als falsch. So zeigt eine repräsentative Erhebung (Hessel A, Geyer M, Schumacher J, Brähler E (2002). Somatoforme Beschwerden in der Bevölkerung Deutschlands. Zeitschrift für psychosomatische Medizin und Psychotherapie 48, 1, 38-58), wie verbreitet Körperbeschwerden ohne organischen Befund bei den Patienten sind: 30% der Befragten berichteten Rückenschmerzen, die das Wohlbefinden stark beeinträchtigten, für die der Arzt auch nach zwei Jahren keine (körperlichen) Ursachen finden konnte. Darüber hinaus klagten im selben Zeitraum 25% über Gelenkschmerzen, 20% über Schmerzen in Armen und Beinen, 19% über Kopf- und Gesichtsschmerzen, 13% über Völlegefühl. Damit bekommt mindestens ein Drittel der Patienten in Deutschland eine „Diagnose ohne Befund“ attestiert.

Und dann sprechen die Ärzte von funktionellen Beschwerden.

Morgen: Was passiert, wenn der Arzt nichts findet?

Aprikosen-Pudding- Kuchen

Der nächste Backvorschlag aus dem Obstkuchenbuch des Herrn Oetker – wie immer nicht ganz buchstabengetreu (Quelle: Dr. Oetker Obstkuchen, ISBN 978-3-7670-0833-5). Der vorherige war die Rhabarber-Vanille-Tarte.

Diesem Kuchen liegt ein Quark-Öl-Teig zugrunde, butter- und eierfrei also. In den Teig gehören: 300 gr Weizenmehl, 100 ml Milch, 100 ml Rapsöl, 150 gr Quark, 75 gr Zucker, 1 Päckchen Vanillezucker, 1 Prise Salz, 1,5 Tl Backpulver.

Für den Belag sind folgende Materialien vorgesehen: 1 Dose Aprikosenhälften (Einwaage: 480 gr), 1 Päckchen Vanille-Pudding, 1 Päckchen Vanillezucker, 0,5 l Milch, 2 EL Zucker.

Und so geht’s: Zunächst den Vanille-Pudding kochen und abkühlen lassen. Zwischendurch immer mal rühren. Währenddessen den Teig erzeugen. Mehl und Backpulver vermischen. Öl, Milch, Quark, Zucker, Vanille und Salz zugeben. Alle Zutaten mit den Knethaken des Mixers verrühren. Ist daraus ein Teig geworden, etwa ein Drittel davon abzweigen. Den größeren Teil in einer Spring-Backform (Backpapier drunter!) ausbreiten. Alles in Handarbeit, am besten mit etwas Mehl an den Händen, gleichmäßig über die Form verteilen. Den Teig am Springformrand etwa einen Finger hoch überstehen lassen.

Den Pudding auf dem Teig verteilen. Danach abgetropfte, klein geschnittene Aprikosenstücke in den Pudding hinein versenken.

Zum Schluß kommt das anfänglich abgezweigte Drittel Teig zum Einsatz: In etwa auf Größe der Springform ausrollen und in zwei Zentimeter breite Streifen schneiden. Diese als Gitternetz über die Aprikosenschicht legen.

Schmecken lassen!

Kindliches Sprachspiel 11

Es gibt immer wieder Momente, in denen der große Sohn (sehr zu unserem Leidwesen) frei flottierend durch die Wohnung zieht, um dort eine Schublade heraus zu ziehen, hier etwas vom Tisch zu grabschen, da am Spiegel zu wackeln oder dort auf seinem Weg durch die Räume einen Becher Wasser umzukippen, über das eigene Spielzeug zu stolpern, sich in Vorhänge einzuwickeln, den Mülleimer zu untersuchen…

Heute sitze ich auf dem Wohnzimmerfußboden und frage, hinein in diese gerade sich entgrenzende Energie:
“Warum spielst du nicht mit mir und deinen Lego-Steinen?”
“Weil ich schon Feierabend habe.”

Besser lässt sich ein väterlicher Versuch, das Kind einzufangen, kaum auskontern. Mehr Entwaffnung geht nicht.