Hausarztmodelle teuer und ohne Nutzen?

Im Augenblick ist die Stimmung für Hausarztmodelle bzw. hausarztzentrierte Versorgung in Deutschland nicht sonderlich gut: Anfang des Jahres stellte die Bertelsmann-Stiftung die Wirkung solcher Versorgungskonzepte in Frage. Dieser Tage verweisen die großen Kassentanker DAK und TK auf die zusätzlichen Kosten, die keineswegs verbesserte Versorgungsqualität und damit den fehlenden Nutzen für die Patienten.

Auch das (hausarztnahe) AQUA-Institut hat Hausarztmodelle untersucht. Einige Ersatzkassen (bspw. TK, DAK, KKH, HMK) stellten Routinedaten aus den Jahren 2005 und 2006 zur Verfügung. AQUA teilt die allgemeine Miesepetrigkeit nicht (nützt nix, teuer, Versorgung nicht verbessert) und findet einige Hinweise, die für Hausarztmodelle sprechen: Die Ausgaben für stationäre Versorgung, Heil- und Arzneimittel waren bei Versicherten im Hausarztmodell geringer als in der Vergleichsgruppe ohne Hausarztmodell. Dem stehen allerdings die ärztlichen Betreuungspauschalen gegenüber.

Eine wirklich fundierte Entscheidung, ob Hausarztmodelle sinnvoll und nützlich sind, lässt sich aus mehreren Gründen heute noch gar nicht treffen:

Bisher werden die Modelle von den Krankenkassen so umgesetzt, das am Ende nur Mehrkosten entstehen können und nur wenig Gutes zu berichten bleibt. An der Versorgung selbst verändert sich ja nichts. Die Hausärzte bekommen nicht mehr (vergütete) Zeit, sich um die Belange der Patienten zu kümmern. Die Betreuungspauschalen sind lachhaft. Eine echte Begleitung und Führung durch das System ist auf diese Weise nicht zu bewerkstelligen.

Deswegen sind die Patienten auch nicht zufriedener. Ja, so lässt sich auch der Bertelsmann-Befund erklären, dass Patienten im Programm weniger zufrieden sind als diejenigen außerhalb des Programms: Diese Patienten haben höhere Erwartungen an die Versorgung. Da sich aber nichts ändert, sind sie unzufriedener. Hoffnung macht der innovative Vertrag zwischen der AOK-Baden-Württemberg und dem dortigen Hausärzteverband. Neue Vergütungsideen, verbesserte Versorgungsangebote, eine echte Lotsenfunktion der Ärzte.

Ich warte gespannt auf den Start am 01.07.08 und den weiteren Verlauf.

Patientenautonomie und Wahlfreiheit

Schon lange vertrete ich die Auffassung, die freie Arztwahl von gesetzlich Versicherten solle eingeschränkt werden. Einen solchen empfindlichen Eingriff in Autonomie und Selbstbestimmungsrecht öffentlich zu fordern, steigert nicht gerade die eigene Beliebtheit. Gerade auch nicht in einem gesellschaftlichen Klima, das die Freiheitsrechte immer nur ausweiten und Fremdeingriffe (Staatsmedizin!) zurückdrängen möchte.

Deswegen werde ich in loser Reihenfolge ein paar Fragen beantworten, die in diesem Kontext unbedingt beantwortet werden müssen:

1. Ist die Einschränkung der Patientenautonomie und der Wahlfreiheit überhaupt zu rechtfertigen?

Zum Wohle des Patienten in einem intransparenten Gesundheitssystem durchaus! Aber warum?

Persönliche Freiheitsrechte sind nicht nur ein hohes Gut unserer Gesellschaft. Sie machen diese Gesellschaft überhaupt erst attraktiv. Dennoch sind Zweifel erlaubt, ob wir immer und zu jeder Zeit und in jedem gesellschaftlichen Subsystem in der Lage sind, unsere Freiheitsrechte auszuüben. An die Ausübung der Freiheitsrechte ist nämlich unbedingt gebunden, dass sich das System, in dem sie angewendet werden, offen und durchschaubar verfasst ist. Das System muss die Rahmenbedingungen liefern, um eine selbstbestimmte Entscheidung überhaupt treffen zu können. Und das ist beim Gesundheitssystem – zum Teil gewollt, zum Teil ungewollt – nicht der Fall.

Freiheitsrechte wie die freie Arztwahl führen in einem intransparenten System dazu, dass Patienten alleine gelassen werden, einsame, falsche und deswegen krankeitsverlängernde Entscheidungen treffen. Ich habe das hinsichtlich funktioneller Beschwerden bereits ausführlich belegt.

Ein viel gewichtigerer Aspekt ist jedoch die Ausgangslage eines Patienten: Die Not, der Schmerz, die Beschwerden, die dazu führen, einen Arzt in Anspruch zu nehmen. Das Gesundheitssystem ist für den Patienten in weiten Teilen intransparent und alles andere als ein Markt. Weder verfügt ein Nachfrager von Gesundheitsleistungen (Patient) über alle Informationen, noch sind die Anbieter (Ärzte) dem freien Spiel der Kräfte unterworfen (Stichworte: Sicherstellung der Versorgung, Behandlungspflicht). Darüber hinaus ist es für den Arzt aus behandlungsstrategischen Gründen (Placebo, finanzielles Eigeninteresse) häufig gar nicht wünschenswert, dem Patienten sämtliche Informationen zur Verfügung zu stellen.

Zudem handelt es sich bei der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) um ein System, das auf solidarischem Ausgleich basiert: Leute, die wenig in Anspruch nehmen, finanzieren jene, die mehr Leistung bekommen. Auch deswegen ist es sinnvoll und zwingend, den Zugang zu kontrollieren. Wer die GKV als solidarisches System will und sie auch in Zukunft will, darf Wahlfreiheit einschränken. Die Patientenautonomie wird am Ende gestärkt, denn eine intelligente, transparente Begleitung durch das System führt auch zu besser fundierten Entscheidungen.

PS.: Wer unbedingt seinen Kardiologen zu seinem Hausarzt machen möchte, der sei in dieser Wahl zukünftig nicht mehr eingeschränkt. Egal wer, einer im System sollte der erste Ansprechpartner sein.

Kassenärztechef empfiehlt, die freie Arztwahl abzuschaffen

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung nimmt endlich eine alte Forderung von mir auf die politische Tagesordnung: Begleitung und Überweisung des Patienten zu Spezialisten ausschließlich durch den Hausarzt, damit Abschaffung der freien Arztwahl.

Ich bin entzückt, dass der Chef-Vertreter der ambulanten Ärzteschaft eine solche Debatte eröffnet. Sie ist notwendig, weil alle andere Steuerungsbemühungen innerhalb des Gesundheitssystems bisher fehlgeschlagen sind (Zuzahlungen, Praxisgebühr). So sehr dieser “Zwang”, zuerst einen Hausarzt zu sehen, ein Kulturschock für viele Patienten wäre, 75% aller Patienten gehen sowieso immer zuerst zum Allgemeinmediziner.

Warum also nicht die hausarztzentrierte Versorgung zur Pflicht für alle gesetzlich versicherten Patienten machen? Warum am ideologisch aufgeblasenen, alten Zopf “freie Arztwahl” festhalten?

Ich werde das Thema in den kommenden Tagen vertiefen, mit diesen Fragen:

1. Ist die Einschränkung der Patientenautonomie und der Wahlfreiheit zu rechtfertigen?
2. Welchen Nutzen haben Hausarztmodelle?
3. Gefährden Hausarztmodelle den Wettbewerb in der ambulanten Versorgung?
4. Gibt es Alternativen?

Bayerns Hausärzte bleiben im KV-System

Laut Meldung im Deutschen Ärzteblatt werden die bayerischen Hausärzte in absehbarer Zeit doch nicht kollektiv aus dem System der vertragsärztlichen Versorgung, organisiert durch die Kassenärztliche Vereinigung (KV), aussteigen.

Als Tiger gesprungen, als Bettvorleger gelandet. Vor allem der Hausarztverbandschef Hoppenthaller, der sein persönliches Schicksal an den Ausstieg aus dem System gekoppelt hat, steht nun blamiert da: Die Hausärzte wollten die Macht der anderen Facharztgruppen brechen, sie wollten den Honorarverteilungsschlüssel zu ihren Gunsten ändern, sie wollten an der KV vorbei die Versorgung der Patienten sicherstellen – nichts davon wird nun eintreten. Stattdessen stehen Bayerns Hausärzte schwächer da als je zuvor.

Womöglich ist der Abbruch der “Aktion Systemausstieg” am Ende doch keine Niederlage, sondern ein Sieg der Vernunft: Die Aussicht, auf diese Weise die eigenen Ziele durchzusetzen, hat wohl nie bestanden. Zu viele bayerische Hausärzte haben am Erfolg der Aktion gezweifelt und waren nicht bereit, die eigene Existenz auf diese Weise aufs Spiel zu setzen. Zu deutlich waren die Signale aus dem Sozialministerium, beim Ruin des KV-Systems eventuell die Krankenkassen mit der ambulanten Versorgung zu beauftragen.

Wie die Geschichte des Systemausstiegs ihren Lauf nahm, ist hier nachzulesen:

Fristverlängerung für GKV-Ausstieg der Hausärzte (07.03.08)
Hausarzt-Harakiri? (31.01.08)
Hausarztversammlung empfiehlt Systemausstieg (12.01.08)
Hausärzte raus aus der GKV?

Hausärztliche Versorgung reloaded

In Baden-Württemberg haben die AOK, der Ärzteverbund Medi und der regionale Hausärzteverband einen Vertrag zur ambulanten Versorgung von AOK-Patienten nach § 73 b SGB V geschlossen.

Das geht an die Struktur des uns bekannten Versorgungssystems: Der bisherige Quasi-Monopolist für die ambulante Versorgung, die kassenärztliche Vereinigung (KV), ist nämlich von diesem Vertragswerk ausgeschlossen. Der Rest der Republik, alle Spieler im System werden genau beobachten, wie Patienten und Ärzte den Vertrag annehmen und mit Leben füllen. Gespannt sein dürfen wir vor allem, ob bei der AOK am Ende die Kasse stimmt.

Die Vergütungsangelegenheiten sind klar geregelt: Pro Jahr und eingeschriebenem Versicherten 65 Euro, unabhängig davon, ob der Versicherte den Arzt in Anspruch nimmt. Geht der Versicherte zum Arzt erhält der für das entsprechende Quartal weitere 40 Euro (allerdings für maximal 3 Quartale im Jahr). Der Krankheitsstatus wird gesondert abgegolten: Chronisch kranke Patienten werden mit zusätzlichen 25 Euro im Quartal vergütet, diesmal aber für alle vier Quartale.

Auch das ist umstürzlerisch – und die Beteiligten nehmen auch gleich die Bierdeckelmetapher für sich in Anspruch: Ein Vergütungssystem, das auf einen Bierdeckel passt. Die AOK hofft, die Mehrausgaben durch effizientere Versorgung auszugleichen: Weniger Doppeluntersuchungen, mehr preiswerte Medikamente, eine echte Lotsenfunktion der Hausärzte. Den Patienten wird eine Abendsprechstunde angeboten und eine Behandlungsgarantie bis zum Ende des Quartals gegeben. Die bei bisherigen Hausarztverträgen übliche Rückerstattung der Praxisgebühr ist nicht vorgesehen.

Die AOK erwartet etwa 5000 teilnehmende Hausärzte und rund eine Million Versicherte, die sich einschreiben.

Das Projekt startet am 01. Juli 2008.

Das spezialisierte Gesundheitssystem

Ein großer Anteil psychosomatisch-funktioneller Erkrankungen in Hausarzt- und Spezialistenpraxis erklärt sich durch die zeit- und kostenintensive Ausschlussdiagnostik. Ein bildgebendes Verfahren hier, ein Laborwert da, eine Darmspiegelung in dieser Praxis, ein Muskelbelastungstest in einer anderen. Einerseits wollen die Behandler wegen des eigenen Haftungsrisikos sicher gehen, nicht doch etwas übersehen zu haben. Andererseits erscheinen organisch unerklärte Symptome im Gewand bekannter körperlicher Erkrankungen: Eine ähnliche Symptomkonstellation von Unterbauchbeschwerden und unregelmäßigem Stuhlgang führt organisch erklärt bspw. zur Diagnose eines Morbus Crohn. Findet der Arzt keine andere organische Ursache, bspw. eine Milchsäureunverträglichkeit, heisst die Kategorie Reizdarmsyndrom.

Das ärztliche Vorgehen ist wenig vertrauenswürdig, denn die Symptome erscheinen als diagnostische Kippfiguren. Je nach eigenem Fachgebiet stellt der Untersucher bestimmte Symptome einer Konstellation in den Vordergrund und rückt die anderen in den Hintergrund. Auf der Basis derselben Symptome (Muskelschmerzen, Müdigkeit und Kopfschmerzen) entscheidet der Rheumatologe, es liege ein Weichteilrheumatismus (Fibromyalgie) vor, während der Neurologe eher ein Chronisches Erschöpfungssyndrom erkennt (vergleiche Tabelle 1).

Britische Untersuchungen aus den letzten Jahren belegen diesen Eindruck: Zwischen 30% und 70% aller Patienten, die in der rheumatologischen Praxis ein Fibromyalgie-Syndrom bescheinigt bekommen, erhalten in einer gastroenterologischen Praxis die Diagnose Reizdarmsyndrom – und umgekehrt. Eine Diagnose erlaubt somit eher Rückschlüsse auf das Fachgebiet des diagnostizierenden Arztes als auf den körperlichen Zustand des Patienten.

Tabelle nach Wessely ea. 1999 (++ charakteristisch für Syndrom, + assoziiert mit Syndrom)

Der so eingeengte Blick und die Vielzahl der Erklärungen, welche die einzelnen Fachleute anbieten, verwirrt die Patienten. Selten sind die Kollegen einer Meinung. Jeder Spezialist offenbart eine eigene Sicht auf die präsentierten Symptome. Entsprechend variabel fallen die Therapievorschläge aus. Wer hat denn nun recht, fragen wir uns anschliessend berechtigt und mit wachsender Sorge. Jeder weitere Arztbesuch nämlich, der nur eine neue Diagnose, aber keine Erklärung und schon gar keine Besserung der Symptome zustande bringt, frustriert uns zusätzlich. Die Zweifel an den Ärzten wachsen. Umgekehrt beginnen die Ärzte über uneinsichtige, querulatorische Patienten zu klagen, deren Sehnsucht nach einer organischen Erklärung für die Beschwerden sie nicht befriedigen können.

Dabei stecken die Mediziner in einem aktuell kaum auflösbaren Systemzwang. Sie wissen um die psychosozialen Einflüsse, welche die Beschwerden gestalten. Sie sind sich dessen bewusst, dass sie sich die Zeit nehmen müßten, länger mit dem Patienten zu reden. Weil das Abrechnungssystem jedoch körpermedizinische Diagnostik und Therapie favorisiert, und dem Gespräch mit dem Patienten nur wenig Raum gewährt, bleiben wichtige Fragen zur besseren Erklärung der Symptome offen. Dem Arzt bleibt nur die Wahl zwischen zwei unerfreulichen Optionen: Entweder er sucht das Gespräch und ruiniert damit seine Existenz. So der Fall in vielen Hausarztpraxen, die auf Umsätze verzichten, wenn sie sich den sonstigen Sorgen und Nöten der Patienten zuwenden. Oder der Arzt behelligt die Patienten unnötiger Weise mit wiederholter Körper-Diagnostik und verschreibt Medikamente (z.B. Schmerzmittel), um die akuten Beschwerden zu lindern. Damit hat er sich zwar ökonomisch abgesichert, aber den Patienten keineswegs optimal versorgt – denn die möglichen Ursachen der Beschwerden bleiben weiter verborgen.

Patienten und Ärzte: Das verschobene Machtgefüge

Ohne Zweifel hat sich unser Verhalten als Patienten in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert: Wir sitzen im Schnitt häufiger in einer Arztpraxis. Wir gehen wegen leichterer Beschwerden in die Sprechstunde. Wir sind weniger bereit als frühere Generationen, ein aus dem Gleichgewicht geratenes körperliches Befinden längere Zeit zu tolerieren. Wir achten stärker auf die Signale unseres Körpers, verstärken sie damit allerdings zusätzlich, weil sich die körperlichen Reaktionen in unserem Bewusstsein festsetzen und unsere Aufmerksamkeit fesseln.

Norbert Donner-Banzhoff, in Marburg gleichermaßen als Wissenschaftler und als Hausarzt tätig, erklärt die herab gesetzte Schwelle für einen Arztbesuch mit einer veränderten Sozialisation: „Auffällig ist das am Krankheitsverhalten von Kindern. Schon kleine, banale Störungen oder Wehwehchen veranlassen die Eltern, mit ihren Kindern einen Arzt aufzusuchen.“ Auf diese Weise lernt der Nachwuchs bereits in jungen Jahren, dass körperliches Unbehagen an einen Arztbesuch gekoppelt ist – ohne vorher von den Eltern Methoden und Mittel zur Selbsthilfe zu bekommen.
Veränderte Familienstrukturen tun das Übrige. Weil die Familien weniger Kinder zählen und diese Kinder selten gemeinsam mit Gleichaltrigen aufwachsen, sind die Immunsysteme anfälliger und neigen zu Überreaktionen. Weil die Familienverbände kleiner geworden sind und kaum noch drei Generationen unter einem Dach leben, ist auch das großelterliche Erfahrungswissen nicht unmittelbar verfügbar. Diese sozialen Umstände führen zu einem Mangel an körperlicher Selbstkompetenz – und zu einer erhöhten Inanspruchnahme von Ärzten.
Dem steht eine Zunahme an Wissen und Aufgeklärtheit seitens der Patienten gegenüber. „Die Patienten treten heute selbstbewußter und informierter auf“, stellt Donner-Banzhoff fest. Der Widerspruch zur soeben konstatierten Verunsicherung ist nur ein scheinbarer. Um nämlich unsere Verunsicherung zu kompensieren, nutzen wir alle verfügbaren Informationsquellen: das Internet, Ratgeberbücher oder Gesundheitssendungen des Fernsehens.

Mit unserem gesammelten Wissen treten wir dem Hausarzt gegenüber. Damit ist das klassische Verhältnis zwischen dem Halbgott in Weiß und dem Empfänger göttlicher Ratschläge zum historischen Auslaufmodell geworden. Weil in der so gestalteten Arzt-Patient-Beziehung der Expertenrat immer auch durch den Patienten angezweifelt werden kann, ergibt sich daraus eine weitere Ursache für verändertes Patientenverhalten: Wir brauchen einen, zwei oder drei weitere Ärzte, um eine bereits erfolgte Diagnose zu bestätigen – oder zu widerlegen.

Die Kombination aus weiter Verbreitung und mangelnder organischer Erklärung der Beschwerden resultiert in einem weiteren Phänomen: Der Etablierung eines öffentlichen Diskurses über die möglichen Quellen der Leiden. Dabei spielen Störquellen außerhalb des Körpers eine Rolle (z.B. Elektrosmog, Erdstrahlen). Oder der symptomauslösende Wirkstoff wird innerhalb des Körpers vermutet (z.B. Amalgam-Füllungen, belastete Nahrung). Beeinflusst durch Medien, Juristen, interessierte ärztliche Spezialisten und die Lobby der Betroffenengruppen verselbstständigen sich die Symptomkonstellationen und werden in den Rang von eindeutig abgrenzbaren Krankheitsentitäten erhoben. Diesem Druck geben Gerichte, Rententräger und Krankenkassen nach und nehmen die Syndrome in den offiziellen Krankheitskatalog auf.

Morgen: Patienten – Das veränderte Körperbild

Funktionelle Störungen bzw. Beschwerden

Ich habe schon in meinem Kommentar zur freien Arztwahl darauf hingewiesen: Etwa ein Drittel aller Beschwerden, mit denen Patienten eine Hausarztpraxis aufsuchen, bleiben organisch unerklärt (Henningsen P, Zipfel S, Herzog W (2007). Management of functional somatic syndromes. The Lancet, 369, 9565, 946 – 955). Die mit der körperlichen Symptomatik verbundene funktionelle Einschränkung gibt den Störungen ganz pragmatisch ihren Namen.

Doch warum organisch bzw. medizinisch unerklärt, wenn es doch der Körper ist, der nicht korrekt funktioniert?

Körperliche Beschwerden an sich sind uns allen wohl vertraut. Manchmal hämmert der Kopf bis zum Zerplatzen. Manchmal schmerzen die Glieder und der Rücken. Manchmal fließt der Schweiß unkontrollierbar. Hin und wieder regt sich der Darm in kaum nachvollziehbaren Zyklen und die Magensäure steigt die Speiseröhre hinauf. Ab und an ertönt ein lästiges Fiepen im Ohr, welches aus uns selbst zu kommen scheint. Ein anderes Mal wird uns schwindelig oder unser Herz beginnt zu rasen…

Epidemiologische Befragungen zeigen, dass innerhalb einer Woche rund drei Viertel der Bevölkerung einmal über ein solches körperliches Symptom klagt. Die meisten der unspezifischen Signale des Körpers verschwinden nach kurzer Zeit. Wir erkennen sie als vorübergehend und entwickeln eigene Selbsthilfeprogramme, den Kater, den Durchfall oder das Pfeifen im Ohr zu kontrollieren. Um die Regungen des Körpers zu verstehen, greifen wir auf nahe liegende Erklärungsmuster zurück, in deren Licht uns die Beschwerden als „normal“ oder „berechtigt“ erscheinen: eine durchzechte Nacht, ein verdorbenes Kantinengericht, laut dröhnende Boxen auf der letzten Drum’n‘Bass-Party.

Darüber hinaus wissen wir um das Wechselverhältnis zwischen Körpersymptomen und psychosozialen Belastungen. Der Zusammenhang ist fest in der Sprache verwurzelt – ohne dass wir uns dessen immer Gewahr sind. Da „klingen Worte immer noch in den Ohren“. Eine Nachricht „macht schwindelig und kippt jemanden aus den Latschen“. Eine Prüfung „schlägt dem Prüfling auf den Magen“. Eine Ungerechtigkeit „versetzt das Blut in Wallung“. Oder ein Verlust „tut im Herzen weh und geht an die Nieren“. So lange wir auf diese Weise eine Erklärung für die leidvollen Körperreaktionen bekommen, die Symptome abklingen und das Gleichgewicht zurück kehrt, kommen wir nicht auf die Idee, damit einen Arzt zu behelligen.

Bei etwa einem Viertel der Betroffenen entwickelt sich jedoch eine dauerhafte Störung der körperlichen Befindlichkeit. Die Symptome verselbstständigen sich, der Kopf hämmert fortgesetzt, der Durchfall dauert wochenlang. Das körperliche Unwohlsein beginnt, den alltäglichen Gang der Dinge und die Lebensqualität zu beeinträchtigen. Halten die Beschwerden weiter an, sehen wir keinen anderen Ausweg, als uns in die fachkundigen Hände eines Mediziners zu begeben. Der Fachmann soll nun klären, welche körperliche Veränderung das Symptom erzeugt.

In dem Moment nämlich, in dem die Beschwerden länger andauern, als wir es gewohnt sind, tritt die Sorge vor einer körperlichen Ursache in den Vordergrund. Mögliche psychologische Erklärungsmuster verlieren an Erklärungskraft. Angesichts der erlebten, massiven Beeinträchtigung, die ja unseren Arztbesuch erst auslöst, erscheint es uns zwingend, dass mit unserem Körper „etwas nicht stimmt“.

Leider erweist sich unsere Annahme, dass stark beeinträchtigende, körperliche Symptome auch organisch erklärbar sein müssten, häufig als falsch. So zeigt eine repräsentative Erhebung (Hessel A, Geyer M, Schumacher J, Brähler E (2002). Somatoforme Beschwerden in der Bevölkerung Deutschlands. Zeitschrift für psychosomatische Medizin und Psychotherapie 48, 1, 38-58), wie verbreitet Körperbeschwerden ohne organischen Befund bei den Patienten sind: 30% der Befragten berichteten Rückenschmerzen, die das Wohlbefinden stark beeinträchtigten, für die der Arzt auch nach zwei Jahren keine (körperlichen) Ursachen finden konnte. Darüber hinaus klagten im selben Zeitraum 25% über Gelenkschmerzen, 20% über Schmerzen in Armen und Beinen, 19% über Kopf- und Gesichtsschmerzen, 13% über Völlegefühl. Damit bekommt mindestens ein Drittel der Patienten in Deutschland eine „Diagnose ohne Befund“ attestiert.

Und dann sprechen die Ärzte von funktionellen Beschwerden.

Morgen: Was passiert, wenn der Arzt nichts findet?

Vom Risiko, privat versichert zu sein…

In der öffentlichen Diskussion um die Zwei-Klassen-Medizin wird zweifelsfrei vorausgesetzt, dass es irgendwie besser wäre, privat versichert zu sein: Ein privat Versicherter bekomme angeblich eher einen Arzttermin, habe Zugang zu den besseren Medizinern, den besseren Therapien und werde insgesamt im System bevorzugt behandelt.

Dieser rosige Blick auf die Wirklichkeit der privaten Krankenversicherung (PKV) dient vor allem einem Zweck: Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) wegen ihrer vermeintlich schlechteren Versorgung abzuwerten. Seht her, wie gut es dem privat, wie schlecht es dem gesetzlich Versicherten geht. In den vergangenen Wochen hat sich niemand zu Wort gemeldet, der darauf hinweist, dass es sich bei der Bevorzugung privat Versicherter um (häufig) unnütze Überversorgung handelt. Im letzten Jahr berichteten die Zeitschrift Capital und die FAZ – In den Klauen der Halbgötter aus journalistischer Sicht über das Phänomen.

Ein Blick auf die Rahmenbedingungen genügt, und vom schönen Schein der PKV bleibt nicht mehr viel übrig. Alles fängt bei der Risikoprüfung an, die ein Wesensmerkmal dieser Krankenversicherung ist. Wer krank ist, alt oder mit einem anderen Malus behaftet, zahlt höhere Beiträge oder wird gleich abgelehnt. Wenn nicht der Beamtenstatus eine Privatkasse dazu verleitet, denjenigen zu versichern. Eine psychische Erkrankung in der Vorgeschichte kann zu einem gesenkten Daumen seitens der PKV führen. Daraus resultiert eine insgesamt, im Vergleich zur GKV, gesündere Versicherten-Population. Seit dem 01.07.2007 ist es gleichwohl möglich, ohne Risikoprüfung in die PKV aufgenommen zu werden bzw. zurückzukehren.

Dass allerdings diese eher gesünderen Patienten in einer Studie Qualität der Gesundheitsversorgung in Deutschland berichteten, sie gingen häufiger zum Facharzt, würden häufiger stationär behandelt und häufiger nicht-akut-notwendigen OPs ausgeliefert, verwirrt dann doch. Außerdem bekamen privat Versicherte in der Studie, an der das IQWiG beteiligt war, häufiger unnötige Doppeluntersuchungen, warteten kürzer sowohl bei den Fachärzten als auch bei geplanten Operationen. Da schließt sich der Zwei-Klassen-Medizin-Kreis: Weil es sich um die lukrativeren Patienten handelt, werden sie zwar bevorzugt behandelt, kommen deswegen gleichwohl in den Genuss möglicherweise unnützer Überversorgung.

Doch zu viel des Guten reicht nicht. Die PKV erstattet den behandelnden Ärzten immer wieder Heilversuche, die allenfalls dem Geldbeutel des Behandlers dienen kaum aber dem Patienten. Lucentis bei trockener Makula-Degeneration (MD) ist ein nicht unbeliebter Versuch von Augenärzten, ihren privatversicherten Patienten, die ihren Blick nicht mehr scharf stellen können, Hoffnung zu verticken. Was für die feuchte, die altersbedingte MD erlaubt ist, kann doch für die trockene nicht so falsch sein! Eine Zulassung jedoch gibt es für diese Indikation nicht.

Doch nicht nur Überversorgung ist problematisch bei der PKV. Auch Unterversorgung ist zu vermelden, bspw. in der Versorgung von schwangeren Frauen und Wöchnerinnen. Geburtsvorbereitungskurse werden nicht erstattet. Und Wöchnerinnen stellt die PKV keine Haushaltshilfe zur Verfügung, wie die GKV es tut, auch nicht, wenn der Bedarf erwiesen ist. Auch finanziert die PKV keine Rückbildungsgymnastik. All das gehört zum Privatvergnügen der Schwangeren. Schwangerschaft sei eben keine Krankheit.

Zum Schluss noch eine Bemerkung zum Versicherungsbeitrag. Die PKV nimmt in der Regel weniger Beitrag als die GKV (Arbeitnehmer- plus Arbeitgeberanteil). Dafür allerdings gibt es in der PKV die Versicherung von Familienmitgliedern nur gegen Aufschlag oder gar einen eigenen Beitrag.

Wer die GKV also nur an der Höhe des Beitrages bemisst, sollte nicht zur Seite schieben, was es dafür gibt: In einer vierköpfigen Familie, in der nur einer verdient, zahlt auch nur einer Beitrag – zumindest so lange die Eltern verheiratet sind. Aber das ist eine andere, eine familien-, keine gesundheitspolitische Baustelle…

Private Krankenkassen beschweren sich beim Verfassungsgericht

Am kommenden Dienstag vor einem Jahr (01.04.2007) ist die letzte Gesundheitsreform in Kraft getreten, das GKV-WSG (Gesetzliche Krankenversicherung-Wettbewerbsstärkungsgesetz). Fristgerecht erheben nun die privaten Versicherer Einspruch, mit einer Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe.

Warum klagen die Privaten Krankenversicherungen (PKV), obwohl doch das Gesetz scheinbar eines für die GKV ist?

Drei Punkte vor allem erregen die PKVen, denn sie könnten ihnen langfristig die Existenz kosten (eine möglicherweise nicht unbeabsichtigte Nebenwirkung der Reform):

Der erschwerte Zugang zur PKV für GK-Versicherte mit einem Brutto-Einkommen oberhalb von 47000. Früher reichte es, ein Jahr lang über dieser Versicherungspflichtgrenze zu verdienen. Dann war der Arbeitnehmer frei zu entscheiden: GKV oder PKV. Seit 01.04.2007 muss der wechselwillige Besserverdiener mindestens drei Jahre lang den Jahresdurchschnitt halten.

Wenn ich den Geist des SGB V richtig verstehe, ist es dem Gesetzgeber völlig freigestellt, wann er seine pflichtversicherten Arbeitnehmer aus der Sozialversicherungspflicht entlässt, nach einem Jahr, nach drei Jahren, nie. Ich rechne nicht damit, dass dieser Teil der Verfassungsbeschwerde Erfolg haben wird.

Anders sieht es mit dem Basistarif aus, den der Gesetzgeber sich ausgedacht hat: Der soll a) alle (Regel)-Leistungen der GKV beinhalten, b) jeden versichern, der berechtigt ist, eine private Krankenversicherung abzuschließen – ohne Prüfung des Gesundheitsstatus und c) genauso teuer sein, wie der entsprechende Tarif in der GKV.

Bisher beruhen jedoch alle Tarife der PKV auf genauen Erhebungen des individuellen Risikos des Versicherten (Alter + Geschlecht + Gesundheitsstatus = Risiko). Der Basistarif hebelt dieses Prinzip aus – und scheint mir tatsächlich massiv in das Geschäftsmodell der PKVen einzugreifen. Diesem Punkt der Beschwerde gebe ich gute Chancen.

Schließlich, als dritter Aufreger, die Wahltarife. Dabei stören sich die PKVen nicht so sehr an den Wahlpflichttarifen, welche die gesetzlichen Krankenkassen anbieten müss(t)en. Vielmehr sind es die Wahloptionstarife, die eine Gefahr für das Geschäftsmodell der PKV darstellen. Vom Selbstbehalt-, über den Kostenerstattungstarif bis hin zur Zusatzversicherung ermöglicht der Gesetzgeber der GKV, Rabatt- oder Zusatzgeschäfte, die bisher allein der PKV zugefallen sind, mit den eigenen Versicherten anzubahnen. Die Bedrohung ist klar: Warum sollte ich als GKV-Versicherter eine private Pflegezusatzversicherung abschließen, wenn meine gesetzliche Kasse mir für alle meine Bedürfnisse ein komplettes Paket schnürt?

Für diesen Teil der Beschwerde mag ich mich nicht festlegen. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass den GKVen sehr enge Grenzen dafür gesteckt werden, welche optionalen Tarife sie den Versicherten anbieten dürfen.

Inwieweit es sich bei der Klage in Karlsruhe um ein Jammern auf allerhöchstem Niveau handelt, darüber wird das Gericht nicht befinden. Die aktuelle Presserklärung der PKVen zum Geschäftsjahr 2007 jedenfalls erweckt den Eindruck von guter Stimmung und satter Zufriedenheit.