Symptome ohne Befund, medizinhistorisch gesehen

Funktionelle Beschwerden sind medizingeschichtlich eng an den Begriff der Hysterie gekoppelt. Im antiken Rom und Griechenland geprägt, galt die im Körper wandernde Gebärmutter (griech.: Hystera) als Ursache für ansonsten organisch nicht erklärbare Symptombildungen im Kopf-, Hals-, Kiefer- oder Nackenbereich, aber auch als Ursache diverser Wahrnehmungsstörungen.

Wie Hans Morschitzky (2000) in seiner Überblicksarbeit schreibt, verwandeln sich die Erklärungsmodelle für derlei Körperbeschwerden entsprechend der Zeit. Im Mittelalter wurden hysterische Symptome mit der Besessenheit von Dämonen assoziiert. Während die Antike eher einen Mangel an Sexualität und Lust mit diesen Symptomen verband, verkehrte das christlich geprägte Mittelalter diesen Ansatz in sein Gegenteil: Die Besessenheit durch den Teufel bot den Betroffenen vermeintlich eine Entlastung für das als sünd- und schuldhaft erlebte Begehren.

Nach der Zeit der Hexenverfolgungen vertrat der englische Arzt John Sydenham im 17. Jhd. als erster die Ansicht, seelische und psychosoziale Faktoren seien Auslöser für die so genannten hysterischen Symptome. Der Pariser Arzt Charcot vermutete hinter der Hysterie eine neurologisch-organische Erkrankung, bedingt durch neuromuskuläre Übererregung. Sein Schüler Janet entwickelte das Konzept der Dissoziation, um hysterische Zustände zu erklären. Die mit diesen Zuständen einher gehenden Symptome entstanden nach Janet durch die Abspaltung (Dissoziation) von Aufmerksamkeits- und Bewusstseinsprozessen.

Laut dem US-amerikanischen Medizinhistoriker Edward Shorter (1992) war die Hysterie eine in der zweiten Hälfte des 19. Jhds. weit verbreitete Störung. Sie drückte sich in epilepsie-ähnlichen Anfällen, Pseudohalluzinationen, Anästhesien, Lähmungen, Ohnmacht- und Atemnotanfällen, Schmerzen, Seh- und anderen funktionellen Störungen aus.

Das Freudsche Hysteriekonzept lieferte das erste integrierte, psychologisch-dynamische Modell, hysterische Phänomene zu erklären. Dabei verzichtete der Wiener Arzt auf die (nicht belegbaren) Annahmen, mit denen auch Charcot und Janet arbeiteten, dass derlei Symptome neurologischen Ursachen zuzuschreiben wären. Nach den ersten Studien zur Hysterie verlautbarte Freud, äußere Ereignisse im frühen Kindesalter (Traumatisierungen) wären für derlei Symptombildungen verantwortlich. Diesen Standpunkt verließ Freud im Zuge weiterer Forschungen und postulierte den innerpsychischen Konflikt als Ursache der körperlichen Beschwerden: Im Zuge des Konflikts zwischen den psychischen Instanzen (Ich, Es, Über-Ich), der abgewehrt und verdrängt werden musste, entstanden die hysterischen Symptome. Triebimpulse, die unterbunden werden sollten, und die resultierende Abwehr verschmolzen in den körperlichen Symptomen zu einer Kompromisslösung. Der Patient zog aus dieser Lösung einen doppelten Krankheitsgewinn: Er blieb von unerwünschten Triebimpulsen frei (primär) und die Umwelt schonte ihn aufgrund der Krankheit (sekundär).

Medizinhistoriker Shorter verweist auf eine wichtige Rahmenbedingung, in welcher sich die Sicht der jeweiligen Zeit auf Symptome dieser Art ausdrückt: Das herrschende medizintheoretische Paradigma. Führte das Reflexzonenparadigma zu eher motorischen Symptomen, erzeugte der hirnorganisch-neurologische Ansatz in der Medizin eher sensorische Symptome bei den Patienten. Mit Freud löste das psychologische Paradigma den neurologischen Ansatz ab. Die Patienten präsentieren vermehrt Symptome ähnlich derer, die mit organpathologisch belegbaren Veränderungen verknüpft sind, denn sie stehen dem psychischen Paradigma skeptisch gegenüber.

Die psychodynamische Sicht auf nunmehr so genannte psychosomatische Erkrankungen bzw. hysterische Neurosen prägte bis in die 1970er Jahre die diagnostischen Manuale: Die von der WHO herausgegebene International Classification of Disease (ICD) orientierte sich bis zu ihrer 9. Revision, die in Deutschland bis ins Jahr 2000 gültig war, an Freudschen Konzepten. Das von der American Psychiatric Association verantwortete Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) enthielt bis zur 3. Revision 1980 „Hysterische Neurosen“ (vom Konversions- und vom Dissoziationstyp) als diagnostische Kategorien. Die psychoanalytischen Begriffe Hysterie und Neurose bildeten also das gemeinsame Dach, unter dem sich diese Beschwerdebilder erfassen ließen.

Weil der Begriff Hysterie als unpräzise und theoretisch vorbelastet galt, entschieden sich die Verantwortlichen der dritten Überarbeitung, rein phänomenologische Beschreibungen in Diagnosen zu gießen, um ein Ordnungssystem für die nun so genannten „Somatoformen Störungen“ zu verabschieden. Dieses System fasst seitdem bestimmte Symptomkonstellationen zu abgegrenzten Krankheitsentitäten zusammen. Es entstanden somatoforme Beschwerdebilder wie das Konversionssyndrom, die Hypochondrie und die Somatisierungsstörung. Die so genannten funktionellen Beschwerden bleiben im DSM aussen vor.
In der ICD-9 wurden organisch unerklärte Symptome als hysterische Neurosen oder als körperliche Funktionsstörungen psychischen Ursprungs abgebildet. Der seitdem gültige ICD-10 beschränkt sich ähnlich dem DSM auf die deskriptive Krankheitsklassifikation, um keinerlei Annahmen über den Ursprung der Symptome in die Diagnose aufzunehmen. In Anlehnung an das DSM fanden die Somatoformen Störungen Eingang in das Klassifikationssystem. Im Gegensatz zum DSM berücksichtigt die ICD-10 jedoch auch weiterhin funktionelle Störungen ohne organische Ursachen – als somatoforme autonome Funktionsstörungen des jeweiligen Organsystems.

Literatur:
Morschitzky H (2000): Somatoforme Störungen. Springer-Verlag, Wien New York.
Shorter E (1992): Moderne Leiden – Zur Geschichte der psychosomatischen Krankheiten. Rowohlt-Verlag, Reinbek.

Morgen: Patienten und Ärzte – Das verschobene Machtgefüge