Versorgung durch den Hausarzt nach §73b SGB 5

Aus den Reihen der CDU-Gesundheitspolitiker (Spahn und Koschorrek) ist in den letzten Tagen zu vernehmen, dass sie für die Abschaffung der geschiedsten Verträge zur hausarztzentrierten Versorgung plädieren. Noch ist diese Idee nicht offiziell im Sparmaßnahmenkatalog gelandet – und vermutlich wird sie das auch nicht, weil die CSU schon Widerstand angekündigt hat.

Dennoch bietet es sich an, darauf hinzuweisen, wie wenig manche Politiker verstanden haben, wie notwendig solche Veränderungen im deutschen Gesundheitssystem sind, wie sie die Hausärztverträge nach §73b darstellen:

  • Stichwort Einzelleistungsvergütung nach EBM als Steckenpferd und Existenzsicherung der KVen – dagegen stehen die pauschalen Vergütungen in den HA-Verträgen. Das ist ein erster Schritt, die sprechende Medizin zurück in die Praxen zu bringen, denn befreit vom Gedanken an mögliche Abrechnungsziffern, sind womöglich neue Dynamiken zwischen Hausärztin und Patientin möglich.
  • Unterrepräsentanz der Hausärzte in den Vertreterversammlungen der KVen – deswegen haben die Hausärzt/innen angefangen, Ihre Belange in die eigenen Hände zu nehmen.
  • Durch diese andere Art der Vergütung besteht erstmals die Möglichkeit, aus dem Hamsterrad auszusteigen, dass die Hausärzte zwingt, immer mehr Patienten einzubestellen, um für diese immer weniger Vergütung zu erlösen. Die hohe Arztkontaktrate in Deutschland ist doch ein Symptom eines absurden Systems, das wir hinter uns lassen müssen. Diese Verträge sind ein erster Schritt, etwas mehr Vernunft ins Versorgungsspiel zu bringen.
  • Eindämmen der Selbstüberweisung durch die Patienten: Patienten, die meinen, sie wüssten schon selber, welchen Facharzt sie brauchen, liegen damit meist nicht richtig. Zumal Studien (schon vor zehn Jahren und mehr) zeigten, dass dieselbe Patientengruppe mit unspezifischen Symptomen beim Rheumatologen eine Fibromyalgie und beim Gastroenterologen eben einen Reizdarm angedichtet bekommt (Aaron LA, Buchwald D 2001: A Review of the Evidence for Overlap among unexplained Clinical Conditions. Ann Intern Med. 134: 868 – 881. Aktuell: Lahmann, Henningsen, Noll-Hussong, Dinkel 2010: Somatoforme Störungen, Psychother Psych Med 2010; 60: 227–236)
  • Wenn es denn politisch gewollt ist, die hausärztliche Versorgung zu erhalten, dann müssen die strukturellen Bedingungen der Arbeit eines Hausarztes oder einer Hausärztin verbessert werden, die Vergütung ist wichtig, aber sicherlich nicht die zentrale Hürde dafür, den Facharzttitel AfA zu erwerben und sich niederzulassen.

Niemand, schon gar nicht die Hausärzte, die ein politisches Rollback fürchten, sollten die politischen Vorstöße falsch verstehen: Hier geht es nicht darum, etwas einzusparen. Die Verträge nach §73b unterliegen der Gesamtbereinigung und entziehen nur dem KV-System das Geld, das ansonsten über die üblichen Ausschüttungsmechanismen verteilt würde.

Bei solchen Vorstößen geht es vielmehr darum, einen drohenden Macht- und Bedeutungsverlust abzuwenden – und eine dringend notwendige Renovierung des Systems, bei dem es Gewinner und Verlierer geben wird, zu unterlaufen. Willfährige Politiker verkleiden das dann in einen Sparvorschlag. Dass mit der hausarztzentrierten Versorgung keine Monopole geschaffen wurden, kann man schon daran sehen, dass bspw. die KV Meck-Pomm gemeinsam mit dem Hausärzteverband Meck-Pomm die Verträge abwickelt. Den KVen steht es ja frei, eigene Verträge nach §73b abzuschließen, wenn Gemeinschaften von Leistungserbringern, die auch hausärztlich tätig sein können (nach §73 Satz 1a), sie dazu ermächtigen.

Allerdings kommt der meiste Widerstand nicht einmal von der KV-Seite. Die gesetzlichen Krankenkassen blockieren und verlangsamen diese Entwicklung, seit §73b 2004 das erste Mal ins SGB 5 geschrieben wurde. Beispielsweise werden bei der TK (meine Versicherung, Vertragsstart für mich als Versichertem laut Auskunft Call-Center 01.01.11) keinerlei Anreize mehr für die Patientenseite in Aussicht gestellt. Ja, die TK weist in Ihrem Informationsblatt explizit darauf hin, entgegen landläufiger Meinung sei es eben nicht der Fall sei, dass die Praxisgebühr im Hausarzt-Vertrag entfiele. D.h., die Kassen werden zwar vom Gesetzgeber gezwungen, solche Verträge zu machen, aber gerade die großen Kassen werden sie nicht offensiv bewerben bzw. werden sie ihren Versicherten nicht schmackhaft machen. Nach dem Motto: Wenn keiner die Hausarztzentrierte Versorgung (HAZV) in Anspruch nimmt, lässt sich am Ende gut argumentieren, die Patienten wollten das ja gar nicht.

Und da bin ich bei Bertelsmann und dieser seltsamen Studie von 2008, die von interessierten Kreisen leider immer noch gegen die Hausarzt-Modelle ins Feld geführt wird. Ich verweise auf einen früheren Eintrag im Weblog, in dem ich mich mit dieser Art von „Untersuchung“ beschäftigt habe: Hausarztmodelle teuer und ohne Nutzen – und an dieser Stelle vermisse ich als statistisch-methodisch arbeitender Wissenschaftler schmerzlich ein Korrekturverfahren für politischen Bias, :-).

Ersatzkassen gegen Zwang bei Hausarztmodellen

Nun melden sich die Krankenkassen zu Wort, um die Absicht der Regierung zu kritisieren, die Kassen zu zwingen, hausärztliche Versorgung anzubieten, Fristen dafür zu setzen und den Kassen bestimmte Vertragspartner (Hausarztverbände) dafür aufzunötigen.

Den Anfang macht der Verband der Ersatzkassen, Dachorganisation so großer Läden wie Barmer, DAK und Techniker-Krankenkasse: Hausärztliche Versorgung mit Augenmaß stärken, Wahlgeschenke an Hausärzte belasten Versicherte.

Dabei wiederholt der Verband die bekannten Argumente: zu teuer, ohne Nutzen, die Qualität der Versorgung würde sich nicht verbessern. Am Ende müssten die Patienten teure Geschenke für die Hausärzte bezahlen. Das ist ziemlich unverfroren, denn es wäre eben die Aufgabe der Kassen, die Verträge so zu gestalten, dass die Versorgung der Patienten sich verbessern würde.

Ein Eindruck aus den letzten Jahren bleibt: Das Selbstverständnis der Krankenkassen sollte sich wandeln. Aus Beitragsverwaltern sollten – angestoßen durch politische Entscheidungen – Gestalter auf dem Gesundheitsmarkt werden. Aus Behördenapparaten sollten unternehmerisch agierende Organisationen werden. Doch mit diesem Systemwandel sind einige Kassen offenbar heillos überfordert. Es braucht wohl noch ein paar Jahre bis die Kassen tatsächlich begreifen, welche Chancen sie haben, die Versorgung ihrer Patienten deutlich zu verbessern.

Solche Abwehrschlachten wie die gegen die hausärztliche Versorgung sind Nachbeben aus einer untergegangenen Patienten-Verwaltungsepoche, die allerdings noch lange wirksam sein können.

Koalition will Kassen zu Hausarztverträgen zwingen

Heute berichtet die Süddeutsche Zeitung, die Koalition aus SPD und CDU werde endlich bei den Verträgen zur Hausarztzentrierten Versorgung aktiv.

Zur Erinnerung: Seit 01.04.2007 besteht eine Pflicht der Gesetzlichen Krankenkassen, ihren Versicherten Hausarztzentrierte Versorgung anzubieten. Nur wenige Kassen sind dieser Pflicht bisher nachgekommen.

Ich habe wegen dieser Frage mit den Kundentelefonen verschiedener Krankenkassen gesprochen, um nach meinen Möglichkeiten zu fragen, hausärztliche Versorgung angeboten zu bekommen. Die Antworten bewegten sich zwischen lächerlich und plausibel, wirkten aber wie aufeinander abgestimmt, als hätten die Kassen Sprachregelungen getroffen.

1. Der Gesetzgeber habe ja nicht ins Gesetz hineingeschrieben, bis wann die Krankenkassen die Pflicht erfüllen müssten, ihren Versicherten Hausarztmodelle anzubieten. Dem soll jetzt ein Riegel vorgeschoben und ein verbindliches Datum entgegengesetzt werden: 30.06.2009.

2. Es gäbe keinerlei Belege, dass die Versorgung sich durch Hausarztmodelle verbessern würde. Vielmehr wäre diese Angebote mit höheren Kosten für die Kassen verbunden. Diesem Argument habe ich mich schon hier gewidmet. Wer die Hausarztmodell nicht will, führt sie mit großem Widerstand ein, ändert nichts an den Rahmenbedingungen der Versorgung, vergütet die zusätzlichen Leistungen der Hausärzte kaum und redet sie öffentlich so schlecht wie DAK-Chef Rebscher.

Auch fragwürdige Vertragsgestaltung wie bei der Barmer Ersatzkasse, deren Hausarztmodell vom Bundessozialgericht ausgebremst wurde, trägt dazu bei, den Ruf der hausärztlichen Versorgung in der Öffentlichkeit zu beschädigen. Deswegen laufen die Verträge nun aus.

3. Wir sind eine überregional tätige Kasse. Wir bieten unseren Kunden hausärztliche Versorgung an, leider nur nicht in ihrer Region. Nun ja…

Rühmliche, mutige Ausnahme in dieser Misere ist gegenwärtig ein Verbund aus AOK-Baden-Württemberg, dem Ärzteverband Medi und dem Hausärzteverband Ba-Wü. Deren Hausarztmodell startete am 01.07.08 mit der Einschreibung von Patienten. Hier werden neue Wege in Vergütung und Angebot an die Patienten beschritten.

Barmer Hausarztmodell endet

Die Barmer Ersatzkasse (BEK) lässt das vor Gericht gescheiterte Vertragsmodell zur hausarztzentrierten Versorgung zum Ende des Jahres 2008 auslaufen. Der Deutsche Hausärzteverband informierte seine Mitglieder per Rundschreiben über die bevorstehenden Veränderungen.

Die BEK beschloss auch, dass die eingeschriebenen Patienten ab dem 3. Quartal (01.07.08) die Praxisgebühr nicht mehr erlassen bekommen. Wie die Ärztezeitung berichtet, plant die Barmer allerdings eine Neuausschreibung dieser Art der Versorgung nach dem dafür vorgesehenen Paragrafen (§73b) im Sozialgesetzbuch V (SGB V).

Das Bundessozialgericht verwarf im Februar die Vertragskonstruktion der BEK, der hausärztlichen Vertragsgemeinschaft und des Apothekerverbandes. Sie erfüllte nicht die Kriterien, um die Leistungen der Hausärzte nach §140d SGB V Anschub zu finanzieren.

So scheitert ein Versuch der Beteiligten, die Gesetzeslage im SGB V kreativ zum eigenen Vorteil zu nutzen – und nährt den sowieso schlechten Ruf von Hausarztmodellen. Ob die Barmer und der Hausärzteverband mit einem neuen Versuch verloren gegangenes Vertrauen, insbesondere bei den Patienten, zurück gewinnen kann, bleibt dahingestellt.

Hausarztmodelle teuer und ohne Nutzen?

Im Augenblick ist die Stimmung für Hausarztmodelle bzw. hausarztzentrierte Versorgung in Deutschland nicht sonderlich gut: Anfang des Jahres stellte die Bertelsmann-Stiftung die Wirkung solcher Versorgungskonzepte in Frage. Dieser Tage verweisen die großen Kassentanker DAK und TK auf die zusätzlichen Kosten, die keineswegs verbesserte Versorgungsqualität und damit den fehlenden Nutzen für die Patienten.

Auch das (hausarztnahe) AQUA-Institut hat Hausarztmodelle untersucht. Einige Ersatzkassen (bspw. TK, DAK, KKH, HMK) stellten Routinedaten aus den Jahren 2005 und 2006 zur Verfügung. AQUA teilt die allgemeine Miesepetrigkeit nicht (nützt nix, teuer, Versorgung nicht verbessert) und findet einige Hinweise, die für Hausarztmodelle sprechen: Die Ausgaben für stationäre Versorgung, Heil- und Arzneimittel waren bei Versicherten im Hausarztmodell geringer als in der Vergleichsgruppe ohne Hausarztmodell. Dem stehen allerdings die ärztlichen Betreuungspauschalen gegenüber.

Eine wirklich fundierte Entscheidung, ob Hausarztmodelle sinnvoll und nützlich sind, lässt sich aus mehreren Gründen heute noch gar nicht treffen:

Bisher werden die Modelle von den Krankenkassen so umgesetzt, das am Ende nur Mehrkosten entstehen können und nur wenig Gutes zu berichten bleibt. An der Versorgung selbst verändert sich ja nichts. Die Hausärzte bekommen nicht mehr (vergütete) Zeit, sich um die Belange der Patienten zu kümmern. Die Betreuungspauschalen sind lachhaft. Eine echte Begleitung und Führung durch das System ist auf diese Weise nicht zu bewerkstelligen.

Deswegen sind die Patienten auch nicht zufriedener. Ja, so lässt sich auch der Bertelsmann-Befund erklären, dass Patienten im Programm weniger zufrieden sind als diejenigen außerhalb des Programms: Diese Patienten haben höhere Erwartungen an die Versorgung. Da sich aber nichts ändert, sind sie unzufriedener. Hoffnung macht der innovative Vertrag zwischen der AOK-Baden-Württemberg und dem dortigen Hausärzteverband. Neue Vergütungsideen, verbesserte Versorgungsangebote, eine echte Lotsenfunktion der Ärzte.

Ich warte gespannt auf den Start am 01.07.08 und den weiteren Verlauf.

Patientenautonomie und Wahlfreiheit

Schon lange vertrete ich die Auffassung, die freie Arztwahl von gesetzlich Versicherten solle eingeschränkt werden. Einen solchen empfindlichen Eingriff in Autonomie und Selbstbestimmungsrecht öffentlich zu fordern, steigert nicht gerade die eigene Beliebtheit. Gerade auch nicht in einem gesellschaftlichen Klima, das die Freiheitsrechte immer nur ausweiten und Fremdeingriffe (Staatsmedizin!) zurückdrängen möchte.

Deswegen werde ich in loser Reihenfolge ein paar Fragen beantworten, die in diesem Kontext unbedingt beantwortet werden müssen:

1. Ist die Einschränkung der Patientenautonomie und der Wahlfreiheit überhaupt zu rechtfertigen?

Zum Wohle des Patienten in einem intransparenten Gesundheitssystem durchaus! Aber warum?

Persönliche Freiheitsrechte sind nicht nur ein hohes Gut unserer Gesellschaft. Sie machen diese Gesellschaft überhaupt erst attraktiv. Dennoch sind Zweifel erlaubt, ob wir immer und zu jeder Zeit und in jedem gesellschaftlichen Subsystem in der Lage sind, unsere Freiheitsrechte auszuüben. An die Ausübung der Freiheitsrechte ist nämlich unbedingt gebunden, dass sich das System, in dem sie angewendet werden, offen und durchschaubar verfasst ist. Das System muss die Rahmenbedingungen liefern, um eine selbstbestimmte Entscheidung überhaupt treffen zu können. Und das ist beim Gesundheitssystem – zum Teil gewollt, zum Teil ungewollt – nicht der Fall.

Freiheitsrechte wie die freie Arztwahl führen in einem intransparenten System dazu, dass Patienten alleine gelassen werden, einsame, falsche und deswegen krankeitsverlängernde Entscheidungen treffen. Ich habe das hinsichtlich funktioneller Beschwerden bereits ausführlich belegt.

Ein viel gewichtigerer Aspekt ist jedoch die Ausgangslage eines Patienten: Die Not, der Schmerz, die Beschwerden, die dazu führen, einen Arzt in Anspruch zu nehmen. Das Gesundheitssystem ist für den Patienten in weiten Teilen intransparent und alles andere als ein Markt. Weder verfügt ein Nachfrager von Gesundheitsleistungen (Patient) über alle Informationen, noch sind die Anbieter (Ärzte) dem freien Spiel der Kräfte unterworfen (Stichworte: Sicherstellung der Versorgung, Behandlungspflicht). Darüber hinaus ist es für den Arzt aus behandlungsstrategischen Gründen (Placebo, finanzielles Eigeninteresse) häufig gar nicht wünschenswert, dem Patienten sämtliche Informationen zur Verfügung zu stellen.

Zudem handelt es sich bei der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) um ein System, das auf solidarischem Ausgleich basiert: Leute, die wenig in Anspruch nehmen, finanzieren jene, die mehr Leistung bekommen. Auch deswegen ist es sinnvoll und zwingend, den Zugang zu kontrollieren. Wer die GKV als solidarisches System will und sie auch in Zukunft will, darf Wahlfreiheit einschränken. Die Patientenautonomie wird am Ende gestärkt, denn eine intelligente, transparente Begleitung durch das System führt auch zu besser fundierten Entscheidungen.

PS.: Wer unbedingt seinen Kardiologen zu seinem Hausarzt machen möchte, der sei in dieser Wahl zukünftig nicht mehr eingeschränkt. Egal wer, einer im System sollte der erste Ansprechpartner sein.

Kassenärztechef empfiehlt, die freie Arztwahl abzuschaffen

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung nimmt endlich eine alte Forderung von mir auf die politische Tagesordnung: Begleitung und Überweisung des Patienten zu Spezialisten ausschließlich durch den Hausarzt, damit Abschaffung der freien Arztwahl.

Ich bin entzückt, dass der Chef-Vertreter der ambulanten Ärzteschaft eine solche Debatte eröffnet. Sie ist notwendig, weil alle andere Steuerungsbemühungen innerhalb des Gesundheitssystems bisher fehlgeschlagen sind (Zuzahlungen, Praxisgebühr). So sehr dieser “Zwang”, zuerst einen Hausarzt zu sehen, ein Kulturschock für viele Patienten wäre, 75% aller Patienten gehen sowieso immer zuerst zum Allgemeinmediziner.

Warum also nicht die hausarztzentrierte Versorgung zur Pflicht für alle gesetzlich versicherten Patienten machen? Warum am ideologisch aufgeblasenen, alten Zopf “freie Arztwahl” festhalten?

Ich werde das Thema in den kommenden Tagen vertiefen, mit diesen Fragen:

1. Ist die Einschränkung der Patientenautonomie und der Wahlfreiheit zu rechtfertigen?
2. Welchen Nutzen haben Hausarztmodelle?
3. Gefährden Hausarztmodelle den Wettbewerb in der ambulanten Versorgung?
4. Gibt es Alternativen?

Bayerns Hausärzte bleiben im KV-System

Laut Meldung im Deutschen Ärzteblatt werden die bayerischen Hausärzte in absehbarer Zeit doch nicht kollektiv aus dem System der vertragsärztlichen Versorgung, organisiert durch die Kassenärztliche Vereinigung (KV), aussteigen.

Als Tiger gesprungen, als Bettvorleger gelandet. Vor allem der Hausarztverbandschef Hoppenthaller, der sein persönliches Schicksal an den Ausstieg aus dem System gekoppelt hat, steht nun blamiert da: Die Hausärzte wollten die Macht der anderen Facharztgruppen brechen, sie wollten den Honorarverteilungsschlüssel zu ihren Gunsten ändern, sie wollten an der KV vorbei die Versorgung der Patienten sicherstellen – nichts davon wird nun eintreten. Stattdessen stehen Bayerns Hausärzte schwächer da als je zuvor.

Womöglich ist der Abbruch der “Aktion Systemausstieg” am Ende doch keine Niederlage, sondern ein Sieg der Vernunft: Die Aussicht, auf diese Weise die eigenen Ziele durchzusetzen, hat wohl nie bestanden. Zu viele bayerische Hausärzte haben am Erfolg der Aktion gezweifelt und waren nicht bereit, die eigene Existenz auf diese Weise aufs Spiel zu setzen. Zu deutlich waren die Signale aus dem Sozialministerium, beim Ruin des KV-Systems eventuell die Krankenkassen mit der ambulanten Versorgung zu beauftragen.

Wie die Geschichte des Systemausstiegs ihren Lauf nahm, ist hier nachzulesen:

Fristverlängerung für GKV-Ausstieg der Hausärzte (07.03.08)
Hausarzt-Harakiri? (31.01.08)
Hausarztversammlung empfiehlt Systemausstieg (12.01.08)
Hausärzte raus aus der GKV?

Hausärztliche Versorgung reloaded

In Baden-Württemberg haben die AOK, der Ärzteverbund Medi und der regionale Hausärzteverband einen Vertrag zur ambulanten Versorgung von AOK-Patienten nach § 73 b SGB V geschlossen.

Das geht an die Struktur des uns bekannten Versorgungssystems: Der bisherige Quasi-Monopolist für die ambulante Versorgung, die kassenärztliche Vereinigung (KV), ist nämlich von diesem Vertragswerk ausgeschlossen. Der Rest der Republik, alle Spieler im System werden genau beobachten, wie Patienten und Ärzte den Vertrag annehmen und mit Leben füllen. Gespannt sein dürfen wir vor allem, ob bei der AOK am Ende die Kasse stimmt.

Die Vergütungsangelegenheiten sind klar geregelt: Pro Jahr und eingeschriebenem Versicherten 65 Euro, unabhängig davon, ob der Versicherte den Arzt in Anspruch nimmt. Geht der Versicherte zum Arzt erhält der für das entsprechende Quartal weitere 40 Euro (allerdings für maximal 3 Quartale im Jahr). Der Krankheitsstatus wird gesondert abgegolten: Chronisch kranke Patienten werden mit zusätzlichen 25 Euro im Quartal vergütet, diesmal aber für alle vier Quartale.

Auch das ist umstürzlerisch – und die Beteiligten nehmen auch gleich die Bierdeckelmetapher für sich in Anspruch: Ein Vergütungssystem, das auf einen Bierdeckel passt. Die AOK hofft, die Mehrausgaben durch effizientere Versorgung auszugleichen: Weniger Doppeluntersuchungen, mehr preiswerte Medikamente, eine echte Lotsenfunktion der Hausärzte. Den Patienten wird eine Abendsprechstunde angeboten und eine Behandlungsgarantie bis zum Ende des Quartals gegeben. Die bei bisherigen Hausarztverträgen übliche Rückerstattung der Praxisgebühr ist nicht vorgesehen.

Die AOK erwartet etwa 5000 teilnehmende Hausärzte und rund eine Million Versicherte, die sich einschreiben.

Das Projekt startet am 01. Juli 2008.

Funktionelle Beschwerden – Beschwerden mit Funktion

Obwohl die körpermedizinischen Spezialisten funktionelle Beschwerden diagnostizieren, verlangt es sie also nur in Ausnahmefällen danach, mehr über die Funktion der Beschwerden zu erfahren. Der gegenwärtige Abrechnungsmodus unterstützt zudem die Vernachlässigung des Gesprächs zwischen Arzt und Patient. Damit sind gute Voraussetzungen geschaffen, die Beschwerden möglichst lange und in wechselnder Symptomatik aufrecht zu erhalten.

Allerdings gehören auch zur Arzt-Patient-Beziehung zwei Seiten, die bestimmen, was geschieht. Als Patienten fordern wir nämlich das ärztliche Gespräch weit weniger offensiv ein als eine weitere organmedizinische Abklärung. Wir erwarten Hilfe, wünschen uns das Gespräch, sorgen aber nicht dafür, dass es dazu kommt. Vielmehr arrangieren wir uns mit den Ärzten und bohren das gemeinsame Brett an der dünnsten Stelle an.

Anstatt über die Funktion der Beschwerden nachzudenken, hängen wir der Hoffnung an, der nächste Fachmediziner möge doch nun bitte einen organischen Befund vorlegen. Offenkundig ist es uns zu anstrengender, über die psychosozialen Aspekte der Beschwerden zu reden. Wir vermeiden, wie die Ärzte, Antworten bspw. auf die Frage nach dem (psychosozialen) Sinn der Beschwerden – und verlängern auf diese Weise nicht selten unser Leiden. „Dies läßt sich als Ausdruck eines „Kampfes um Legitimität“ der Beschwerden verstehen, insbesondere bei Patienten mit „neuen“ funktionellen Syndromen wie Multiple Chemische Sensitivität oder Chronisches Erschöpfungssyndrom“, sagt Peter Henningsen, Chef der Psychosomatik an der TU München. „Ebenso typisch ist das für Fibromyalgie-Patienten. Das hat nicht nur mit dem Widerstand gegen die Stigmatisierung als psychische Krankheit zu tun, sondern auch mit der moralisch schwierigen Situation im Graubereich zwischen „Nicht-Können“ und „Nicht-Wollen“.

Körperliche Beschwerden, egal ob organisch erklärt oder nicht, beeinträchtigen die Lebensqualität und das psychische Befinden. Umgekehrt produzieren Antriebsarmut, emotionale Leere, Gesundheitsängste und andauernde Herabgestimmheit eine Vielzahl körperlicher Symptome. Was Ei ist und was Henne, läßt sich unter den gegebenen Umständen kaum entscheiden. Für den Umgang mit den Symptomen scheint es sowieso eher nebensächlich, denn die Besserung einer Seite, bessert immer auch das Befinden der anderen. Wenn die Körperbeschwerden nachlassen, steigt auch die Lebensfreude wieder. Wächst die Lebensfreude, richten wir weniger Aufmerksamkeit auf Körpersignale, die sich zu Beschwerden verstärken lassen.

Im Lichte dieser engen Vernetzung des leib-seelischen Wohl- bzw. Missbefindens nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren empfiehlt es sich, das eine nicht künstlich vom anderen zu trennen. Vielmehr gilt es, die Verflechtung zu nutzen und die Funktion der Beschwerden für das eigene Leben zu entdecken, ihnen einen Sinn zu geben, so unsinnig der auf den ersten Blick sein mag. Zudem gilt es, das Vertrauen ins medizinische System zurück zu gewinnen und die Selbst-Verunsicherung zu verringern. Dazu ist es laut Norbert Hartkamp notwendig, der ideologischen Überhöhung von Eigenverantwortung und Selbstkontrollvermögen zu widerstehen: „Wir bekommen eingeflüstert: Erkennen Sie die Krankheit, bevor sie eine Krankheit ist.“ Die neue

Exemplarisch dafür scheint die Diskussion, ob es gut sei, dass sich die gesamte erwachsene Bevölkerung den Darm spiegeln lassen sollte. Dadurch verstehen noch mehr ausgebildete Kranke ihren Körper als Maschine statt als eine systemische Größe des leib-seelischen Erlebens, deren Wohlbefinden nicht ausschliesslich von Blut-, Urin- oder Leberwerten, Hormonspiegeln und Cholesterinpegeln abhängt.