Hamburg-Billstedt: Erster Gesundheitskiosk in Deutschland eröffnet

Heute ist in Hamburg-Billstedt der erste Gesundheitskiosk eröffnet worden. Nach finnischem Vorbild (Terveyskioski) und mit Mitteln des Innovationsfonds hat der Kiosk die Aufgabe, durch niedrigschwellige, zielgruppenspezifische Beratungsangebote, die gesundheitliche Situation der Billstedt-Horn-Mümmelmannsberger Bevölkerung zu verbessern.

Während es in der Großstadt Regionen gibt, in denen Wohlstand, eine hohe Lebensqualität und eine hohe Lebenserwartung zu finden sind, gibt es in derselben Stadt Regionen, in denen die Krankheitslast höher, die Gesundheitskompetenz und auch die Lebenserwartung niedriger sind – und die Arbeitslast sowohl der Hausärzt*innen als auch der Spezialist*innen besonders hoch ist, weil die Arztdichte geringer ist als in anderen Stadtteilen.

Die Allgemeinmedizin-Abteilung des UKE (mein Arbeitgeber) hat in der Vorbereitung dabei geholfen, die Mitarbeiter*innen des Kiosks darauf vorzubereiten, die Patient*innen zu beraten, deren Sorgen und Nöte zu verstehen, Gesundheitsziele zu vereinbaren und ihnen bei deren Umsetzung eine Zeitlang zur Seite zu stehen. Kurz gesagt: Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, das Selbstmanagement zu fördern.

Der Kiosk ergänzt die medizinische Behandlung durch kooperierende hausärztlich und spezialistisch tätige Ärzt*innen. Der neue Versorgungsansatz nimmt soziale Ungleichheiten und Ungleichheiten in der Versorgung in den Blick und zielt auf eine verbesserte Versorgungskoordination. Das Modell der Delegation (Überweisung durch behandelnde Ärzt*innen) soll einen Beitrag zur Entlastung der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte leisten, die Gesundheit chronisch kranker Patient*innen verbessern helfen und den Erhalt der Gesundheit durch präventive Angebote fördern.

Weitere Informationen:
Eröffnung des Gesundheitskiosks (Pressemappe)
Entwicklungs- und Handlungskonzept für die Hamburger Stadtteile Billstedt und Horn (Optimedis AG, 2015), gefördert durch die Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz

Ein paar Schnappschüsse von der Eröffnung, u.a. mit der Hamburger Gesundheitssenatorin Prüfer-Storcks, die ein Puzzle-Teil in das Logo des Kiosks einsetzt – um zu symbolisieren, wie der Kiosk eine (Versorgungs)-Lücke schließt.

Die KBV, die Selbstverwaltung und ihre Selbstzerstörung

Die Honorarverhandlungen der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sind mit einer Erhöhung der Gesamtvergütung um 270 Millionen Euro, also mit rund 0,9% Honorarsteigerung für alle ärztlichen Disziplinen von der Allgemeinmedizin bis zur Radiologie, zu Ende gegangen.

Da eine Forderung von 3500 Millionen im Raum stand, ist die oberste Vertreterin der Niedergelassenen, die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), extrem unzufrieden – und winselt ob des angeblich so ungerechten Verhandlungsergebnisses, schreit Zeter und Mordio. Die KBV ist sich sogar nicht zu blöd, die Grenzen der Selbstverwaltung zu verlassen, und den Minister Bahr aufzufordern, zu handeln, „wenn Sie ein Interesse an der ambulanten Versorgung haben.“

Durch den Ruf nach der Politik zerstört die KBV die eigenen Grundlagen, das, worauf sie immerzu beharrt: Die Selbstverwaltung.

Entweder es gibt Regeln für Verhandlungen zwischen den Spielern in der Selbstverwaltung (Ärzte und Ärztinnen, Krankenkassen) oder aber die Politik schlichtet und entscheidet. Die KBV spielt Selbstverwaltung nach dem Willkürmodell: Wenn es mir passt, beharre ich auf eine absolute Nicht-Einmischung der Politik. Wenn es mir nicht passt, dann schmolle ich in der Ecke und rufe den großen Gesundheitsminister an. Ein größeres Arnutszeugnis hätten sich die KBV und ihr Chef, Andreas Köhler, nicht ausstellen können.

Inzwischen hat die KBV einen Protest-Aufruf verschickt, der an Lächerlichkeit kaum zu überbieten ist. Hier machen die KBVler Protest-Vorschläge wie: Formlose Briefe an die Krankenkassen nicht zu beantworten, mit den Kassen nur vor morgens 8 und nach abends 8 zu sprechen, keine Bonushefte auszufüllen.

Mehr Schwachfug von Seiten einer überforderten KBV-Führung ist kaum denkbar – Welcher Niedergelassene kann für diese Sachen unter normalen Umständen Zeit erübrigen? Außer für das Bonusheft, für das es Extra-Vergütung gibt…

Mir hat jedenfalls bisher niemand plausibel machen können, wie sich durch ein Mehrhonorar von 3500 Millionen Euro die Qualität der ambulanten Versorgung verbessern lässt, wenn doch die Ärztinnen und Ärzte schon heute klagen, sie hätten zu wenig Zeit für ihre Patienten. Wie kann es angehen, dass mehr Geld gefordert wird, obwohl dafür nicht mehr Leistung erbracht werden kann, weil sämtliche zeitlichen Ressourcen bereits erschöpft sind.

Vertrauensvolle Kontrolle

Erschienen in der tageszeitung am 27.02.2003

Die freie Arztwahl gehört zu den Grundfesten des deutschen Gesundheitssystems. Doch die Erfahrung zeigt: Sie schadet den PatientInnen und treibt die Kosten in die Höhe

Wenn der Bauch wehtut oder der Kopf dröhnt, wenn Glieder oder Muskeln schmerzen, dann geht man zum Arzt. Die meisten PatientInnen sind in solchen Fällen fest davon überzeugt, dass mit ihrem Körper „irgendetwas nicht stimmt“. Denn in unserer Kultur ist es fast zwingend, für solche Leiden den Körper verantwortlich zu machen.

Das Problem ist nur: Bei knapp einem Drittel aller PatientInnen lassen sich keine organischen Ursachen für die Erkrankung feststellen – und das gilt selbst, wenn sich stark beeinträchtigende körperliche Symptome zeigen. In den Facharztpraxen für Kardiologie, Neurologie oder auch Orthopädie wird sogar nur die Hälfte der Symptome als organisch verursacht erklärt.

Gelingt es der Ärztin in diesen Fällen nicht, die PatientInnen von der meist fixen Idee einer körperlichen Ursache abzubringen, droht Doktor-Hopping: Auf der Suche nach einer organischen Ursache lassen sich PatientInnen mit solch einer „funktionellen Symptomatik“ häufiger untersuchen, stärker invasiv behandeln und unter größerem Kostenaufwand laboranalytisch vermessen als die durchschnittliche PatientIn einer Praxis. Im Zweifel gilt offenbar: Kommt es zu einer „Diagnose ohne Befund“, liegt die nächste Praxis nicht weit – der freien Arztwahl sei Dank.

Diese freie Arztwahl gehört zu den Grundfesten des deutschen Gesundheitssystems. Doch: Sie schadet den PatientInnen und treibt die Kosten in die Höhe. Das lässt sich vor allem an den Beschwerden vorführen, für die sich keine organischen Ursachen feststellen lassen, da sie zu den größten Kostenblöcken im Versorgungssystem gehören. Doch die daraus resultierenden Probleme des Gesundheitssystems lassen sich im Wesentlichen auf alle Krankheiten übertragen.

Problematisch am Doktor-Hopping ist, dass jede aufgesuchte Ärztin einen anderen Namen für die Beschwerden erwähnt – und zwar in Abhängigkeit vom eigenen Fachgebiet: Was für die Internistin wie ein Reizdarm aussieht, stellt sich der Rheumatologin wie ein Weichteilrheumatismus dar. Und nur in Ausnahmefällen kommt es tatsächlich irgendwann zu einem körperlichen Befund.

Die Konsequenzen einer solcherart organisierten Versorgungsstruktur sind offensichtlich: PatientInnen mit funktioneller Symptomatik sind zwar ökonomisch wertvoll, aber dennoch nicht unbedingt gern gesehen. Sie gelten oft als schwierig oder sogar querulatorisch und erweisen sich gelegentlich als absolut beratungsresistent.

Die vorsichtige Nachfrage der Ärztin, ob eventuell auch Stress oder sonstige psychosoziale Belastungen für die Symptome verantwortlich gemacht werden könnten, quittieren sie mit der Gegenfrage, ob die Medizinerin meine, sie seien verrückt – im besten Fall. Im schlechtesten Fall verlieren solche MedizinerInnen ihre Kundschaft. Die freie Arztwahl beschleunigt solche Beziehungsabbrüche, wenn sich die Medizinerin nicht den Kundenwünschen und -erwartungen gemäß verhält.

Ohne Zweifel hat sich das Verhalten der PatientInnen in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert: Sie sitzen im Schnitt häufiger in einer Arztpraxis. Sie gehen wegen leichterer Beschwerden in die Sprechstunde. Sie sind weniger bereit als frühere Generationen, ein aus dem Gleichgewicht geratenes körperliches Befinden längere Zeit zu tolerieren. Gesundheit ist in diesem Sinne zu einer Ware geworden, die sich erwerben lässt, wenn sie nach subjektivem Ermessen (scheinbar) abhanden gekommen ist.

Darüber hinaus sind Schmerz und körperliches Leiden stark soziokulturell überformt. Die jeweilige Kultur entscheidet etwa, ob der Geburtsschmerz allein der Frau, allein dem Mann oder beiden zusteht. Die Individuen der postmodernen Industriegesellschaften allerdings akzeptieren nur noch die Abwesenheit jeglicher unangenehmer Empfindungen als wünschenswerten Wohlfühlzustand. Wer unter einer Beschwerde leidet und deshalb von Krankheitsängsten geplagt wird, versucht möglichst frühzeitig durch den Besuch bei mindestens einer Expertin zu klären, was man dagegen tun könne.

Die freie Wahl einer Ärztin verstärkt diese konsumistische Haltung. Der Körper und das körperliche Erleben zerfällt in seine funktionsfähigen und nicht funktionsfähigen Einzelteile, deren Reparaturbedarf in freier Entscheidung einer entsprechenden Spezialistin überantwortet wird. Schmerzt ein Gelenk, ist entweder die Orthopädin oder die Rheumatologin zuständig, schmerzt der Kopf, wird die Neurologin tätig – oder auch die Hals-Nasen-Ohren-Ärztin.

Das wäre nicht weiter schlimm, wenn die Selbstüberweisung der PatientInnen an eine behandelnde Spezialistin mit den möglichen Ursachen einer körperlichen Funktionsstörung in Einklang stünde. Doch die Entscheidung, eine bestimmte Expertin aufzusuchen, um Beschwerden abzuklären, beruht auf ausgesprochen unzuverlässigen Vermutungen darüber, in welchem Organsystem die Ursache für die Störung zu suchen sein könnte. Die Erfahrung lehrt: Dort, wo es wehtut, liegt in den seltensten Fällen die Ursache für den Schmerz.

Allein dies reichte als Grund schon aus, der Hausärztin größeres Gewicht in der Erstversorgung der Patientin zuzugestehen. Beide könnten dann gemeinsam herausfinden, welche weitere Abklärung der Beschwerden sinnvoll und notwendig sein könnte – so wie es auch Gesundheitsministerin Ulla Schmidt fordert. Doch damit nicht genug. Das häufige Phänomen, verschiedene MedizinerInnen aufzusuchen, um mehrere „unabhängige“ Meinungen in Erfahrung zu bringen, birgt weitere Gefahren für die Gesundheit.

Zum einen wird der Glaube an eine organische Ursache verfestigt. Zum anderen wachsen Verwirrung und Verunsicherung aufseiten der PatientInnen. Jede Spezialistin kauderwelscht nämlich der Betroffenen zwischen Tür und Angel ein paar lateinische Worte ins Ohr – und empfiehlt dieses oder jenes Präparat und eine Wiedervorstellung, wenn die Beschwerden sich nicht bessern.

Gleichzeitig führen die verschiedenen Medikamente, die unabhängig verschrieben, aber nun gemeinsam eingenommen werden, zu Nebenwirkungen, die wiederum kaum kontrollierbar sind. Oft hat die Patientin dann den Eindruck, die ursprünglichen Beschwerden verschlimmern sich. Die Folge: Sie sucht eine weitere Ärztin auf. Ein Teufelskreis.

Das vielstimmige Konzert ärztlicher Meinungen und deren unabhängig voneinander verordnete Verschreibungen gefährden die Gesundheit der PatientInnen. Deswegen erwiese es sich als außerordentlich konstruktiv, das hausärztliche Lotsenmodell aus dem Hause Schmidt gegen den Widerstand der betroffenen SpezialistInnen politisch durchzusetzen. Das ideologisch überfrachtete Gut der freien Arztwahl zu opfern scheint ein kleiner Preis, verglichen mit dem Gewinn, der daraus erwüchse: besser versorgte PatientInnen.