Soziale Probleme in der Hausarztpraxis

Eine Arbeitsgruppe an Institut und Poliklinik für Allgemeinmedizin des UKE hat Hausärztinnen und Hausärzte in Norddeutschland zur Häufigkeit von und dem Umgang mit sozialen Problemen im Praxisalltag befragt. Arbeitslosigkeit, Wohnungs- oder Finanzprobleme kommen in der Praxis häufig vor. Die Ergebnisse sind nun in der Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen veröffentlicht worden.

Die Datei ist hier abgelegt: Zimmermann-ZEFQ-2018

Soziale Probleme in der hausärztlichen Versorgung – Häufigkeit, Reaktionen, Handlungsoptionen und erwünschter Unterstützungsbedarf aus der Sicht von Hausärztinnen und Hausärzten

Hintergrund
Patientinnen und Patienten nehmen die hausärztliche Versorgung häufig für gesundheitliche Beschwerden in Anspruch, die mit sozialen Problemen verbunden sind. Diese primär nicht-medizinischen Versorgungsthemen können den Krankheitsverlauf erheblich beeinflussen. Bisher ist wenig darüber bekannt, in welchem Ausmaß Probleme wie Arbeitslosigkeit oder Einsamkeit im hausärztlichen Setting vorkommen,wie Hausärztinnen und Hausärzte darauf reagieren und welche Unterstützung sie sich im Management dieser Probleme wünschen.

Fragestellung
Was sind die häufigsten aus hausärztlicher Sicht wahrgenommenen gesundheitsbezogenen sozialen Probleme und wie hängen sie mit Arzt- und Praxis-Merkmalen zusammen? Wie gehen niedergelassene Hausärztinnen und Hausärzte mit den von ihnen wahrgenommenen sozialen Problemen um und welche Art der Unterstützung wünschen sie sich?

Material und Methoden
Postalische Fragebogenerhebung angelehnt an „Kapitel Z Soziale Probleme“ der International Classification of Primary Care – 2nd Edition: Der Fragebogen wurde an alle Hausärztinnen und Hausärzte in den Bundesländern Hamburg (n=1593) und Schleswig-Holstein (n=1242) verschickt, deren Adresse zur Verfügung stand.

Ergebnisse
N=489 Fragebögen (17,2%) konnten ausgewertet werden. Mindestens dreimal wöchentlich sehen sich Hausärztinnen und Hausärzte mit finanziellen Problemen (53,4%), Problemen am Arbeitsplatz (43,7%), sozialer Isolation/Einsamkeit (38,7%) sowie Beziehungs- und Partnerschaftsproblemen (25,5%) konfrontiert. Eher selten wird die körperliche Misshandlung (0,8%) benannt. Aus Praxen mit einem hohen Anteil von Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund wurden deutlich erhöhte Problemhäufigkeiten berichtet.

Diskussion
Die Fragebogenerhebung unter nordwestdeutschen Hausärztinnen und Hausärzten belegt: Soziale Probleme sind ein häufiges Thema im hausärztlichen Praxisalltag. Finanzielle Probleme, Probleme mit Arbeit oder Arbeitslosigkeit sowie Probleme mit sozialer Isolation/Einsamkeit wurden am häufigsten wahrgenommen.

Schlüsselwörter
Hausärztliche Versorgung, soziale Probleme, Häufigkeit, Hausärztinnen und Hausärzte, Fragenbogenerhebung

Social problems in primary health care – prevalence, responses, course of action, and the need for support from the point of view of General Practitioners

Background
Very often patients utilize primary care services for health conditions related to social problems. These problems, not primarily of medical nature, can severely influence the course of an illness and its treatment. Little is known to what extent problems like unemployment or loneliness occur in a general practice setting.

Objectives
What are the most frequent health-related social problems perceived by the general practitioner (GP)? How are these problems associated with GP- or practice characteristics?

Materials and methods
Cross-sectional, postal questionnaire survey, questions derived from „Chapter Z social problems“ of the International Classification of Primary Care – 2nd edition. We’ve mailed questionnaire to available GP-adresses in the federal states of Hamburg (n=1593) and Schleswig-Holstein (n=1242).

Results
N=489 questionnaires (17,2%) could be analysed. At least three times a week GPs were consulted by patients with poverty/financial problems (53,4%), work/unemployment problems (43,7%), patients with loneliness (38.7%) as well as relationship problems with partner (25,5%). Rather seldom GPs reported perception of assault/harmful event problem (0,8%). Practices with high proportions of migrant patients were reported as having the most frequent problems.

Conclusions
This postal survey amongst GPs in Northwestern Germany reveals: Social problems are a highly prevalent issue in routine primary care. Financial problems, job problems as well as loneliness were most frequently perceived as social problems by GPs. GPs in excess of care for migrant patients reported more social problems.

Keywords
Primary care, social problems, prevalence, postal survey, General Practitioner

Zukunft der hausärztlichen Versorgung

In den kommenden 10 bis 15 Jahren wird ca. die Hälfte der niedergelassenen Hausärztinnen und -ärzte aus Altersgründen ihre Kassenzulassung zur Versorgung von Patienten der Gesetzlichen Krankenversicherung zurückgeben. Diese große Zahl ist durch die AbsolventInnen, die sich gegenwärtig für eine Weiterbildung im Fach Allgemeinmedizin entscheiden, nicht zu kompensieren. Gleichzeitig wächst der Behandlungsbedarf der Bevölkerung dadurch, dass es immer mehr Ältere gibt, die länger leben und oft an behandelbaren bzw. stabil zu haltenden Erkrankungen leiden.

Vor dieses Problem gestellt, sind verschiedene Organe der Selbstverwaltung (Ärztekammern, Kassenärztliche Vereinigungen, Krankenkassen) mit Maßnahmen beschäftigt, wie die hausärztliche Versorgung der Zukunft zu sichern sei. Davon wird hier zu reden sein.

Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD vom 27.11.2013 bekennt sich zur weiteren Stärkung der hausärztlichen Versorgung. Auch das Jahresgutachten 2014 des Sachverständigenrates im Gesundheitswesen enthält entsprechende Empfehlungen. Ebenso erneuert die 87. Gesundheitsministerkonferenz der Länder (GMK 2014) ihre Forderung, im Ausbildungsgang Humanmedizin die Allgemeinmedizin noch stärker als bisher einzubeziehen. Auch davon wird weiter unten die Rede sein.

Dieser Beitrag fasst zusammen, welche Maßnahmen und Strategien in den vergangenen Jahren in Deutschland aufgegriffen wurden, um dem beschriebenen Problem entgegenzuwirken. Betrachtet werden die Entwicklungen anhand ausgewählter Thesen der 81. Gesundheitsministerkonferenz (GMK 2008), die am 03.07.2008 verabschiedet wurden. Sie sind im „Konzept der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden zur Sicherstellung der hausärztlichen Versorgung in Deutschland – Die Primärversorgung in Deutschland im Jahr 2020“ nachzulesen.

Auszug aus:
Zimmermann T, Scherer M (2014). Zukunft der hausärztlichen Versorgung. In: Korczak D. (Hg.) Visionen statt Illusionen – Wie wollen wir leben? Asanger Verlag Kröning, 149-170.
Der vollständige Text ist im Sammelband „Visionen statt Illusionen“ (Asanger-Verlag) nachzulesen.

Das durchschaubare Spiel der Kassenärztlichen Bundesvereinigung

Im Koalitionsvertrag der GroKo (S. 76) steht dieser wunderbar eindeutige Satz, der den Anfang vom Ende des Systems Kassenärztlicher Vereinigungen (KV) einleiten könnte; eines Systems, das von den ambulant niedergelassenen ÄrztInnen gehassliebt wird:

Die Vertreterversammlungen von Kassenärztlicher Bundesvereinigung und Kassenärztlichen Vereinigungen werden zu gleichen Teilen aus Haus- und Fachärztinnen und -ärzten gebildet. Über rein hausärztliche Belange entscheiden die hausärztlichen Mitglieder der Vertreterversammlung, über rein fachärztliche Belange die fachärztlichen Mitglieder der Vertreterversammlung.

Wenn nicht das Ende des Systems, so würde dieser Satz, stünde er in einem Gesetz, doch einen erheblichen Einschnitt für die Machtkonstellationen der ärztlichen Selbstverwaltungsgremien bedeuten. Parität per Gesetz hieße, eine jahrzehntelange Dominanz der Gebiets- über die Hausärzte zu beenden.

Die Abwehrkämpfe der KBV-Vertreterversammlung haben auf jeden Fall begonnen. So gibt es jetzt einen neuen Aussschuss, der die Interessen von Haus- und Fachärzten ausgleichen soll – ein letzter Versuch, das Gesetz durch innere Reformen abzuwenden. Ein letzter Versuch, das eigene Versagen zu kaschieren – und das Eingeständnis, dass es offenbar vorher nicht gelungen ist, die Interessen auszugleichen.

Wenn jetzt KBV-Chef Gassen mit größtmöglicher Larmoyanz Entschiedenheit davon spricht, dass es keine „Bevorzugung eines Versorgungsbereiches“ geben dürfe, dann ist das  armselig.

Sein Laden, seine fachgebietsärztlich dominierten Selbstverwaltungsgremien tragen die Hauptschuld daran, dass die hausärztliche Versorgung sysmatisch geschwächt und der Hausarzt-Beruf immer unattraktiver für den Nachwuchs gemacht wurde. Sein KV-System hat die gegenwärtige Krise der Versorgung auf dem Land mitverschuldet.

Und nun meint Herrn Gassen, Ungleichbehandlung zwischen Fachspezialisten und Hausärzten sei abzulehnen. Jahrzehnte konnte das KV-System die fachärztliche Seite unwidersprochen bevorzugen. Das Jammern des dominierenden Versorgungsbereiches setzt genau dann ein, wenn dieser Ungleichheit nicht länger tatenlos zugesehen werden soll. – Wer sich solche ärztlichen Standesvertreter wählt, braucht sich nicht zu wundern, wenn ein genervter Politikbetrieb, die Unfähigkeit der Selbstverwaltung beklagt – und gesetzgeberische Maßnahmen verfügt, dieser Unfähigkeit zu begegnen.

Ich bin gespannt, ob der plötzliche Hang der KBV zum Interessensausgleich das Gesetz in der geplanten Form abwenden kann – oder ob sich der Hausärzteverband im Gesetzentwurf durchsetzt.

Der will die klare Trennung der Gebiete – sicher mit dem Ziel einer eigenen Hausarzt-KV.

Zu viele oder zu wenige Haus- und FachärztInnen?

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) streiten sich wieder einmal darüber, ob es zu viele oder zu wenige niedergelassene Haus- und FachärztInnen in Deutschland gibt.

Auslöser ist ein Bericht der BILD-Zeitung, der sich auf KBV-Zahlen beruft und behauptet, es seien fast 4600 Arztsitze nicht besetzt, 2600 hausärztliche und 2000 spezialistische Sitze.

Bizarr daran ist zunächst einmal, dass diese Zahlen auf der KBV-Webseite nicht zu finden sind. Statt nun die Zahlen näher zu erläutern, veröffentlicht die Presseabteilung der KBV das Statement des KBV-Vorsitzenden mit dem Zitat, das er der BILD-Zeitung autorisiert hat.

Naturgemäß hat die GKV eine andere Sicht auf die Dinge: Einfach nur mehr Ärzte löst keine Versorgungsprobleme.

Das stimmt genauso, wie es stimmt, was Herr Köhler von der KBV sagt: In den kommenden Jahren werden viele Tausend niedergelassene ÄrzteInnen ihren Kassensitz zurückgeben – und sehr viele davon werden es schwer haben, eine Nachfolgeregelung zu organisieren.

Betrachte ich beide Seiten der Versorgungs-Medaille haben beide Recht: Auf der einen Seite fehlen in vielen Orten ÄrztInnen – und das inzwischen nicht mehr nur auf dem Land, auch in Hamburg-Steilshoop, in Hamburg-Horn oder Hamburg-Fischbek-Neugraben. Auf der anderen Seite bildet das Land genügend ÄrztInnen aus. Sie sind nur nicht bereit, sich auf das Risiko der ambulanten Versorgung einzulassen. Außerdem haben heutige ÄrztInnen andere Vorstellungen vom eigenen Leben, andere Ideen zur Arbeitszeit und dazu, wie sie Familie und Beruf vereinbaren wollen. Doch statt darüber ins Gespräch zu kommen, rasselt die KBV noch weiter mit dem Säbel:

„Wenn die Krankenkassen es nicht als das wichtigste Ziel ansehen, ihren Versicherten die bestmögliche Versorgung zu bieten, dann gehören sie abgeschafft.“

Was steckt hinter einer solchen Äußerung? Will die KBV eine staatliche Kostenträgerschaft für alle? Oder will sie ein teures Privatversicherungssystem, weil hier die Honorare (noch) mehr oder weniger ungedeckelt abgerechnet werden können? Oder ist das einfach krude Lobby-Arbeit, um die Politik vor sich herzutreiben? Auf Kriegskurs mit den Versicherern zu gehen, hält auf jeden Fall die eigenen Reihen zusammen – und lenkt den Blick weg von den eigenen Versäumnissen.

Klug ist auf jeden Fall anders.

Teil 2 der Auseinandersetzung zwischen Niedergelassenen und GKV-Spitzenverband.

CDU-Spahn offensiv gegen Korruption in der ambulanten Versorgung

Manchmal sind mir selbst die Unionschrstlichen sympathisch. Im Gegensatz zu den Sozen, die schwer damit beschäftigt sind, ihren Steinbrück zu kontrollieren, steigt die CDU gleich mal mit einem deftigen wie-reize-ich-die-FDP-Thema ins Wahljahr ein: Korruption bei Vertragsärzten in der ambulanten Versorgung.

Das nenne ich mal frisch voran und mutig ausgeteilt, wenn die F.A.Z. den jungen Wilden Jens Spahn sprechen lässt: „Spahn sagte, wahrscheinlich müsste erst mal fünf bis zehn Ärzten die Berufserlaubnis entzogen werden, bis bei allen die nötige Sensibilität einkehrt.

Klar, auch die SPD hatte im Zug des Urteils durch den Bundesgerichtshof vorgeschlagen, Bestechlichkeit unter Strafe zu stellen. Der BGH hatte zugunsten eines Vertragsarztes den Beschluss einer Vorinstanz ungültig erklärt: Ein Vertragsarzt sei weder Amtsträger noch Beauftragter der Krankenkassen. Deswegen könne er auch nicht wegen „Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr“ (StGB §299) verurteilt werden.

Die SPD unterschlug allerdings, dass die Hebel für die Bestrafung von Bestechlichkeit bereits in den Händen der Selbstverwaltung und der ärztlichen Standesorganisationen liegen, Stichwort Berufsrecht.

Da bisher allerdings nix passiert ist, berufsrechtlich bzw. von Seiten der Standesorganisationen, geht nun Jens Spahn in die Offensive. Die FDP wird das sicherlich nicht freuen. Das Publikum wird gespannt verfolgen, ob die Spahn’sche Attackelust beim Thema Korruption in der ambulanten Versorgung die Bundestagswahl überdauert.

2. Tag der Allgemeinmedizin in Hamburg

Morgen, am 10. November 2012 findet in Hamburg das zweite Mal der „Tag der Allgemeinmedizin“ (TdA) statt.

Der Klick auf den Plakat-Link führt zu weiteren Informationen vom Institut für Allgemeinmedizin am UKE. Das Institut veranstaltet den TdA, der dieses Jahr auch noch in München, Jena und Göttingen stattfindet.

Der Tag der Allgemeinmedizin ist eine bundesweit etablierte Veranstaltung der „Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin“ (DEGAM) und der universitären Institute für Allgemeinmedizin. Im Kern geht es darum, niedergelassene Hausärzte und Hausärztinnen sowie deren Medizinische Fachangestellte einen Tag lang zu praxisorientierten, interaktiv ausgelegten Workshops einzuladen, sich zu vernetzen, Forschungsideen und Erfahrungen auszutauschen.

Einen guten Überblick über das Konzept gibt der Artikel (pdf) von Szecsenyi J, Wiesemann A, Stutzke O, Mahler C. „Tag der Allgemeinmedizin“ – Ein Beitrag zur Entwicklung einer gemeinsamen regionalen Plattform zwischen Hausarztpraxen und einer Universitätsabteilung. Z Allg Med 2006; 86: 449-455.

Ist die Selbstverwaltung im Gesundheitssystem am Ende?

Was ist los in der Selbstverwaltung der Gesetzlichen Krankenversicherung?

Die Kassenärztlche Bundesvereinigung (KBV) will ab heute mehr Sand ins bürokratische Getriebe streuen – ganz so, als fiele das noch sonderlich ins Gewicht, nach allem was die Krankenkassen und das KV-System selbst an Bürokratie für die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte bereit halten.

Die KBV ruft den Gesundheitsminister an, er solle eingreifen, um die Krankenkassen zu zwingen, mehr Honorar auszuschütten.

Die Gesetzlichen Krankenkassen blockieren aber nicht nur beim Honorar.

In einer Wutrede auf der Sondersitzung der KBV hat der baden-württembergische KV-Vorstandsvorsitzende Norbert Metke darauf aufmerksam gemacht, wo die Kassen in erster Linie blockieren – und was im Streit um die Kohle letztlich gut verdeckt wird: Die gesetzlich vorgesehenen Verbesserungen der Patientenversorgung bspw. zur geriatrischen Rehabilitation werden von den Kassen noch immer nicht finanziert. Ein weiteres Streitthema, die Heilmittelverordnungen für Chroniker und Schwerstkranke, sollen nicht mehr budgetär gedeckelt werden und von der Wirtschaftlichkeitsprüfung ausgenommen werden. Dazu liegen von der GKV-Seite noch keine Vorschläge vor – obwohl der Bundestag bereits vor einem Jahr darüber abgestimmt hat.

Allerdings steht im Versorgungsstrukturgesetz, auf das Metke sich bezieht auch erst der 30.09.2012 als der Termin, an dem ein Vorschlag für Praxisbesonderheiten bzgl. der Heilmittelverordnungen auf dem Tisch liegen muss.

Am Ende bitte Metke „flehentlich“ um ein Eingreifen der Politik.

Da reibe ich mir doch die Augen. Was ist da los? Sonst wird die Politik immer vor die Tür gesetzt. Jetzt wird sie eingeladen. Und warum brandmarken die KV-Fürsten die Blockaden der Kassen erst jetzt so vehement und öffentlich, nachdem sie ihre 3500 Millionen Euro-Forderung nicht erfüllt kriegen? Alles ganz merkwürdig…

Führt sich die so genannte Selbstverwaltung selbst ad absurdum? Brauchen wir doch eine stärkere staatliche Regulierung bspw. durch das Bundesversicherungsamt? Oder gleich eine Nationale Krankenversicherung für alle?

1. Tag der Allgemeinmedizin in Hamburg

Am 05. November 2011 findet in Hamburg das erste Mal der „Tag der Allgemeinmedizin“ (TdA) statt.

Der Klick auf den Plakat-Link führt zu weiteren Informationen vom Institut für Allgemeinmedizin am UKE. Das Institut (mein Arbeitgeber, deswegen bin ich so frei, hier publizistisch tätig zu werden…) veranstaltet den TdA, der dieses Jahr auch noch in Berlin, Göttingen und München stattfindet.

Der Tag der Allgemeinmedizin ist eine republikweit inzwischen gut etablierte Veranstaltung, in dessen Kern es darum geht, niedergelassene Hausärzte und Hausärztinnen sowie deren Medizinische Fachangestellte einen Tag lang zu praxisorientierten, interaktiv ausgelegten Workshops einzuladen, sich zu vernetzen, Forschungsideen und Erfahrungen auszutauschen.

Einen guten Überblick über das Konzept gibt der Artikel (pdf) von Szecsenyi J, Wiesemann A, Stutzke O, Mahler C. „Tag der Allgemeinmedizin“ – Ein Beitrag zur Entwicklung einer gemeinsamen regionalen Plattform zwischen Hausarztpraxen und einer Universitätsabteilung. Z Allg Med 2006; 86: 449-455.

Dem Tag der Allgemeinmedizin voraus geht die Antrittsvorlesung des neuen Instituts-Direktors, Prof. Martin Scherer, der im April die Nachfolge von Prof. Hendrik van den Bussche angetreten hat.

Aufstand der Hausärzte

Es steht gerade (wieder einmal) schlecht um den Ruf der Hausärzte in diesem Land: Von TAZ über FAZ bis zum unsäglichen Beitrag von Report Mainz prangern einige Journalisten sie diese Woche als unfähige, gierhalsige Abzocker an, die ihre Patienten instrumentalisieren, um die eigenen Interessen durchzusetzen.

Dabei übersehen die gesundheitspolitischen Kommentatoren, dass sie sich selber von den Lobbyisten der Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) instrumentalisieren lassen und dem PR-Gesäusel des FDP-Ministers auf den Leim gehen, wenn sie behaupten, die Hausärzte gehörten doch sowieso zu den besonders Privilegierten, denen man allenfalls die Honorarzuwächse kürzen möchte, der Zuwachs an sich aber gar nicht in Frage gestellt würde.

Wie sehr hier brutaler, gesundheitsökonomischer Verteilungskampf inszeniert wird, bei der ärztliche Standesverbände, Kassenärztlichen Vereinigungen und (vor allen anderen) die Ersatzkassen um die Marktführerin BarmerGEK und die Pleitekandidatin DAK in seltener Eintracht gesundheitspolitisch geisterfahren, um sinnvolle Reformen im System zu blockieren, entgeht den hausarztkritischen Betrachtern in der schreibenden Zunft komplett.

Mit einigem Aufwand proben die Hausärzte nun den Aufstand: Röslerol & co werden in Stellung gebracht – allein die Botschaft ist schwer zu vermitteln.

Die Feinheiten des Versorgungssystems zwischen Kollektiv- und Selektivvertrag, die Honorarkämpfe zwischen Allgemein- und Gebietsärzten, die ungleichen Machtverhältnisse in den Gremien der ärztlichen Selbstverwaltung, die Weigerung der großen Krankenkassen, Ihrer gesetzlichen Pflicht zur hausarztzentrierten Versorgung nachzukommen, der Nachwuchsmangel in der hausärztlichen Medizin, den selbst Herr Rösler einräumt – all das geht unter im Geklingel der Worte um Geld und Angst.

Die Ängste der Allgemeinärzte vor dem Existenz- und Bedeutungsverlust und die mit der jetzigen Kampagne erneuerten Ängste wegen eines möglichen Zusammenbruchs der wohnortnahen Versorgung, dem Wegbrechen der Versorgung insbesondere alter, chronischer kranker Menschen bis hin zur Warnung vor dem Verlust von Menschenleben, die der Geschäftsführer des Hausärzteverbandes, Eberhard Mehl, unter die Leute bringt.

Am Ende bleibt leider der fatale Eindruck: Nicht der Erhalt sinnvoller Reformstrukturen und ein weiterer Ausbau einer neuen Versorgungsqualität ist das Ziel der Allgemeinmediziner, sondern die bloße Besitzstandswahrung. Breite gesellschaftliche Unterstützung für ein womöglich berechtigtes Anliegen kommt auf diese Weise leider nicht zustande.

Regierung will doch bei der Hausarztversorgung nach §73b sparen

Da habe ich vor wenigen Tagen noch (naiv) angenommen, Hausarztzentrierte Versorgung nach §73b SGB 5 sei von den Sparplänen der Regierung ausgenommen, weil die CSU sich dagegen sperren würde. Jetzt kann ich hier nachlesen, die Regierung möchte diese Art der Versorgung doch am ausgestreckten Arm verhungern lassen.

Noch ist ja nichts in Paragrafen verankert und beschlossen durch das Parlament. Noch könnten die CSUler erkennen, wie sehr sie sich hier von der FDP haben über den Tisch ziehen lassen, wenn Sie an dieser Stelle sinnvolle Strukturreformen durch Austrocknen unmöglich machen.

Im Gegenzug dafür ist die Lohnnebkostensenkungspartei FDP bereit, nicht nur den Arbeitnehmer-, sondern auch den Arbeitgeberbeitrag zur Krankenversicherung zu erhöhen: Beide steigen nach den jetzt veröffentlichten Plänen demnächst um 0,3%. Erst dann wird der Arbeitgeberbetrag eingefroren. Über den Arbeitsnehmerbetrag hüllen sich die Verantwortlichen in Schweigen. Ob durch Anhebung des Arbeitnehmeranteils am allgemeinen Beitragssatz oder durch ungedeckelte Zusatzprämien in Euro und Cent: Sämtliche weiteren Ausgabensteigerungen gehen zu Lasten der Versicherten.

Wieder einmal fällt also den (Gesundheits)-Politikern in diesem Land nichts anderes ein, als die Patienten zur Kasse zu bitten. Klar, die Politstrategen sind ja nicht blöd, kurzfristig werden auch die anderen Spieler um Milliarden-Abschläge gebeten (Arzneimittelhersteller, Apotheken, Krankenhäuser, Ärzte), die mittelfristige Planung jedoch sieht ausschließlich (Zusatz)-Beiträge der Versicherten vor.

All das und der ganze andere Murks, den die Gesundheitspolitik verantwortet, spielt mir dennoch in die Hände: Je länger keinerlei strukturelle Reformen wie bspw.

  • Aufhebung der sektoralen Gliederung,
  • Bündelung der Sicherstellung ambulant und stationär in einer Hand,
  • die Beschränkung oder Abschaffung der Selbstverwaltung,
  • eine echte Hausarztversorgung (verpflichtend für alle),
  • die Erweiterung der Einnahmebasis für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) durch Einbezug von Kapital und Vermögen,
  • eine Einbindung der Privaten Krankenversicherung ins Solidarsystem,
  • ein durchforsteter Leistungskatalog in der GKV, der Nutzloses und Sinnloses nicht mehr erstattet,
  • bei Diagnostik und Medikation präklinischer Syndrome (bspw. Prä-Diabetes, Mild Cognitive Impairment),
  • die Überprüfung der Zulassungskriterien für neue Arzneimittel oder
  • eine Preisregulierung für Arzneimittel, die über das Solidarsystem finanziert werden

angeschoben werden, desto mehr Zeit bleibt, Leute zu sammeln, selber einen Vorschlag zu entwickeln, aufzuschreiben und damit eine neue soziale Bewegung zu entfachen. Vielleicht bleibt uns ja doch nichts anderes übrig, als die Dinge selber in die Hand zu nehmen, wenn die Politiker nicht in der Lage sind, sie gescheit und gerecht zu regeln.

Mal sehen, was sich machen lässt.