Schauplatz Schlecker – aus der Sicht von 1994

Diesen Text habe ich im Herbst 1994 recherchiert und geschrieben. Das Stück ist im Stadtmagazin Meier in Mannheim/Heidelberg erschienen.

Schauplatz Schlecker: Das Beispiel Mannheim-Schönau

„Furcht muß den Wald hüten.“ Das ist nach den Erfahrungen von Heigold Bien, bis 1994 Betriebsleiterin der Firma Schlecker im Raum Aschaffenburg, das personalpolitische Motto des Drogeriebrachen-Primus. Furcht wird in Schleckerland erzeugt wie in anderen Einzelhandelsgeschäften auch: durch Testkunden, die die Verkäuferinnen und Kassiererinnen mit gezielten Störaktionen ins Schwitzen bringen, durch unangekündigte Kassenprüfungen, durch generelles Mißtrauen. „Haben Sie denn die Nylonstrümpfe, die sie da tragen, auch bezahlt, wo ist der Kassenbon?“ – Solche Fragen gehören zum Verkäuferinnen-Alltag.

Mut, sich solcherlei Unverschämtheiten zu verbitten, haben die Frauen gar nicht oder erst sehr spät. Klaglos spielen die meisten das bittere Spiel der Einzelhandelsketten mit. Anton Schlecker und Konsorten leben gut davon, daß ihre Angestellten für wenig Geld und wenig Lob hinter der Kasse stehen, sich möglichst nie über knoddrige Kunden beklagen und brav die Konservenbüchsen und Cremedosen, Klopapierrollen und Kindertees in den Regalen hin- und herschichten. Die Erfolgsbilanz des Familienunternehmens liest sich wie ein Märchen. Zweistellige Umsatzzuwächse werden seit Jahren mit knallharten Planvorgaben aus den Filialen herausgepreßt, der Ertrag liegt über dem Branchenschnitt, 600 Märkte wurden in Neufünfland aus dem Boden gestampft, finanziert ohne eine einzige Kreditmark der Banken.

Überdurchschnittlich viele Schlecker-Angestellte sind alleinstehende Frauen mit Kindern, die angesichts ihrer sozialen Situation wenig andere Chancen haben, nach dem Schlecker-Job wie nach einem Strohhalm greifen. Nicht umsonst tönt es hin und wieder stolz aus der Firmenzentrale in Ehingen, Schlecker schaffe seit über zehn Jahren kontinuierlich Arbeitsplätze, insbesondere im gesellschaftlich stark nachgefragten Bereich der Teilzeitarbeit für Frauen. Unerwähnt bleibt bei dieser Selbstbeweihräucherung, in welcher Unwissenheit die zukünftigen Angestellten über ihre verbrieften Rechte gehalten werden, wieviele nicht einmal das Ende der Probezeit erreichen und mit oft haarsträubenden Begründungen wieder entlassen werden.

„Ich bin noch nicht so lange hier“ – dieser Satz fällt oft in den Geschäften. Neben der Strategie, Vertrauen und Austausch zwischen den Beschäftigten zu verhindern, gehören Löhne unter Tarif und das Herausdrängen unliebsamer Mitarbeiter zu Schleckers Erfolgsrezept. Pater Otto Ignaz Schabowicz, Seelsorger bei der katholischen Arbeitnehmerbewegung in Mannheim macht seinem Ärger mit für einen Kirchenmann ungewöhnlich deutlichen Worten Luft: „Das, was wir soziale Marktwirtschaft nennen, ist in Gefahr, wenn die Humanität so schwer verletzt wird wie in diesem Fall.“

Seitdem die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) dem Dauersünder Schlecker endlich einen Betriebsrat verpassen möchte, um die schlimmsten Auswüchse unternehmerischer Willkür zu ahnden, ist Gewerkschaftsseketärin Mia Lindemann zwischen den einzelnen Filialen im Rhein-Neckar-Raum viel unterwegs. Sie klärt über Rechte und Tarifeingruppierungen auf, wirbt Mitglieder und lädt zum sonntäglichen Erfahrungsaustausch bei Kaffee und Kuchen ein. Über mangelnde Resonanz kann sie nicht klagen. „In einigen Filialen haben die Frauen Angst. Aber viele empfinden es als Befreiung, wenn sie sich mitteilen können und von anderen ähnliche Geschichten über die Verkaufsleiterin xy hören.“

Anton Kobel, Geschäftsführer der HBV Mannheim/Heidelberg meint: „Gäbe es einen Betriebsrat, könnten Personalkontrollen, wenn überhaupt, nur unter dessen Aufsicht stattfinden.“ Und genau darauf steuert die Gewerkschaft derzeit hin. Lohnnachzahlungen hat man juristisch bereits durchgesetzt, und auch der Betriebsrat wird im nächsten Frühjahr kommen, da ist sich Mia Lindemann sicher: „Auch Schlecker wird in Zukunft die Mindeststandards einhalten müssen.“
Doch nicht alle sehen die Zustände in den Drogeriefilialen so verbissen. So manche Kundin meint, die Frauen sollten froh sein, überhaupt einen Job zu haben. Eine Mannheimer Laden-Chefin stößt ins gleiche Horn und möchte die Beschäftigten nicht aus der Verantwortung entlassen, was ihre Arbeitsverträge angeht: „Wer nicht beherzt auf seinen Wert als Arbeitskraft besteht, macht sich mitschuldig.“ Eine Heidelberger Filialleiterin nimmt es mit Humor, daß sie ihr Geschäft über die Telefonzelle gegenüber abwickeln muß, weil es im Laden selbst keinen Anschluß gibt. Auf dem Postamt kauft sie eine Telefonkarte, um dann tagein, tagaus über eine vielbefahrene Hauptstraße zu sprinten und ihre Bestellungen abzuwickeln.

Daß nicht gleich ein Überfall passieren muß wie im letzten Jahr in Mannheim-Schönau, weil es weder Alarmtasten noch Telefon in den Filialen gibt, hat jetzt auch die Führungsetage kapiert und kontrolliert im gesamten Rhein-Neckar-Kreis die Telefonbuchsen auf Anschlußfähigkeit. Auf der Schönau schiebt derweil noch der Aufpasser eines privaten Wachsdienstes vor der Ladentüre seine Dienst. Pater Schabowicz bringt die Notwendigkeit nicht nur der HBV-Kampagne auf den Punkt: „Niemand kann in einem Fall wie diesem tatenlos zusehen.“ Auch die Kundinnen und Kunden nicht.