Armut macht krank…

Um dieser wissenschaftlichen Binsenweisheit einmal gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, veröffentlichten Anfang der Woche mehr als 230 wissenschaftliche Zeitschriften (z.B. Dt. Ärzteblatt, JAMA, The Academy of Sciences for the Developing World Newsletter) in einer „Global Theme Issue on Poverty and Human Development“ über 750 Fachaufsätze zu Armut und menschlicher Entwicklung.

Im Zentrum stehen dabei die gesundheitlichen Auswirkungen von Phänomenen wie bspw. Fehlernährung, mangelnder Hygiene oder Bildungsmangel, die eng an Armut gekoppelt sind.

Die Projektleitung hat das „Kollegium der Wissenschaftsredakteure„. Auf dessen Seiten findet sich eine Liste aller themenbezogenen Veröffentlichungen.

Mangel auf Kuba bessert die Gesundheit

Einen sehr interessanten Aufsatz zum Zusammenhang von Wirtschaftskrise und Gesundheitsstatus veröffentlichte vor kurzem das American Journal of Epidemiology: Impact of Energy Intake, Physical Activity, and Population-wide Weight Loss on Cardiovascular Disease and Diabetes Mortality in Cuba, 1980–2005.

Im Zuge der Wirtschaftskrise (1989-2000) nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion reduzierte sich die Kalorienaufnahme der kubanischen Bevölkerung. Weil das Öl knapp wurd, nahm gleichzeitig die körperliche Aktivität zu. Das führte im zweiten Teil der 1990er Jahre zu einer deutlichen Reduzierung des Körpergewichts. Die Diabetes-Sterblichkeit verringerte sich dramatisch – und auch die Sterblichkeitsziffern für Herzerkrankungen und Schlaganfall veränderten sich positiv.

Die Ergebnisse zeigen, dass eine Reduktion der Energiezufuhr gesundheitsrelevante Effekte hat. Zwar verzichteten die Kubaner nicht freiwillig auf die Kalorien, und auch die vermehrte körperliche Aktivität (Fahrrad fahren, Gehen) wurde ihnen abgenötigt. Dennoch wird dadurch sichtbar, welche langfristigen Effekte präventive Maßnahmen haben.

Niemand sollte allerdings die falschen Schlüsse ziehen und nun eine Beschränkung der verfügbaren Kalorienmengen fordern, um das Risiko für Herzerkrankungen und Diabetes positiv zu beeinflussen. Die Zwangskrise einer ganzen Volkswirtschaft führt zu einer Reduktion der Energiezufuhr in allen Bevölkerungsteilen, also auch bei jenen, die möglicherweise sowieso schon mangelernährt sind. Das Risiko für Kinder und Alte wächst, unter dem Mangel zu leiden. Die Studie weist das für die Alten nach. Deren Gesamtsterblichkeit ging im untersuchten Zeitraum leicht in die Höhe.

Gleichwohl stellt sich die Frage, wie sinnvoll bevölkerungsbezogene Präventionskampagnen unter Freiwilligkeitsbedingungen sind. Alle wissen, was Sie tun müssten, aber es gibt keine Möglichkeiten, die Verhaltensänderungen zu erzwingen. Zumal die Studie ein weiteres Ergebnis liefert: Ab dem Jahr 2000 bessert sich die kubanische Wirtschaftslage – und die Diabetes- und Herzkreislauf-Sterberaten steigen wieder.

Karl Lauterbach verhöhnt?

Nachdem der Gemeinsame Bundesausschuss vergangene Woche beschlossen hat, dass zukünftig Vorsorgeleistungen nicht verpflichtend von den Patienten in Anspruch genommen werden müssen, geht Karl Lauterbach, Gesundheitsökonom und SPD-Abgeordneter im Bundestag in die mediale Offensive. Dem Kölner Stadtanzeiger gibt er zu Protokoll: „Das ist eine Verhöhnung des Gesetzgebers.

Lauterbach hält es für eine Zumutung, dass der GBA sich über die Wünsche des Gesetzgebers hinweg setzt. Der hatte nämlich in § 62 SGB V verfügt, chronisch Kranken zukünftig nur dann die ermäßigte Zuzahlung (1% der Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt) zu gewähren, wenn diese regelmäßig Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen in Anspruch nehmen. Weil der GBA nun allenfalls eine Beratung für verpflichtend erklärt, kippt das Gremium sehr zu meinem Vergnügen die beabsichtigte Bestrafung (2% Zuzahlung für chronisch Kranke statt 1%).

Beim Zahnersatz gilt diese (Vorsorge)-Regelung ja schon lange. So argumentieren auch Lauterbach & Co.: Regelmäßige Kontrollen dokumentieren den Zahnstatus und führen zu rechtzeitiger Behandlung. Im körpermedizinischen Bereich stellt sich das allerdings schnell als unangemessener staatlicher Körperkontrollzwang heraus. Zum einen sind die Tests wenig aussagekräftig und wenig verlässlich. Zum anderen sind viele Grenzwerte äußerst umstritten wie erst die jüngste Debatte um den Body-Mass-Index und die fetten Deutschen zeigt.

Fazit: Herr Lauterbach mag sich verhöhnt fühlen. Doch dem exzessiven Körperkontrollbegehren des Gesetzgebers einen Riegel vorzuschieben, ist nur zu begrüßen. So wie ich nämlich keinen Präventionsstaat im Bereich der Sicherheitspolitik möchte, kann ich auch in der Gesundheitspolitik gern auf diese Art staatlicher Organisation verzichten. Und warte nun gespannt darauf, ob Ulla Schmidt der GBA-Richtlinie zustimmen wird.

Regierung gegen Fett & Co.

Frau Schmidt und Herr Seehofer beglücken uns diese Woche mit einem Eckpunktepapier, dessen Ziel die Prävention von Fehlernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht und den damit verbundenen Krankheiten ist. Ein nationaler Aktionsplan setzt sich zum Ziel, „bis 2020 das Ernährungs- und Bewegungsverhalten nachhaltig zu verbessern, die Zunahme von Übergewicht bei Kindern zu stoppen und die Verbreitung von Übergewicht zu verringern.“

Dafür legen Aktionsplaner fünf Handlungsfelder fest:

1. Vorbildfunktion der öffentlichen Hand
2. Bildung und Information über Ernährung, Bewegung und Gesundheit
3. Bewegung im Alltag
4. Qualitätsverbesserung bei der Verpflegung außer Haus
5. Impulse für die Forschung

Wir werden also einen Propagandafeldzug für gesundes Essen und Bewegung erleben, wie ihn das Land bisher noch nicht kannte. Wohlfeile Aufklärung eben und ein bisschen Aktionismus… Strukturelle Risiken jedoch (Armut, Bildungsferne) werden zwar im Eckpunktepapier erwähnt, ein nationaler Handlungsplan dagegen ist nicht in Sicht. Die PISA-Daten haben nichts bewirkt, außer ein paar Luftblasen, und so wird es auch mit den Daten zum Gesundheitszustand der Bevölkerung sein. Mit einem Unterschied: Jeder Einzelne könnte irgendwann für sein Körpergewicht zur Kasse gebeten werden…

Gesund – und doch zum Arzt?

Wie bereits im Zuge der Deutschland-ist-zu-fett-Diskussion vermutet, profiliert sich nun ein Minister als Präventionsstratege: Laut Süddeutscher Zeitung vom Wochenende empfiehlt der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Horst Seehofer allen Ernstes, Menschen „über 45 Jahren den Gesundheits-Check, auch wenn auf den ersten Blick kein akuter Anlass dafür bestehe“.

So weit ist es also schon gekommen: Wir sollen ohne Anlass einen Arzt aufsuchen, nur weil wir ein bestimmtes Lebensalter erreicht haben. Damit redet der Minister all jenen das Wort, die schon lange das ärztliche Bonmot beherzigen: Ein gesunder Mensch ist ein Mensch, der nur noch nicht hinreichend untersucht wurde.

Seehofer will zwar keine Bevormundung, was die Wahl der Nahrungsmittel anbelangt, aber er will uns mit einer nebulösen Präventionsideologie beglücken, für deren Sinnhaftigkeit er keinerlei Belege anführt. Anstatt Ross und Reiter und damit Verantwortliche für das teils grottige Ernährungsverhalten der Bevölkerung zu nennen, fordert der Minister zumindest die Älteren unter uns auf, einfach häufiger zum Arzt zu gehen. Hirnloser lässt sich Politik kaum vorstellen. Da wird mir ja sogar Stasi-2.0-Schäuble sympathisch.

Deutschland, fett an der Spitze

In den letzten Tagen bekamen wir Deutschen wieder mal unser Fett ab bzw. unser Fett wurde uns vorgehalten: Die Deutschen sind laut einer neuen Auflistung der IASO (International Association for the Study of Obesity) die am stärksten Beleibten in den 25 EU-Nationen. 3 von 4 deutschen Männern und 3 von 5 Frauen seien entweder übergewichtig oder gar fettleibig. Der Sturm im Blätterwald nahm zwischenzeitlich Orkanstärke an, erst die Berliner Zeitung erlaubte sich gestern einen etwas differenzierteren Blick: Wie die Kilos in die Statistik kommen. Und klar: Bei so einem Thema fährt auch der Minister Seehofer Trittbrett.

Der IASO-Tabelle liegen die Kriterien der WHO zugrunde, nach denen ein jeder übergewichtig ist, der im Verhältnis seines Körpergewichts zum Quadrat seiner Größe in Metern, dem so genannten Body-Mass-Index (BMI), einen Wert von 25 oder höher erreicht. Als fettleibig gelten jene mit einen BMI von 30 und mehr. Je höher der BMI, so die Lehrmeinung, desto höher das Risiko zuckerkrank zu werden, das Herz-Kreislauf-System zu schädigen oder insgesamt früher zu sterben.

In der aufgeregten Debatte wird geflissentlich übersehen oder unterschlagen, dass die WHO-Schwellenwerte viel zu weit gefasst sind: Eine Übersichtsarbeit aus dem Jahre 2001 kommt zu dem Schluss: Im Bereich BMI 25 – 27 gibt es kein erhöhtes Risiko für die oben genannten Erkrankungen. Eine Bevölkerungsstudie in den USA entdeckte eine höhere Sterblichkeit unter den Normalgewichtigen (BMI 18,5 – 24,9) verglichen mit den Übergewichtigen (BMI 25 – 29,9). Eine Arbeit im Journal of Epidemiology („The epidemiology of overweight and obesity: public health crisis or moral panic?“) hält den linearen Zusammenhang von BMI und Gesundheit für nicht belegt und Interessen geleitet.

Zweifellos sind Fehlernährung, Bewegungsmangel und ein ansonsten ruinöser Umgang mit dem eigenen Körper mächtige Probleme, die selbstverständlich auch zu einem früheren Tod führen können. Doch welchen Interessen dient es, ohne Not weite Teile der Bevölkerung krank zu reden und zu stigmatisieren? Vielleicht kommt der nächste Präventionsminister auf die Idee, den Krankenversicherungsbeitrag über den BMI zu berechnen – und verkauft uns das auch noch als Gesundheitsvorsorge…

PS.: Selbstverständlich gehöre ich auch zu den Übergewichtigen in diesem Land. Mein BMI pendelt zwischen 24,9 und 26,6, aktuell 26,3.

Wenn das Kind häufig erkältet ist…

… taucht bei uns Eltern früher oder später die Frage auf, ob wir dem Vorschub leisten: unangemessene Kleidung, Zugluft, Ernährungseinfalt, zu vielen Infekten anderer Kinder ausgesetzt (Ein fremdbetreutes Kind! Kein Wunder!) – Sind wir also verantwortlich? Ja, für den Umgang mit Kind und Krankheit. Als Verursacher scheiden Eltern aber meistens aus. Ich habe vier entlastende Argumente zusammen getragen:

1. Eine Allgemeinärztin erzählte mir, während des Medizin-Studiums habe ein Kinderheilkunde-Prof zu ihr gesagt: Wenn das Kind nur in 40 von 52 Wochen des Jahres erkältet ist, ist alles ok…

2. Die Kinderärztin derselben Kollegin ließ sich zu der Aussage hinreißen (sinngemäß): Sie machen sich Sorgen, dass ihre Tochter seit vier Wochen hustet? Meine Tochter hustetete vier Monate lang! Dann war sie drei Tage beschwerdefrei und alles ging von vorne los.

3. Die kindliche Anatomie im Kopfbereich lädt Viren und Bakterien geradezu, sich dort dauerhaft anzusiedeln: Kurze Wege zwischen Tränenkanal, eustachischer Röhre und Trommelfell sowie der Nase und den Nebenhöhlen. Ist ein Weg bereits zugeschwollen und voller Eiterpropfen, dauert es nicht lange und das Zeug breitet sich in einer anderen Gegend aus.

4. Manche Kinder kriegen’s oft, manche kriegen’s weniger oft. Meist ist es den Kindern nicht anzusehen, welches zu welcher Gruppe zählt.

Soll heißen: Eltern können auch alles richtig machen – und dennoch ist das Kind erkältet.

Aktive und passive Sterbehilfe

Vor wenigen Tagen besprach ich im Unterricht mit Medizinstudierenden im ersten Semester dieses Thema. Was es heißt, lebensverlängernde Maßnahmen zu unterbinden und damit passiv Sterbehilfe zu leisten. Was es bedeutet, jemanden aktiv vom Leben in den Tod zu befördern. Welche Verantwortung ein einzelner Mensch dabei übernimmt. Und in welches Dilemma gerade sie als Ärzte und Ärztinnen irgenwann geraten werden.

In der Diskussion mit den Studis machte mich der Bericht einer Studentin besonders nachdenklich: Ihr Großvater (90) war im letzten Jahr sehr lange bettlägrig. Schließlich legten die Ärzte ihm sogar eine Magensonde. Die Qual war für alle Beteiligten sehr groß. Der Opa schien sich zu quälen. Die Familie sah ihn leiden.

Alle waren sich einig, dass es doch das Beste wäre, wenn Opa nicht länger leiden müsste und sie ihn nicht länger leiden sehen müssten. Da keine Patientenverfügung existierte, beharrte der behandelnde Arzt allerdings auf der Maximaltherapie.

Irgendwann besserte sich Zustand des Patienten. Heute kann er wieder selbständig essen.

So sehr ich Wahlfreiheit und Selbstbestimmung unterstütze, diese Geschichte zeigt, wie anmaßend und unangemessen es ist, sich als Fremdbestimmer zum Entscheider über ein anderes Leben aufzuschwingen. Und genau diese Gefahr besteht, wenn es gesetzliche Regelungen gibt, die Euthanasie erlauben. Die Diskussion in den Niederlanden zeigt, dass die Indikation früher oder später ausgeweitet wird, wenn einmal der rechtliche Rahmen dafür zur Verfügung steht…

Wie reagiert eine Gesellschaft mit solchen Möglichkeiten, der irgendwann die 80- bis 90jährigen eine zu große Last werden?