Nachdenken über Wissenschaft und Schavan

Wahrscheinlich ist es gerechtfertigt, ein wenig Mitgefühl mit Frau Schavan zu haben.

Damals im Jahre 1980 existierten zwar auch schon allgemeinverbindliche Grundsätze des wissenschaftlichen Zitierens – aber wer konnte damals ahnen, dass ein Verstoss dagegen 33 Jahre später die eigene Karriere ruiniert? Zumal die Gutachter damals ja nichts zu beanstanden hatten.

Das Abgrenzungsbedürfnis, dass wir Wissenschaftler nun gegen jemanden wie Frau Schavan empfinden und öffentlich zum Ausdruck bringen, ist einerseits berechtigt und notwendig, aber auch gefährlich, denn die Grenzen zwischen redlich und unredlich sind in unserem Geschäft leider fließend…

Klar, sie hat betrogen. Sie hat eine Leistung vorgetäuscht, die sie nicht erbracht hat. Alle Studierenden, die betrügen (wissentlich/vorsätzlich oder nicht), kriegen auch von mir erstmal ein „nicht bestanden“. Bei Schavan geht der Fakultätsrat so weit zu sagen, „dass die damalige Doktorandin systematisch und vorsätzlich über die gesamte Dissertation verteilt gedankliche Leistungen vorgab, die sie in Wirklichkeit nicht selbst erbracht hatte„.

Das ist nicht zu rechtfertigen, nicht mit Naivität, nicht mit Unwissenheit, nicht mit Überlastung. Immerhin muss sie damals, als eine Tastatur mit den Kombinationen strg-c und strg-v nicht zum Standard-Inventar einer Studierenden gehörten, alles sehr mühselig abgetippt haben.

Deswegen lässt mich der Gedanke nicht mehr los, bei Frau Schavan sei es durch den Akt des Abtippens zu einer Art Überidentifikation mit dem geisteswissenschaftlichen Gedankengut gekommen, gerade so, als habe die Studentin die Gedanken durch das Abtippen so sehr inkorporiert, dass sie die Texte anschließend als ihre eigenen betrachten konnte.

Klar, wenn es so gewesen wäre, hätte die Studentin S. eine massives Psycho-Problem vorzuweisen gehabt – aber wäre das so selten? Uns in etwas hineinzuträumen, was einer Wirklichkeitsprüfung nicht standhält? Wissenschaft ist ja kein einfaches Geschäft, gerade in den so genannten Geisteswissenschaften nicht. Die Grenzen zwischen einem eigenen und einem fremden Gedanken sind manchmal schwer herauszuarbeiten – und immerzu die Wissenschaft mit einem neuen, eigenen Gedanken voran zu bringen, ist sicherlich deutlich schwerer, als das Bekannte zu paraphrasieren und dann die Fußnote bzw. das Zitat zu verdaddeln.

Ich wünschte mir ein (globales) Forschungsprojekt, in welchem Ausmaß im Alltagsgeschäft (Publish or Perish!) falsch zitiert, mangelhaft zitiert oder auch nur fehlerhaft Bezug genommen wird. In biomedizinischen Aufsätzen ist es üblich, durch die Aneinanderreihung von Literaturstellen die eigene Argumentation und die Begründung für den eigenen Aufsatz zu entwickeln. Der wissenschaftliche Kodex oder auch das Selbstverständnis geht davon aus, das an den zitierten Stellen auch genau das steht, worauf die Zitierenden sich berufen. Aber hat das schonmal jemand systematisch untersucht? Wie viel stille Post ist in der Wissenschaft unterwegs? Ich erinnere nur an die Sache mit dem Spinat, dem Eisen und den Kommastellen.

Wer hat all die Aufsätze gelesen, die in den eigenen Arbeiten zitiert werden? Bei wem reicht das Lesen kaum über die Abstracts hinaus? Wer hat genügend Zeit zu lesen?

Der Fall der Wissenschaftsministerin könnte auch eine wissenschaftsinterne Debatte darüber auslösen, was redlich ist und was nicht und ab welchem Moment wir als Wissenschaftler selber im Glashaus sitzen und nicht mehr mit Steinen werfen sollten… Das Blog Retraction Watch ist eine verdienstvolle Anstrengung, den Betrug in der Wissenschaft zu erfassen, zumindest hinsichtlich von Aufsätzen, die zurückgezogen wurden.

Dass die Ministerin Schavan nun so verrückt zu sein scheint, im Amt bleiben zu wollen, schreibe ich allerdings ihrer oben schon vermuteten Psycho-Macke zu, diesmal als letzten Halt vor dem inneren Nichts, das sie sich ansonsten eingestehen müsste. Sie muss an ihre eigene Redlichkeit glauben, sonst wäre sie psychisch zerstört. Ihre ganze mühsehlige Abtipperei vor 33 Jahren wäre umsonst gewesen.

Eine bittere Bilanz.

Selbstverteidigungsminister verteidigt sich nicht mehr

Der bekannteste Abschreiber der Nation hat ein Einsehen und verlässt die politische Bühne: Guttenberg tritt zurück.

Die wissenschaftliche und die Netzgemeinde haben das Thema in trauter Eintracht mit weiten Teil der veröffentlichten Meinung wachgehalten und dafür gesorgt, dass der Minister nach ein paar entschuldigenden Äußerungen nicht zur Tagesordnung übergehen konnte, sondern die von ihm sonst so hoch gehaltenen Maßstäbe von Verantwortung und Aufrichtigkeit (endlich) auf sich selber anwendet.

Wie sagt die Kanzlerin doch immer so schön: Das ist ein guter Tag für Deutschland.

Causa Guttenberg

Langsam schwellen die wissenschaftlichen Wogen an, die den Herrn zu Guttenberg aus dem Amt spülen werden. Der hier von mir empfohlene offene Brief an die Bundeskanzlerin hat nach ca. 3 Tagen etwa 15000 Unterzeichnerinnen hinter sich gebracht.

Zwar wirkt das Schreiben an manchen Stellen etwas naiv („Redliche und innovative Wissenschaft ist eine Grundlage des Wohlstands in unserem Land.“) und blendet die kungelhafte, interessensgeleitete, zitierkartellmächtige Wirklichkeit des Wissenschaftsbetriebes aus, aber die Aktion ist sinnvoll und notwendig und deswegen absolut unterstützenswert.

Also: Bitte unterschreiben, auch diejenigen, die nicht unmittelbar etwas mit dem Wissenschaftsbetrieb zu tun haben!

http://offenerbrief.posterous.com/