Eine funktionelle Störung diagnostiziert der Arzt dann, wenn organische Befunde durch gezielte Untersuchungen ausgeschlossen sind. Kann der Körper nicht für das körperliche Leiden verantwortlich gemacht werden, stehen unmittelbar zwei Vermutungen im Raum: Entweder der Arzt hat nicht korrekt diagnostiziert oder unsere seelische Belastung ist so groß, dass sie sich in körperlichen Symptomen ausdrückt. Entweder die Diagnostik muss fortgesetzt werden oder die Symptome sind psychosomatisch, d.h. durch psychosoziale Faktoren verursacht und aufrecht erhalten. Beide Vermutungen fordern die Beziehung zwischen Behandler und Behandelten auf besondere Weise heraus. Während der Arzt vorsichtig die psychosoziale Erklärung erwägt, weisen wir häufig diese Unterstellung zurück: Glaubt der Doktor, wir seien verrückt?
Beharren wir nun auf unserer organischen Ursachenüberzeugung, droht eine lange Kette wiederholter Arztbesuche: Doktor-(S)hopping. Auf der Suche nach einer organischen Ursache für die körperlichen Beschwerden werden wir als Patienten mit funktionellen Beschwerden häufiger untersucht, stärker invasiv behandelt und unter größerem Kostenaufwand laboranalytisch vermessen als der durchschnittliche Patient einer Praxis. Und nur selten kommt es auf diese Weise zu einem körperlichen Befund. In der Praxis eines Spezialisten, der unsere Symptome begutachtet, ist jeder zweite Patient von funktioneller Symptomatik betroffen – beim Kardiologen, beim Internisten oder auch beim Orthopäden.
Obwohl uns also die Nachricht, dass medizinisch keine körperliche Schädigung feststellbar ist, zunächst beruhigen sollte, tritt genau das Gegenteil ein. Suchen wir weitere Spezialisten auf, ohne dass einer von ihnen eine plausible Begründung vorlegt, sind wir beunruhigter als zuvor.
Morgen: Symptome ohne Befund – eine lange medizinische Tradition