Obwohl die körpermedizinischen Spezialisten funktionelle Beschwerden diagnostizieren, verlangt es sie also nur in Ausnahmefällen danach, mehr über die Funktion der Beschwerden zu erfahren. Der gegenwärtige Abrechnungsmodus unterstützt zudem die Vernachlässigung des Gesprächs zwischen Arzt und Patient. Damit sind gute Voraussetzungen geschaffen, die Beschwerden möglichst lange und in wechselnder Symptomatik aufrecht zu erhalten.
Allerdings gehören auch zur Arzt-Patient-Beziehung zwei Seiten, die bestimmen, was geschieht. Als Patienten fordern wir nämlich das ärztliche Gespräch weit weniger offensiv ein als eine weitere organmedizinische Abklärung. Wir erwarten Hilfe, wünschen uns das Gespräch, sorgen aber nicht dafür, dass es dazu kommt. Vielmehr arrangieren wir uns mit den Ärzten und bohren das gemeinsame Brett an der dünnsten Stelle an.
Anstatt über die Funktion der Beschwerden nachzudenken, hängen wir der Hoffnung an, der nächste Fachmediziner möge doch nun bitte einen organischen Befund vorlegen. Offenkundig ist es uns zu anstrengender, über die psychosozialen Aspekte der Beschwerden zu reden. Wir vermeiden, wie die Ärzte, Antworten bspw. auf die Frage nach dem (psychosozialen) Sinn der Beschwerden – und verlängern auf diese Weise nicht selten unser Leiden. „Dies läßt sich als Ausdruck eines „Kampfes um Legitimität“ der Beschwerden verstehen, insbesondere bei Patienten mit „neuen“ funktionellen Syndromen wie Multiple Chemische Sensitivität oder Chronisches Erschöpfungssyndrom“, sagt Peter Henningsen, Chef der Psychosomatik an der TU München. „Ebenso typisch ist das für Fibromyalgie-Patienten. Das hat nicht nur mit dem Widerstand gegen die Stigmatisierung als psychische Krankheit zu tun, sondern auch mit der moralisch schwierigen Situation im Graubereich zwischen „Nicht-Können“ und „Nicht-Wollen“.
Körperliche Beschwerden, egal ob organisch erklärt oder nicht, beeinträchtigen die Lebensqualität und das psychische Befinden. Umgekehrt produzieren Antriebsarmut, emotionale Leere, Gesundheitsängste und andauernde Herabgestimmheit eine Vielzahl körperlicher Symptome. Was Ei ist und was Henne, läßt sich unter den gegebenen Umständen kaum entscheiden. Für den Umgang mit den Symptomen scheint es sowieso eher nebensächlich, denn die Besserung einer Seite, bessert immer auch das Befinden der anderen. Wenn die Körperbeschwerden nachlassen, steigt auch die Lebensfreude wieder. Wächst die Lebensfreude, richten wir weniger Aufmerksamkeit auf Körpersignale, die sich zu Beschwerden verstärken lassen.
Im Lichte dieser engen Vernetzung des leib-seelischen Wohl- bzw. Missbefindens nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren empfiehlt es sich, das eine nicht künstlich vom anderen zu trennen. Vielmehr gilt es, die Verflechtung zu nutzen und die Funktion der Beschwerden für das eigene Leben zu entdecken, ihnen einen Sinn zu geben, so unsinnig der auf den ersten Blick sein mag. Zudem gilt es, das Vertrauen ins medizinische System zurück zu gewinnen und die Selbst-Verunsicherung zu verringern. Dazu ist es laut Norbert Hartkamp notwendig, der ideologischen Überhöhung von Eigenverantwortung und Selbstkontrollvermögen zu widerstehen: „Wir bekommen eingeflüstert: Erkennen Sie die Krankheit, bevor sie eine Krankheit ist.“ Die neue
Exemplarisch dafür scheint die Diskussion, ob es gut sei, dass sich die gesamte erwachsene Bevölkerung den Darm spiegeln lassen sollte. Dadurch verstehen noch mehr ausgebildete Kranke ihren Körper als Maschine statt als eine systemische Größe des leib-seelischen Erlebens, deren Wohlbefinden nicht ausschliesslich von Blut-, Urin- oder Leberwerten, Hormonspiegeln und Cholesterinpegeln abhängt.