Ist die Selbstverwaltung im Gesundheitssystem am Ende?

Was ist los in der Selbstverwaltung der Gesetzlichen Krankenversicherung?

Die Kassenärztlche Bundesvereinigung (KBV) will ab heute mehr Sand ins bürokratische Getriebe streuen – ganz so, als fiele das noch sonderlich ins Gewicht, nach allem was die Krankenkassen und das KV-System selbst an Bürokratie für die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte bereit halten.

Die KBV ruft den Gesundheitsminister an, er solle eingreifen, um die Krankenkassen zu zwingen, mehr Honorar auszuschütten.

Die Gesetzlichen Krankenkassen blockieren aber nicht nur beim Honorar.

In einer Wutrede auf der Sondersitzung der KBV hat der baden-württembergische KV-Vorstandsvorsitzende Norbert Metke darauf aufmerksam gemacht, wo die Kassen in erster Linie blockieren – und was im Streit um die Kohle letztlich gut verdeckt wird: Die gesetzlich vorgesehenen Verbesserungen der Patientenversorgung bspw. zur geriatrischen Rehabilitation werden von den Kassen noch immer nicht finanziert. Ein weiteres Streitthema, die Heilmittelverordnungen für Chroniker und Schwerstkranke, sollen nicht mehr budgetär gedeckelt werden und von der Wirtschaftlichkeitsprüfung ausgenommen werden. Dazu liegen von der GKV-Seite noch keine Vorschläge vor – obwohl der Bundestag bereits vor einem Jahr darüber abgestimmt hat.

Allerdings steht im Versorgungsstrukturgesetz, auf das Metke sich bezieht auch erst der 30.09.2012 als der Termin, an dem ein Vorschlag für Praxisbesonderheiten bzgl. der Heilmittelverordnungen auf dem Tisch liegen muss.

Am Ende bitte Metke „flehentlich“ um ein Eingreifen der Politik.

Da reibe ich mir doch die Augen. Was ist da los? Sonst wird die Politik immer vor die Tür gesetzt. Jetzt wird sie eingeladen. Und warum brandmarken die KV-Fürsten die Blockaden der Kassen erst jetzt so vehement und öffentlich, nachdem sie ihre 3500 Millionen Euro-Forderung nicht erfüllt kriegen? Alles ganz merkwürdig…

Führt sich die so genannte Selbstverwaltung selbst ad absurdum? Brauchen wir doch eine stärkere staatliche Regulierung bspw. durch das Bundesversicherungsamt? Oder gleich eine Nationale Krankenversicherung für alle?

Die KBV, die Selbstverwaltung und ihre Selbstzerstörung

Die Honorarverhandlungen der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sind mit einer Erhöhung der Gesamtvergütung um 270 Millionen Euro, also mit rund 0,9% Honorarsteigerung für alle ärztlichen Disziplinen von der Allgemeinmedizin bis zur Radiologie, zu Ende gegangen.

Da eine Forderung von 3500 Millionen im Raum stand, ist die oberste Vertreterin der Niedergelassenen, die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), extrem unzufrieden – und winselt ob des angeblich so ungerechten Verhandlungsergebnisses, schreit Zeter und Mordio. Die KBV ist sich sogar nicht zu blöd, die Grenzen der Selbstverwaltung zu verlassen, und den Minister Bahr aufzufordern, zu handeln, „wenn Sie ein Interesse an der ambulanten Versorgung haben.“

Durch den Ruf nach der Politik zerstört die KBV die eigenen Grundlagen, das, worauf sie immerzu beharrt: Die Selbstverwaltung.

Entweder es gibt Regeln für Verhandlungen zwischen den Spielern in der Selbstverwaltung (Ärzte und Ärztinnen, Krankenkassen) oder aber die Politik schlichtet und entscheidet. Die KBV spielt Selbstverwaltung nach dem Willkürmodell: Wenn es mir passt, beharre ich auf eine absolute Nicht-Einmischung der Politik. Wenn es mir nicht passt, dann schmolle ich in der Ecke und rufe den großen Gesundheitsminister an. Ein größeres Arnutszeugnis hätten sich die KBV und ihr Chef, Andreas Köhler, nicht ausstellen können.

Inzwischen hat die KBV einen Protest-Aufruf verschickt, der an Lächerlichkeit kaum zu überbieten ist. Hier machen die KBVler Protest-Vorschläge wie: Formlose Briefe an die Krankenkassen nicht zu beantworten, mit den Kassen nur vor morgens 8 und nach abends 8 zu sprechen, keine Bonushefte auszufüllen.

Mehr Schwachfug von Seiten einer überforderten KBV-Führung ist kaum denkbar – Welcher Niedergelassene kann für diese Sachen unter normalen Umständen Zeit erübrigen? Außer für das Bonusheft, für das es Extra-Vergütung gibt…

Mir hat jedenfalls bisher niemand plausibel machen können, wie sich durch ein Mehrhonorar von 3500 Millionen Euro die Qualität der ambulanten Versorgung verbessern lässt, wenn doch die Ärztinnen und Ärzte schon heute klagen, sie hätten zu wenig Zeit für ihre Patienten. Wie kann es angehen, dass mehr Geld gefordert wird, obwohl dafür nicht mehr Leistung erbracht werden kann, weil sämtliche zeitlichen Ressourcen bereits erschöpft sind.

Pussy Riot – Mösenaufstand

Eines fällt mir bei der Berichterstattung über die russischen Punk-Frauen auf, die heute in Moskau ihres Urteils harren: Noch nie habe ich in Funk und Fernsehen gehört oder irgendwo in etablierten Medien gelesen, dass „Pussy Riot“ übersetzt Mösenaufstand heißt…

Sonst wird uns doch immer gesagt, was dieses oder jenes heißt, wenn es sich um einen fremdsprachigen Begriff handelt. Traut sich da jemand nicht? Der englische Begriff darf verwendet werden, aber der deutsche nicht? Was ist da los?

Klar, bei den „Pet Shop Boys“ oder bei „Rage Against The Machine“, um nur zwei Beispiele zu nennen, wird der Name in der Regel auch nicht übersetzt, aber bei politischen Aktionskünstlerinnen?

Bei „Pussy Riot“ ist ja der Name Programm. Diese wichtige politische Botschaft – gerade aus der teils archaisch-patriarchalischen russischen Gesellschaft heraus – wird durch die Art der Berichterstattung unterschlagen. Und wir werden dadurch nicht gerade umfassend aufgeklärt und informiert.

Schade.

Kinder-Tourette

In der Psychiatrie ist das Tourette-Syndrom gut beschrieben, wenn auch noch nicht wirklich gut erklärt: Unwillkürliche, also nicht steuerbare, motorische und/oder verbale Verhaltensweisen, so genannten Tics oder Ticks.

Als Vater zweier Kinder im Alter von vier und sechs Jahren muss ich mich mit akuten Durchbrüchen des Phänomens herumschlagen: „F*** dich“ ist der frischeste Einwurf, neu importiert in die Familie vom Erstklässler. „Du blöder-Sch***ß-K**k-Papa“ ist ein der liebsten Wendungen des Vierjährigen, wenn die Dinge nicht so laufen, wie er das gerne hätte. Für mich ist das Kinder-Tourette, weil ich dann den Kindern gar nicht böse sein kann, wenn sie mich mit Fäusten bearbeiten, treten, die Türen so knallen oder auch sonst die Kontrolle über Worte und Bewegungen nicht mehr ausüben können.

Zum Glück ist Kinder-Tourette so vergänglich wie ein Gewitter, in gewisser Weise ist es ja ein neuronales Gewitter, direkt zwischen den Ohren. Das Gewitter kann zwar kürzer oder länger dauern, aber danach kommt klare, gereinigte Luft und oftmals Sonnenschein – Ruhe und Frieden.

Nochmal: Vergiss Alzheimer!

Ich habe die Rezension dieses Buches von Cornelia Stolze schon einmal angefangen, kann sie aber nun erst verbessern und vervollständigen:

Endlich ein aufklärerisches Werk zu Alzheimer, das sich wunderbar ergänzt mit meinen Erfahrungen als Untersucher im Kompetenznetz Degenerative Demenzen (KNDD). Ein Buch, wie ich es gerne selber geschrieben hätte, :-). Ich wünsche mir, es öffnet vielen Leuten die Augen, lässt Ängste kleiner werden und hilft, die Dinge des Alterns gelassener zu nehmen. Schön wäre auch, wenn dadurch die Versprechungen von Industrie, Wissenschaft und denen, die sich als Mietmäuler zur Verfügung stellen, an jenen abperlen, die insbesondere als Angehörige mit dem Phänomen der nachlassenden Gedächtnisleistung und der nachfolgend eingeschränkten Alltagskompetenz ihrer Lieben zu tun haben.

Ich habe in der AgeCoDe-Kohorte des KNDD bisher ca. 1500 Interviews zur Erkennung von Alzheimer und anderen Demenzen gemacht. Ich besuche alte Menschen (seit 2003, damals >75 Jahre alt) zu Hause, inzwischen das 6. Mal – und ich schließe, nach all den neuropsychologischen Tests, den Gesprächen und Eindrücken aus dem Umfeld der Menschen: Es kann sich bei Alzheimer kaum um eine „richtige“ Erkrankung handeln, gut abgrenzbar von anderen Zuständen bspw. Allenfalls handelt es sich um einen Komplex von Symptomen: Entweder gehören sie zum normalen (Hirn)-Alterungsprozess oder sie treten als sekundäre Phänomene auf, verursacht vielleicht durch einen oder viele kleine Schlaganfälle, eine Depression, eine Schilddrüsenunterfunktion oder durch schlichten Wassermangel, weil alten Menschen das Durstgefühl abhanden kommt. Dass die halbe Welt Angst hat vor Alzheimer, ist ein gelungener Fall von Wissenschaftsmarketing – und darüber schreibt Stolze.

Wertvoll ist dieses Buch auch deswegen, weil die Journalistin nicht davor zurückschreckt, Namen und Adressen der ins Geschäft verwickelten zu nennen. Wiltfang, Hampel, Möller, Bayreuther – einschlägig bekannte Größen der Alzheimer-Forschung in Deutschland werden zitiert und direkt befragt, und entlarven sich dabei häufig selber. So wird öffentlich (auf der Webseite des KNDD) und in anderen Patientenmitteilungen beschönigt, wie gut die Erkrankung inzwischen diagnostiziert werden kann und wie Medikamente bspw. die Heimeinweisung verzögern. Aber in den Forschungsanträgen wird immerzu geklagt, wie wenig wir doch noch über die Ursachen wissen, wie unsicher die bisherigen diagnostischen Verfahren seien, wie wenig wirksam die bisher zur Verfügung stehenden Medikamente…

Insgesamt fasst Frau Stolze das Thema Alzheimer angenehm weit, schaut sich die Sache mit den Alzheiner-Medikamenten an, analysiert die Lobbyarbeit der wissenschaftlichen Fachgesellschaften und benennt Unsauberkeiten hinsichtlich der Verwendung und Vermarktung von Blutproben, die den Patienten im Rahmen wissenschaftlicher Studien abgenommen werden. Wie gesagt: Wertvoll!

Schließlich ein paar kritische Anmerkungen: Das Buch hätte ein etwas besseres Lektorat verdient. Die Autorin wiederholt sich an manchen Stellen. Das scheint ohne Absicht zu geschehen, denn die verschiedenen Stellen sind nicht bezogen aufeinander. Schließlich hätten ein Glossar, ein Stichwort- und ein Namensregister dem Buch zu noch mehr Wert verholfen.

Insgesamt ein wichtiges Buch, denn der Bedarf, die Hintergründe in diesem Bereich etwas auszuleuchten, ist groß.

Liebe Charlotte Frank von der Süddeutschen Zeitung,

in Ihrem Leitartikel vom 02.02.2012 über Rudi Assauer und die Krankheit Alzheimer, die den 67-jährigen offenbar ereilt hat, holen Sie schäumend zum großen Rundumschlag aus: Ihre ignoranten Mitmenschen, tatenlos zuschauende Politiker und unfähige bis desinteressierte Wissenschaften – alle werden von Ihnen abgewatscht. Irgendwie schade, wie Sie Ihre Chance vertun, den wichtigsten Kommentar auf Seite 4 der SZ für ein paar kluge und besonnene Anmerkungen zu einem wichtigen gesellschaftlichen Thema wie Alzheimer zu nutzen.

Schon der Einstieg, der zu „Ausgerechnet Assauer!“ führt, zeigt auf welch schwache Argumente sich ihr Text stützt, der vielleicht aufrüttelnd gemeint war, leider aber sein Ziel krass verfehlt. „Gerade Assauer!“ hätte da stehen sollen. Gerade einer wie er vereint einige wichtige Risikofaktoren auf sich: Gesoffen, geraucht, tonnenweise Fleisch verzehrt. Auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen, ein paar Risikofaktoren für degenerative Gedächtnisentwicklungen sind der Wissenschaft durchaus bekannt.

Außerdem: Wie kommen Sie nur auf die bizarre Idee, die Deutschen würden lieber wegschauen, wenn es um diese Krankheit geht? Genau das Gegenteil ist der Fall. In den letzten zehn Jahren haben die Menschen in Deutschland angefangen, viel zu genau hinzuschauen. Oder woraus sollte sonst die Alzheimer-Angst entstehen, von der sie zurecht schreiben. Es gibt Bücher, Filme, Reportagen auf Papier, in Funk und Fernsehen – die gesamte mediale Armada ist inzwischen gegen die Krankheit und gegen deren Ignoranz in Stellung gebracht worden.

Dazu kommt die Frage, ob es sich überhaupt um eine Erkrankung handelt? Oder warum sind Sie erstaunt, dass es noch immer keine Medikamente dagegen gibt? Bzw. welches technokratisch-mechanistische Verständnis vom Leben offenbaren Sie, wenn Sie davon sprechen, es persifliere unsere Machtlosigkeit, dass es noch keine Arznei gibt. Denken Sie wirklich, wir werden es schaffen, uns alle Varianten des Lebendigen irgendwann vollständig unterzuordnen – und damit die Formel für ewige Gesundheit, das ewige Leben finden?

Wie wäre es damit, wenn wir die Ich-Fixierung etwas lockerten, nicht so selbst-zentriert und ego-lastig auf die Welt und das Leben blickten? Angst vor Alzheimer kann nur haben, wer glaubt etwas verlieren zu können. Klar, ich weiß ja, unser ganzes westliches Leben dreht sich um kaum etwas anderes, als das eigene Ich aufzupumpen – mit beruflichem Erfolg, Geld, Macht, schönen Klamotten, Fernreisen, einer Wohnumgebung, die uns angemessen ist – ingesamt einer Philosophie, die uns vorgibt, wir mögen uns bitteschön selbst verwirklichen. Haben wir uns selbst verwirklicht (Assauer!) kommt der Alzheimer – und zerstört dieses schöne, aufgepunpte Ich wieder. Welche Tragik!

Wenn das nicht ein mephistophelisches Werk ist, dem mit Faustischen Mitteln zu begegnen wäre! Vielleicht würde es jedoch genügen, den Lebensbogen sich schließen zu sehen, sich zu verabschieden in eine eigene Welt und dabei respektvoll behandelt zu werden, egal ob im Pflegeheim oder zuhause, ganz egal, wie das Ding heißt, was uns ereilt: Alzheimer, Parkinson, Depression.

Und schließlich: Zu wenig Langzeitstudien? Wovon sprechen Sie?

Es gibt inzwischen Dutzende von Langzeitstudien in vielen Ländern, unter anderem auch in Deutschland. An einer arbeite ich zufällig mit. Es gibt das Kompetenznetz Degenerative Demenzen (KNDD). Und es gibt das DZNE, das Deutsche Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen. Jährlich 60 Millionen Euro werden hier verbraten. Was wollen Sie mehr?

Ich glaube, Frau Frank, Sie sind da massiv Ihrer eigenen Angst erlegen und die Chefredaktion hat es Ihnen durchgehen lassen. Es ist völlig legitim, die kommentierenden Autorinnen und Autoren über Dinge schreiben zu lassen, mit denen sie stark identifiziert sind. Aber in der Regel gelingt es den Schreibenden, das Thema zu transzendieren und damit allgemeingültiger zu besprechen.

Das hätte ich mir bei Ihrem Beitrag auch gewünscht. – Mal abgesehen von Ihrer ansonsten wenig fundierten Argumentation.

Schauplatz Schlecker – aus der Sicht von 1994

Diesen Text habe ich im Herbst 1994 recherchiert und geschrieben. Das Stück ist im Stadtmagazin Meier in Mannheim/Heidelberg erschienen.

Schauplatz Schlecker: Das Beispiel Mannheim-Schönau

„Furcht muß den Wald hüten.“ Das ist nach den Erfahrungen von Heigold Bien, bis 1994 Betriebsleiterin der Firma Schlecker im Raum Aschaffenburg, das personalpolitische Motto des Drogeriebrachen-Primus. Furcht wird in Schleckerland erzeugt wie in anderen Einzelhandelsgeschäften auch: durch Testkunden, die die Verkäuferinnen und Kassiererinnen mit gezielten Störaktionen ins Schwitzen bringen, durch unangekündigte Kassenprüfungen, durch generelles Mißtrauen. „Haben Sie denn die Nylonstrümpfe, die sie da tragen, auch bezahlt, wo ist der Kassenbon?“ – Solche Fragen gehören zum Verkäuferinnen-Alltag.

Mut, sich solcherlei Unverschämtheiten zu verbitten, haben die Frauen gar nicht oder erst sehr spät. Klaglos spielen die meisten das bittere Spiel der Einzelhandelsketten mit. Anton Schlecker und Konsorten leben gut davon, daß ihre Angestellten für wenig Geld und wenig Lob hinter der Kasse stehen, sich möglichst nie über knoddrige Kunden beklagen und brav die Konservenbüchsen und Cremedosen, Klopapierrollen und Kindertees in den Regalen hin- und herschichten. Die Erfolgsbilanz des Familienunternehmens liest sich wie ein Märchen. Zweistellige Umsatzzuwächse werden seit Jahren mit knallharten Planvorgaben aus den Filialen herausgepreßt, der Ertrag liegt über dem Branchenschnitt, 600 Märkte wurden in Neufünfland aus dem Boden gestampft, finanziert ohne eine einzige Kreditmark der Banken.

Überdurchschnittlich viele Schlecker-Angestellte sind alleinstehende Frauen mit Kindern, die angesichts ihrer sozialen Situation wenig andere Chancen haben, nach dem Schlecker-Job wie nach einem Strohhalm greifen. Nicht umsonst tönt es hin und wieder stolz aus der Firmenzentrale in Ehingen, Schlecker schaffe seit über zehn Jahren kontinuierlich Arbeitsplätze, insbesondere im gesellschaftlich stark nachgefragten Bereich der Teilzeitarbeit für Frauen. Unerwähnt bleibt bei dieser Selbstbeweihräucherung, in welcher Unwissenheit die zukünftigen Angestellten über ihre verbrieften Rechte gehalten werden, wieviele nicht einmal das Ende der Probezeit erreichen und mit oft haarsträubenden Begründungen wieder entlassen werden.

„Ich bin noch nicht so lange hier“ – dieser Satz fällt oft in den Geschäften. Neben der Strategie, Vertrauen und Austausch zwischen den Beschäftigten zu verhindern, gehören Löhne unter Tarif und das Herausdrängen unliebsamer Mitarbeiter zu Schleckers Erfolgsrezept. Pater Otto Ignaz Schabowicz, Seelsorger bei der katholischen Arbeitnehmerbewegung in Mannheim macht seinem Ärger mit für einen Kirchenmann ungewöhnlich deutlichen Worten Luft: „Das, was wir soziale Marktwirtschaft nennen, ist in Gefahr, wenn die Humanität so schwer verletzt wird wie in diesem Fall.“

Seitdem die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) dem Dauersünder Schlecker endlich einen Betriebsrat verpassen möchte, um die schlimmsten Auswüchse unternehmerischer Willkür zu ahnden, ist Gewerkschaftsseketärin Mia Lindemann zwischen den einzelnen Filialen im Rhein-Neckar-Raum viel unterwegs. Sie klärt über Rechte und Tarifeingruppierungen auf, wirbt Mitglieder und lädt zum sonntäglichen Erfahrungsaustausch bei Kaffee und Kuchen ein. Über mangelnde Resonanz kann sie nicht klagen. „In einigen Filialen haben die Frauen Angst. Aber viele empfinden es als Befreiung, wenn sie sich mitteilen können und von anderen ähnliche Geschichten über die Verkaufsleiterin xy hören.“

Anton Kobel, Geschäftsführer der HBV Mannheim/Heidelberg meint: „Gäbe es einen Betriebsrat, könnten Personalkontrollen, wenn überhaupt, nur unter dessen Aufsicht stattfinden.“ Und genau darauf steuert die Gewerkschaft derzeit hin. Lohnnachzahlungen hat man juristisch bereits durchgesetzt, und auch der Betriebsrat wird im nächsten Frühjahr kommen, da ist sich Mia Lindemann sicher: „Auch Schlecker wird in Zukunft die Mindeststandards einhalten müssen.“
Doch nicht alle sehen die Zustände in den Drogeriefilialen so verbissen. So manche Kundin meint, die Frauen sollten froh sein, überhaupt einen Job zu haben. Eine Mannheimer Laden-Chefin stößt ins gleiche Horn und möchte die Beschäftigten nicht aus der Verantwortung entlassen, was ihre Arbeitsverträge angeht: „Wer nicht beherzt auf seinen Wert als Arbeitskraft besteht, macht sich mitschuldig.“ Eine Heidelberger Filialleiterin nimmt es mit Humor, daß sie ihr Geschäft über die Telefonzelle gegenüber abwickeln muß, weil es im Laden selbst keinen Anschluß gibt. Auf dem Postamt kauft sie eine Telefonkarte, um dann tagein, tagaus über eine vielbefahrene Hauptstraße zu sprinten und ihre Bestellungen abzuwickeln.

Daß nicht gleich ein Überfall passieren muß wie im letzten Jahr in Mannheim-Schönau, weil es weder Alarmtasten noch Telefon in den Filialen gibt, hat jetzt auch die Führungsetage kapiert und kontrolliert im gesamten Rhein-Neckar-Kreis die Telefonbuchsen auf Anschlußfähigkeit. Auf der Schönau schiebt derweil noch der Aufpasser eines privaten Wachsdienstes vor der Ladentüre seine Dienst. Pater Schabowicz bringt die Notwendigkeit nicht nur der HBV-Kampagne auf den Punkt: „Niemand kann in einem Fall wie diesem tatenlos zusehen.“ Auch die Kundinnen und Kunden nicht.