Ohne Zweifel hat sich unser Verhalten als Patienten in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert: Wir sitzen im Schnitt häufiger in einer Arztpraxis. Wir gehen wegen leichterer Beschwerden in die Sprechstunde. Wir sind weniger bereit als frühere Generationen, ein aus dem Gleichgewicht geratenes körperliches Befinden längere Zeit zu tolerieren. Wir achten stärker auf die Signale unseres Körpers, verstärken sie damit allerdings zusätzlich, weil sich die körperlichen Reaktionen in unserem Bewusstsein festsetzen und unsere Aufmerksamkeit fesseln.
Norbert Donner-Banzhoff, in Marburg gleichermaßen als Wissenschaftler und als Hausarzt tätig, erklärt die herab gesetzte Schwelle für einen Arztbesuch mit einer veränderten Sozialisation: „Auffällig ist das am Krankheitsverhalten von Kindern. Schon kleine, banale Störungen oder Wehwehchen veranlassen die Eltern, mit ihren Kindern einen Arzt aufzusuchen.“ Auf diese Weise lernt der Nachwuchs bereits in jungen Jahren, dass körperliches Unbehagen an einen Arztbesuch gekoppelt ist – ohne vorher von den Eltern Methoden und Mittel zur Selbsthilfe zu bekommen.
Veränderte Familienstrukturen tun das Übrige. Weil die Familien weniger Kinder zählen und diese Kinder selten gemeinsam mit Gleichaltrigen aufwachsen, sind die Immunsysteme anfälliger und neigen zu Überreaktionen. Weil die Familienverbände kleiner geworden sind und kaum noch drei Generationen unter einem Dach leben, ist auch das großelterliche Erfahrungswissen nicht unmittelbar verfügbar. Diese sozialen Umstände führen zu einem Mangel an körperlicher Selbstkompetenz – und zu einer erhöhten Inanspruchnahme von Ärzten.
Dem steht eine Zunahme an Wissen und Aufgeklärtheit seitens der Patienten gegenüber. „Die Patienten treten heute selbstbewußter und informierter auf“, stellt Donner-Banzhoff fest. Der Widerspruch zur soeben konstatierten Verunsicherung ist nur ein scheinbarer. Um nämlich unsere Verunsicherung zu kompensieren, nutzen wir alle verfügbaren Informationsquellen: das Internet, Ratgeberbücher oder Gesundheitssendungen des Fernsehens.
Mit unserem gesammelten Wissen treten wir dem Hausarzt gegenüber. Damit ist das klassische Verhältnis zwischen dem Halbgott in Weiß und dem Empfänger göttlicher Ratschläge zum historischen Auslaufmodell geworden. Weil in der so gestalteten Arzt-Patient-Beziehung der Expertenrat immer auch durch den Patienten angezweifelt werden kann, ergibt sich daraus eine weitere Ursache für verändertes Patientenverhalten: Wir brauchen einen, zwei oder drei weitere Ärzte, um eine bereits erfolgte Diagnose zu bestätigen – oder zu widerlegen.
Die Kombination aus weiter Verbreitung und mangelnder organischer Erklärung der Beschwerden resultiert in einem weiteren Phänomen: Der Etablierung eines öffentlichen Diskurses über die möglichen Quellen der Leiden. Dabei spielen Störquellen außerhalb des Körpers eine Rolle (z.B. Elektrosmog, Erdstrahlen). Oder der symptomauslösende Wirkstoff wird innerhalb des Körpers vermutet (z.B. Amalgam-Füllungen, belastete Nahrung). Beeinflusst durch Medien, Juristen, interessierte ärztliche Spezialisten und die Lobby der Betroffenengruppen verselbstständigen sich die Symptomkonstellationen und werden in den Rang von eindeutig abgrenzbaren Krankheitsentitäten erhoben. Diesem Druck geben Gerichte, Rententräger und Krankenkassen nach und nehmen die Syndrome in den offiziellen Krankheitskatalog auf.