Einen weiteren Grund für die starke Präsenz funktioneller Beschwerden im Versorgungsgeschehen diskutiert Norbert Hartkamp, Chefarzt an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Stiftungsklinikum Mittelrhein in Boppard: „In unserer Kultur hat die Bereitschaft des Einzelnen abgenommen, Schmerz zu ertragen.“ Schmerz und körperliches Leiden sind stark soziokulturell überformt. Die Individuen der postmodernen Industriegesellschaften akzeptieren nur die Abwesenheit jeglicher unangenehmer Empfindungen als wünschenswerten Wohlfühlzustand. Erlebte Beschwerden und daraus resultierende Krankheitsängste werden deswegen möglichst frühzeitig durch einen Besuch beim Experten zu klären versucht.
Die veränderte Einstellung den selbst erlebten Schmerzen gegenüber, geht nach Hartkamp einher mit dem Verschwinden körperlicher Versehrtheit in der Öffentlichkeit. Zur gesellschaftlichen Wirklichkeit in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts gehörten bspw. Körperschäden wie amputierte Beine, Arme, Hände und Finger als Kriegsfolgewirkungen. Sie waren selbstverständlicher Teil unserer Wahrnehmung und beeinflussten unsere Vorstellungen dessen, was „normal“ und „akzeptabel“ und individuell tolerierbar ist.
Das ausgeklügelte und technisch hoch gerüstete Gesundheitssystem führt offenbar zu einem Paradoxon. Es verlängert unser Leben, drängt den Schmerz durch Tabletten, Spritzen, Nadeln und Massagen zurück und findet immer neue Wege, bisher Unbehandelbares zu behandeln. Gleichzeitig kommt der Schmerz als funktionelle Beschwerde durch die Hintertür zurück, weil ein schmerzfreies Leben der menschlichen Natur kaum Genüge zu tun scheint – als habe unser Körper das Bedürfnis, das Phänomen Schmerz in die Zukunft zu retten – gegen den Anspruch von Wissenschaft und Forschung, ihn aus unserer Wahrnehmung zu verbannen.
Darüber hinaus haben wir auch die Sicht auf unseren Körper den postmodernen Erfordernissen angepasst: Individuelle Verantwortung für einen Körper, der wie eine Maschine funktioniert. Deren Einzelteile können mit Viagra, Silikon oder Botulin individuell optimiert werden. Skalpell und Fettabsaugpumpe stehen für eine Generalüberholung zur Verfügung. Zudem zerlegt die Medizin der Apparate das körperliche Geschehen in kleine, analysierbare Einheiten. Sie verspricht genaue Befunde und versäumt es, darauf hinzuweisen, dass es sich um Wahrscheinlichkeitsaussagen handelt, die zutreffen können – oder auch nicht. Als Patienten verinnerlichen wir das mechanistische Selbstbild und tragen die damit verbundenen Erwartungen an Heilung und Verbesserung unseres Zustandes in die Praxis unseres Arztes. Entsprechend groß ist die Enttäuschung, wenn die Beschwerden nicht verschwinden.
Gleichwohl sind wir inzwischen alle überzeugt, dass jeder seines eigenen Körpers Gesundheitsschmied ist – entweder durch die Vermeidung individueller Risiken (Rauchen, Bewegungsarmut, Fehlernährung) oder durch die Inanspruchnahme von Vorsorgeprogrammen und Reihenuntersuchungen. Die Ergebnisse bestätigen das: Wir leben gesünder, sportlicher, körperbewusster. Und durch die Fortschritte der Medizin leben wir länger.
Den Körper nur als Maschine zu betrachten, deren Daten wir lesen und interpretieren, die wir gesund erhalten und optimieren können, stärkt unseren Glauben, alle Abläufe liessen sich steuern und regeln. Unangenehmer Weise zeigt uns unsere körperliche Wirklichkeit, wie sehr wir damit einer Illusion erliegen: Krankheit kommt, so oder so, und meistens auf eine Weise, wie wir sie nicht vorher sehen konnten.
Funktionelle Beschwerden sind der beste Beleg dafür.