Nachdenken über Wissenschaft und Schavan

Wahrscheinlich ist es gerechtfertigt, ein wenig Mitgefühl mit Frau Schavan zu haben.

Damals im Jahre 1980 existierten zwar auch schon allgemeinverbindliche Grundsätze des wissenschaftlichen Zitierens – aber wer konnte damals ahnen, dass ein Verstoss dagegen 33 Jahre später die eigene Karriere ruiniert? Zumal die Gutachter damals ja nichts zu beanstanden hatten.

Das Abgrenzungsbedürfnis, dass wir Wissenschaftler nun gegen jemanden wie Frau Schavan empfinden und öffentlich zum Ausdruck bringen, ist einerseits berechtigt und notwendig, aber auch gefährlich, denn die Grenzen zwischen redlich und unredlich sind in unserem Geschäft leider fließend…

Klar, sie hat betrogen. Sie hat eine Leistung vorgetäuscht, die sie nicht erbracht hat. Alle Studierenden, die betrügen (wissentlich/vorsätzlich oder nicht), kriegen auch von mir erstmal ein „nicht bestanden“. Bei Schavan geht der Fakultätsrat so weit zu sagen, „dass die damalige Doktorandin systematisch und vorsätzlich über die gesamte Dissertation verteilt gedankliche Leistungen vorgab, die sie in Wirklichkeit nicht selbst erbracht hatte„.

Das ist nicht zu rechtfertigen, nicht mit Naivität, nicht mit Unwissenheit, nicht mit Überlastung. Immerhin muss sie damals, als eine Tastatur mit den Kombinationen strg-c und strg-v nicht zum Standard-Inventar einer Studierenden gehörten, alles sehr mühselig abgetippt haben.

Deswegen lässt mich der Gedanke nicht mehr los, bei Frau Schavan sei es durch den Akt des Abtippens zu einer Art Überidentifikation mit dem geisteswissenschaftlichen Gedankengut gekommen, gerade so, als habe die Studentin die Gedanken durch das Abtippen so sehr inkorporiert, dass sie die Texte anschließend als ihre eigenen betrachten konnte.

Klar, wenn es so gewesen wäre, hätte die Studentin S. eine massives Psycho-Problem vorzuweisen gehabt – aber wäre das so selten? Uns in etwas hineinzuträumen, was einer Wirklichkeitsprüfung nicht standhält? Wissenschaft ist ja kein einfaches Geschäft, gerade in den so genannten Geisteswissenschaften nicht. Die Grenzen zwischen einem eigenen und einem fremden Gedanken sind manchmal schwer herauszuarbeiten – und immerzu die Wissenschaft mit einem neuen, eigenen Gedanken voran zu bringen, ist sicherlich deutlich schwerer, als das Bekannte zu paraphrasieren und dann die Fußnote bzw. das Zitat zu verdaddeln.

Ich wünschte mir ein (globales) Forschungsprojekt, in welchem Ausmaß im Alltagsgeschäft (Publish or Perish!) falsch zitiert, mangelhaft zitiert oder auch nur fehlerhaft Bezug genommen wird. In biomedizinischen Aufsätzen ist es üblich, durch die Aneinanderreihung von Literaturstellen die eigene Argumentation und die Begründung für den eigenen Aufsatz zu entwickeln. Der wissenschaftliche Kodex oder auch das Selbstverständnis geht davon aus, das an den zitierten Stellen auch genau das steht, worauf die Zitierenden sich berufen. Aber hat das schonmal jemand systematisch untersucht? Wie viel stille Post ist in der Wissenschaft unterwegs? Ich erinnere nur an die Sache mit dem Spinat, dem Eisen und den Kommastellen.

Wer hat all die Aufsätze gelesen, die in den eigenen Arbeiten zitiert werden? Bei wem reicht das Lesen kaum über die Abstracts hinaus? Wer hat genügend Zeit zu lesen?

Der Fall der Wissenschaftsministerin könnte auch eine wissenschaftsinterne Debatte darüber auslösen, was redlich ist und was nicht und ab welchem Moment wir als Wissenschaftler selber im Glashaus sitzen und nicht mehr mit Steinen werfen sollten… Das Blog Retraction Watch ist eine verdienstvolle Anstrengung, den Betrug in der Wissenschaft zu erfassen, zumindest hinsichtlich von Aufsätzen, die zurückgezogen wurden.

Dass die Ministerin Schavan nun so verrückt zu sein scheint, im Amt bleiben zu wollen, schreibe ich allerdings ihrer oben schon vermuteten Psycho-Macke zu, diesmal als letzten Halt vor dem inneren Nichts, das sie sich ansonsten eingestehen müsste. Sie muss an ihre eigene Redlichkeit glauben, sonst wäre sie psychisch zerstört. Ihre ganze mühsehlige Abtipperei vor 33 Jahren wäre umsonst gewesen.

Eine bittere Bilanz.

Nochmal: Vergiss Alzheimer!

Ich habe die Rezension dieses Buches von Cornelia Stolze schon einmal angefangen, kann sie aber nun erst verbessern und vervollständigen:

Endlich ein aufklärerisches Werk zu Alzheimer, das sich wunderbar ergänzt mit meinen Erfahrungen als Untersucher im Kompetenznetz Degenerative Demenzen (KNDD). Ein Buch, wie ich es gerne selber geschrieben hätte, :-). Ich wünsche mir, es öffnet vielen Leuten die Augen, lässt Ängste kleiner werden und hilft, die Dinge des Alterns gelassener zu nehmen. Schön wäre auch, wenn dadurch die Versprechungen von Industrie, Wissenschaft und denen, die sich als Mietmäuler zur Verfügung stellen, an jenen abperlen, die insbesondere als Angehörige mit dem Phänomen der nachlassenden Gedächtnisleistung und der nachfolgend eingeschränkten Alltagskompetenz ihrer Lieben zu tun haben.

Ich habe in der AgeCoDe-Kohorte des KNDD bisher ca. 1500 Interviews zur Erkennung von Alzheimer und anderen Demenzen gemacht. Ich besuche alte Menschen (seit 2003, damals >75 Jahre alt) zu Hause, inzwischen das 6. Mal – und ich schließe, nach all den neuropsychologischen Tests, den Gesprächen und Eindrücken aus dem Umfeld der Menschen: Es kann sich bei Alzheimer kaum um eine „richtige“ Erkrankung handeln, gut abgrenzbar von anderen Zuständen bspw. Allenfalls handelt es sich um einen Komplex von Symptomen: Entweder gehören sie zum normalen (Hirn)-Alterungsprozess oder sie treten als sekundäre Phänomene auf, verursacht vielleicht durch einen oder viele kleine Schlaganfälle, eine Depression, eine Schilddrüsenunterfunktion oder durch schlichten Wassermangel, weil alten Menschen das Durstgefühl abhanden kommt. Dass die halbe Welt Angst hat vor Alzheimer, ist ein gelungener Fall von Wissenschaftsmarketing – und darüber schreibt Stolze.

Wertvoll ist dieses Buch auch deswegen, weil die Journalistin nicht davor zurückschreckt, Namen und Adressen der ins Geschäft verwickelten zu nennen. Wiltfang, Hampel, Möller, Bayreuther – einschlägig bekannte Größen der Alzheimer-Forschung in Deutschland werden zitiert und direkt befragt, und entlarven sich dabei häufig selber. So wird öffentlich (auf der Webseite des KNDD) und in anderen Patientenmitteilungen beschönigt, wie gut die Erkrankung inzwischen diagnostiziert werden kann und wie Medikamente bspw. die Heimeinweisung verzögern. Aber in den Forschungsanträgen wird immerzu geklagt, wie wenig wir doch noch über die Ursachen wissen, wie unsicher die bisherigen diagnostischen Verfahren seien, wie wenig wirksam die bisher zur Verfügung stehenden Medikamente…

Insgesamt fasst Frau Stolze das Thema Alzheimer angenehm weit, schaut sich die Sache mit den Alzheiner-Medikamenten an, analysiert die Lobbyarbeit der wissenschaftlichen Fachgesellschaften und benennt Unsauberkeiten hinsichtlich der Verwendung und Vermarktung von Blutproben, die den Patienten im Rahmen wissenschaftlicher Studien abgenommen werden. Wie gesagt: Wertvoll!

Schließlich ein paar kritische Anmerkungen: Das Buch hätte ein etwas besseres Lektorat verdient. Die Autorin wiederholt sich an manchen Stellen. Das scheint ohne Absicht zu geschehen, denn die verschiedenen Stellen sind nicht bezogen aufeinander. Schließlich hätten ein Glossar, ein Stichwort- und ein Namensregister dem Buch zu noch mehr Wert verholfen.

Insgesamt ein wichtiges Buch, denn der Bedarf, die Hintergründe in diesem Bereich etwas auszuleuchten, ist groß.

Liebe Charlotte Frank von der Süddeutschen Zeitung,

in Ihrem Leitartikel vom 02.02.2012 über Rudi Assauer und die Krankheit Alzheimer, die den 67-jährigen offenbar ereilt hat, holen Sie schäumend zum großen Rundumschlag aus: Ihre ignoranten Mitmenschen, tatenlos zuschauende Politiker und unfähige bis desinteressierte Wissenschaften – alle werden von Ihnen abgewatscht. Irgendwie schade, wie Sie Ihre Chance vertun, den wichtigsten Kommentar auf Seite 4 der SZ für ein paar kluge und besonnene Anmerkungen zu einem wichtigen gesellschaftlichen Thema wie Alzheimer zu nutzen.

Schon der Einstieg, der zu „Ausgerechnet Assauer!“ führt, zeigt auf welch schwache Argumente sich ihr Text stützt, der vielleicht aufrüttelnd gemeint war, leider aber sein Ziel krass verfehlt. „Gerade Assauer!“ hätte da stehen sollen. Gerade einer wie er vereint einige wichtige Risikofaktoren auf sich: Gesoffen, geraucht, tonnenweise Fleisch verzehrt. Auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen, ein paar Risikofaktoren für degenerative Gedächtnisentwicklungen sind der Wissenschaft durchaus bekannt.

Außerdem: Wie kommen Sie nur auf die bizarre Idee, die Deutschen würden lieber wegschauen, wenn es um diese Krankheit geht? Genau das Gegenteil ist der Fall. In den letzten zehn Jahren haben die Menschen in Deutschland angefangen, viel zu genau hinzuschauen. Oder woraus sollte sonst die Alzheimer-Angst entstehen, von der sie zurecht schreiben. Es gibt Bücher, Filme, Reportagen auf Papier, in Funk und Fernsehen – die gesamte mediale Armada ist inzwischen gegen die Krankheit und gegen deren Ignoranz in Stellung gebracht worden.

Dazu kommt die Frage, ob es sich überhaupt um eine Erkrankung handelt? Oder warum sind Sie erstaunt, dass es noch immer keine Medikamente dagegen gibt? Bzw. welches technokratisch-mechanistische Verständnis vom Leben offenbaren Sie, wenn Sie davon sprechen, es persifliere unsere Machtlosigkeit, dass es noch keine Arznei gibt. Denken Sie wirklich, wir werden es schaffen, uns alle Varianten des Lebendigen irgendwann vollständig unterzuordnen – und damit die Formel für ewige Gesundheit, das ewige Leben finden?

Wie wäre es damit, wenn wir die Ich-Fixierung etwas lockerten, nicht so selbst-zentriert und ego-lastig auf die Welt und das Leben blickten? Angst vor Alzheimer kann nur haben, wer glaubt etwas verlieren zu können. Klar, ich weiß ja, unser ganzes westliches Leben dreht sich um kaum etwas anderes, als das eigene Ich aufzupumpen – mit beruflichem Erfolg, Geld, Macht, schönen Klamotten, Fernreisen, einer Wohnumgebung, die uns angemessen ist – ingesamt einer Philosophie, die uns vorgibt, wir mögen uns bitteschön selbst verwirklichen. Haben wir uns selbst verwirklicht (Assauer!) kommt der Alzheimer – und zerstört dieses schöne, aufgepunpte Ich wieder. Welche Tragik!

Wenn das nicht ein mephistophelisches Werk ist, dem mit Faustischen Mitteln zu begegnen wäre! Vielleicht würde es jedoch genügen, den Lebensbogen sich schließen zu sehen, sich zu verabschieden in eine eigene Welt und dabei respektvoll behandelt zu werden, egal ob im Pflegeheim oder zuhause, ganz egal, wie das Ding heißt, was uns ereilt: Alzheimer, Parkinson, Depression.

Und schließlich: Zu wenig Langzeitstudien? Wovon sprechen Sie?

Es gibt inzwischen Dutzende von Langzeitstudien in vielen Ländern, unter anderem auch in Deutschland. An einer arbeite ich zufällig mit. Es gibt das Kompetenznetz Degenerative Demenzen (KNDD). Und es gibt das DZNE, das Deutsche Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen. Jährlich 60 Millionen Euro werden hier verbraten. Was wollen Sie mehr?

Ich glaube, Frau Frank, Sie sind da massiv Ihrer eigenen Angst erlegen und die Chefredaktion hat es Ihnen durchgehen lassen. Es ist völlig legitim, die kommentierenden Autorinnen und Autoren über Dinge schreiben zu lassen, mit denen sie stark identifiziert sind. Aber in der Regel gelingt es den Schreibenden, das Thema zu transzendieren und damit allgemeingültiger zu besprechen.

Das hätte ich mir bei Ihrem Beitrag auch gewünscht. – Mal abgesehen von Ihrer ansonsten wenig fundierten Argumentation.

am schreibtisch (2001)

jetzt sitz ich hier wieder
und quäle mich rum,
ich zähle die zahlen,
und denk dideldum,
was mach ich jetzt bloß
mit all diesem mist,
den zahlen, effekten,
den größen, den gruppen,
mir fällt aus den haaren,
ich sehe es, schuppen.

jetzt sitz ich hier rum,
ich quäle mich ab,
der chef weiter unten,
der hält mich auf trab.
ich lese artíkel,
ich such eine list,
zu sehen das ganze, große,
warum ich hier forsche,
zu verbessern die basis,
die leidiglich morsche.

jetzt sitz ich hier wieder
und seh mich verzagt,
mich quält dieser anspruch,
der stets an mir nagt,
ich wühl in den zahlen,
das leben ist trist,
die wissenschaft sträubt sich,
bleibt ganz ohne gnade,
das macht mir zu schaffen –
und ich find das schade.

Zentrum für Demenzforschung eröffnet

Jetzt ist es so weit. Frau Schavan hat rechtzeitig vor der Bundestagswahl eines ihrer Bilanzprunkstücke offiziell eröffnet, das Deutsche Zentrum für Neurodegenrative Erkrankungen.

Angekündigt zunächst als Nationales Demenzforschungszentrum, dann aus dem Hut gezaubert als Zentrum für alle neurodegenerativen Erkrankungen.

Ankündigung und Beschluss haben einige Fragen aufgeworfen. Mit denen habe ich mich in diesem Beitrag beschäftigt: Wenn Frau Schavan Forschungsgeld verteilt….

Lug und Trug in der Wissenschaft

Ich arbeite als Wissenschaftler vor allem mit biomedizinischen Daten. Und ich lese Aufsätze, die ihrerseits meist quantitative Daten enthalten. Zudem analysiere ich selbst Daten, die in anderen Aufsätzen stehen und fasse sie zusammen.

Eine Meta-Analyse in PLoS Online nimmt sich nun der Frage an, wie verbreitet das Fälschen, das Erfinden und Zurechtbiegen von Ergebnissen in der Wissenschaft ist. Dazu verwendet die Autorin 21 Studien mit Befragungsdaten.

Im Schnitt rund zwei Prozent der befragten Forscherinnen und Forscher räumen ein, schon einmal an der Manipulation von Daten beteiligt zu sein. Zwölf der Studien erkundigen sich danach, ob die Befragten von anderen Forschern wissen, die betrogen haben. Das wollen zwischen 5 und 33 Prozent schon einmal beobachtet haben.

Diese zweite Zahl wirkt allerdings künstlich aufgebläht und damit gewichtiger als sie eigentlich ist. Wahrscheinlich ein Phänomen abhängiger Daten: Wenn in einer Abteilung zehn Leute nach wissenschaftlichem Fehlverhalten gefragt werden, antworten drei, ja, davon wüssten sie etwas. Alle drei gehen mit ihren Angaben in die Gesamtzählung ein, meinen aber womöglich ein und dasselbe Fehlverhalten von ein und derselben Person. Ihre Angaben sind also abhängig – und blähen das Gesamtergebnis auf.

Demenz: Krankheit oder Teil des normalen Alterns?

Die Zeitschrift Neurology veröffentlichte vor ein paar Tagen eine Studie, die endlich einmal über die Häufigkeit von Demenzen in der Altersgruppe über 90 Jahre berichtet. Noch ist nämlich eher unklar, wie sich Gehirn und Gedächtnis bei den ältesten Alten tatsächlich entwickeln.

Ist das Alter weiter der größte Risikofaktor, also je älter, desto größer das Risiko eine Demenz zu entwickeln? Oder erreicht die Krankheitshäufigkeit in der Altersgruppe eine Art Plateau? Nimmt sie also nicht weiter zu, wie das für alle Altersgruppen unter 90 Jahren bestens belegt ist?

Die Gruppe der über 90-Jährigen wird in den kommenden Jahren stetig größer. Deswegen ist es nicht unwichtig zu wissen, ob der Anteil von Menschen mit Demenz gleich bleibt oder zunimmt.

Der Arbeitsgruppe der Universität von Irvine, Kalifornien, gelang es, immerhin 911 Senioren (701 Frauen und 210 Männer) über 90 Jahre für die Studie zu gewinnen und Informationen zu deren Gedächtnisstatus zu sammeln. Die Forscher haben die Teilnehmer entweder persönlich besucht, ein Telefoninterview gemacht oder einen Angehörigen interviewt.

Die wichtigsten Ergebnisse: Bei Frauen liegt der Anteil Demenzen in dieser Stichprobe bei 41,2%, bei Männern liegt er bei 27,6%. Bei Frauen variierte der Demenz-Anteil zwischen 27% bei den 90-Jährigen und 71% bei den knapp Hundertjährigen. Bei den Männern blieb der Anteil relativ konstant und variierte über diesen Altersbereich nur zwischen 21% und 33%. Während Bildung bei Frauen das Risiko einer Demenz verkleinert, spielt der Faktor bei Männern in dieser Stichprobe keine Rolle.

Die Plateau-Hypothese steht also eher auf wackeligen Füßen. Aber nur mit ihr ließe sich die Idee aufrecht erhalten, Demenz sei eine eigenständige, eingrenzbare Erkrankung. Wenn wir nämlich am Ende des Lebens alle eine Demenz bekämen, wenn wir bspw. alle 120 Jahre alt werden würden, dann wäre die Degeneration des Gehirns eben doch eine zwar unheimliche, aber dennoch “normale” Alterungserscheinung, keine Krankheit – außer wir beginnen, das Alter bzw. das Altern an sich als Krankheit zu verstehen. Allerdings kann auch diese Studie eine endgültige Antwort nicht geben, denn es handelt sich um eine Querschnittsbefragung. Außerdem ist nicht klar, wann sich die Demenz bei den Betroffenen (erstmals) gezeigt hat.

Leider fehlen belastbare Zahlen zur Neuerkrankungsrate in dieser Altersgruppe. Dazu wäre es notwendig, 90-Jährige zu befragen, deren Gedächtnis zunächst unbeeinträchtigt ist, um dann herauszufinden, wie viele von ihnen in den folgenden Jahren eine Demenz entwickeln. In der AgeCoDe-Studie (pdf), die seit 2003 in Deutschland läuft und in der ich von Beginn an Patienten befrage, haben wir vielleicht Glück und genügend Patienten, die älter werden als 90 Jahre. Im Moment sind noch etwas mehr als 2000 Patienten im Alter von 80 bis 95 dabei. In fünf Jahren wissen wir mehr!

Lebensqualität bei ALS

Im Deutschen Ärzteblatt erschien vor kurzem eine Studie zur Lebensqualität von Menschen mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS), einer degenerativen Muskelerkrankung. Im Endzustand der Erkrankung kann der menschliche Körper keinerlei Eigenbewegung mehr ausführen. Die Patienten müssen künstlich beatmet werden. Das Hirn ist vollständig eingeschlossen, locked-in.

Ich habe anlässlich des Filmstarts von “Schmetterling und Taucherglocke” Ende März eine Interviewserie mit Niels Birbaumer (Locked-In-Syndrom – das eingeschlossene Hirn) veröffentlicht, der ALS seit Jahren erforscht und auch an der aktuellen Studie beteiligt war.

Das zentrale Ergebnis: Die Lebensqualität aus der Innensicht der Betroffenen ist nicht schlechter als die anderer Menschen auch. Sie sind auch nicht depressiver.

Allerdings geben natürlich nur die Leute Auskunft, die sich bspw. durch eine Beatmungsmaschine am Leben erhalten lassen. Die anderen sind entweder bereits verstorben bzw. verweigern sich der sicherlich anstrengenden Befragung. Die Verzerrung in der Auswahl der Patienten könnte eine Ursache dafür sein, dass die Betroffenen ihre Lebensqualität und ihre Stimmung als ganz gut einschätzen.

Die Studie gebietet es dennoch, innezuhalten und sich vor vorschnellen Einschätzungen über das Befinden von Schwerstkranken zu hüten, die nicht mehr in der Lage sind, ihre Gefühle ohne weiteres mitzuteilen.

Auch Menschen mit Demenz erleben wir als kaum noch zugänglich. Auch sie sind in einem bestimmten Stadium der Krankheit nicht mehr in der Lage, Mitteilungen über ihr Innenleben zu machen. Das sollten wir Außenstehenden aber nicht dahingehend interpretieren, dass in diesem Inneren nichts mehr oder nur noch Schreckliches stattfindet bzw. diejenigen sowieso nichts mehr mitkriegen.

Respekt und Würde sind nicht teilbar!

Studien zu Alzheimer-Medikamenten und die Studien-Autoren

Ich lese gerade Aufsätze zur Akte Vioxx, veröffentlicht im Journal of the American Medical Association (JAMA). Vioxx ist jenes Rheumamittel, das die Firma Merck 2004 vom Markt nehmen musste, weil sich die Todesfälle durch Schlaganfälle und Herzinfarkte bei Vioxx-Patienten häuften. Die internen Dokumente von Merck belegen, wie die Firma systematisch Daten unterschlagen hat, auch gegenüber der Zulassungsbehörde FDA. Außerdem engagierte Merck Ghostwriter, um die Forschungsergebnisse Firmen- und PR-gerecht aufzubereiten. Anschließend bezahlte das Unternehmen willfährige Wissenschaftler, damit sie Ko-Autorschaften der Aufsätze übernahmen.

Ist Merck eine Ausnahme? Leider wohl nur hinsichtlich der Veröffentlichung interner Firmenpapiere. Schadenersatzprozesse machen es möglich.

Gestern habe ich (auf Englisch) darauf hingewiesen, dass die Beleglage für die Wirksamkeit der Alzheimer-Medikamente Aricept, Exelon und Reminyl weiterhin eher schwach ist – und dass die Industrie es bisher noch immer versäumt hat, unabhängigen Forschern ihre Daten rauszurücken, um eine Meta-Analyse mit Originaldaten zu ermöglichen. Erst dann liessen sich die Wirksamkeits-Behauptungen aus den veröffentlichten Studien tatsächlich untermauern oder eben widerlegen. Antidepressiva wurden vor kurzem auf der Basis ihrer Zulassungsdaten untersucht – mit wenig glorreichen Ergebnissen zugunsten der Medikamente.

Heute ergänze ich unsere Kritik an den veröffentlichten 22 Alzheimer-Studien um eine kleine Auszählung der Autorenschaften in den Studien:

– 18 der 22 Studien sind durch die Industrie gefördert
– Von 144 genannten Autoren (Mehrfachnennungen möglich) sind 44 Angestellte der Pharma-Firmen Novartis, Pfizer, Eisai, Shire, Janssen-Cilag.
– Mitarbeiter des Pharmaunternehmens, dessen Wirkstoff geprüft wird, sind entweder Erstautor, verantwortlich für die statistische Auswertung oder überarbeiten die Manuskripte.
– In drei weiteren Studien mit einem direkten Vergleich (head-to-head-trial) zwischen Aricept, Exelon oder Reminyl gewinnt immer das Präparat des Unternehmens, das die Studie bezahlt hat.
– In den Danksagungen verschiedener Studien erscheint PPS International Communications (Worthing, UK). Auch Oxford Clinical Communications hilft beim Schreiben.

All das kann natürlich Zufall – und auch die Autoren der Unternehmen können integre Fachleute sein. Aber ist diese Art der Forschung glaubwürdig? Zumal wenn die Gruppenunterschiede zwischen Medikament und Placebo eher klein sind und die methodische Qualität der Studienauswertung eher schlecht ist?

Alzheimer drugs – the evidence is (still) not convincing

In 2005 our research group (Institute for Primary Medical Care, Center of Psychosocial Medicine, University Medical Center Hamburg-Eppendorf, Hamburg) published a highly controversial paper in the British Medical Journal: Cholinesterase inhibitors for patients with Alzheimer’s disease: systematic review of randomised clinical trials.

We analyzed the evidence of 22 published trials on the drugs donepezil (marketed as Aricept), rivastigmine (marketed as Exelon) and galantamine (marketed as Reminyl) and concluded, „the scientific basis for recommending donepezil, rivastigmine, or galantamine as preferred treatment for patients with Alzheimer’s disease is questionable because minimal benefits were measured on rating scales and the methodological quality of the available trials was poor.“

Our review stood in strong contrast to the reviews of the Cochrane Library of Systematic Reviews. As these reviews are usually seen as the „Gold standard of reviews“, our paper drew a whole lot of attention. Hence, this spring the debate is carried forward in the journal International Psychogeriatrics.

We were invited by the editor of the journal, David Ames, to debate the issue and to reflect once again our point of view. Mr. Ames also invited Jacqueline Birks, one of principal investigators of the Cochrane reviews on donepezil and rivastigmine, to explain the readers her conclusions.

This time we summed our paper as follows:
1. We need to develop better methods of quality assessment of clinical trials.
2. Trial data from industry should be accessible for research purposes.
3. Further research directed at the recognition of high responders before initiation of therapy with cholinesterase inhibitors is needed.
4. Against the background of the disappointing results of the trials, we need clear rules concerning initiation, evaluation and termination of therapy.