Ein großer Anteil psychosomatisch-funktioneller Erkrankungen in Hausarzt- und Spezialistenpraxis erklärt sich durch die zeit- und kostenintensive Ausschlussdiagnostik. Ein bildgebendes Verfahren hier, ein Laborwert da, eine Darmspiegelung in dieser Praxis, ein Muskelbelastungstest in einer anderen. Einerseits wollen die Behandler wegen des eigenen Haftungsrisikos sicher gehen, nicht doch etwas übersehen zu haben. Andererseits erscheinen organisch unerklärte Symptome im Gewand bekannter körperlicher Erkrankungen: Eine ähnliche Symptomkonstellation von Unterbauchbeschwerden und unregelmäßigem Stuhlgang führt organisch erklärt bspw. zur Diagnose eines Morbus Crohn. Findet der Arzt keine andere organische Ursache, bspw. eine Milchsäureunverträglichkeit, heisst die Kategorie Reizdarmsyndrom.
Das ärztliche Vorgehen ist wenig vertrauenswürdig, denn die Symptome erscheinen als diagnostische Kippfiguren. Je nach eigenem Fachgebiet stellt der Untersucher bestimmte Symptome einer Konstellation in den Vordergrund und rückt die anderen in den Hintergrund. Auf der Basis derselben Symptome (Muskelschmerzen, Müdigkeit und Kopfschmerzen) entscheidet der Rheumatologe, es liege ein Weichteilrheumatismus (Fibromyalgie) vor, während der Neurologe eher ein Chronisches Erschöpfungssyndrom erkennt (vergleiche Tabelle 1).
Britische Untersuchungen aus den letzten Jahren belegen diesen Eindruck: Zwischen 30% und 70% aller Patienten, die in der rheumatologischen Praxis ein Fibromyalgie-Syndrom bescheinigt bekommen, erhalten in einer gastroenterologischen Praxis die Diagnose Reizdarmsyndrom – und umgekehrt. Eine Diagnose erlaubt somit eher Rückschlüsse auf das Fachgebiet des diagnostizierenden Arztes als auf den körperlichen Zustand des Patienten.
Tabelle nach Wessely ea. 1999 (++ charakteristisch für Syndrom, + assoziiert mit Syndrom)
Der so eingeengte Blick und die Vielzahl der Erklärungen, welche die einzelnen Fachleute anbieten, verwirrt die Patienten. Selten sind die Kollegen einer Meinung. Jeder Spezialist offenbart eine eigene Sicht auf die präsentierten Symptome. Entsprechend variabel fallen die Therapievorschläge aus. Wer hat denn nun recht, fragen wir uns anschliessend berechtigt und mit wachsender Sorge. Jeder weitere Arztbesuch nämlich, der nur eine neue Diagnose, aber keine Erklärung und schon gar keine Besserung der Symptome zustande bringt, frustriert uns zusätzlich. Die Zweifel an den Ärzten wachsen. Umgekehrt beginnen die Ärzte über uneinsichtige, querulatorische Patienten zu klagen, deren Sehnsucht nach einer organischen Erklärung für die Beschwerden sie nicht befriedigen können.
Dabei stecken die Mediziner in einem aktuell kaum auflösbaren Systemzwang. Sie wissen um die psychosozialen Einflüsse, welche die Beschwerden gestalten. Sie sind sich dessen bewusst, dass sie sich die Zeit nehmen müßten, länger mit dem Patienten zu reden. Weil das Abrechnungssystem jedoch körpermedizinische Diagnostik und Therapie favorisiert, und dem Gespräch mit dem Patienten nur wenig Raum gewährt, bleiben wichtige Fragen zur besseren Erklärung der Symptome offen. Dem Arzt bleibt nur die Wahl zwischen zwei unerfreulichen Optionen: Entweder er sucht das Gespräch und ruiniert damit seine Existenz. So der Fall in vielen Hausarztpraxen, die auf Umsätze verzichten, wenn sie sich den sonstigen Sorgen und Nöten der Patienten zuwenden. Oder der Arzt behelligt die Patienten unnötiger Weise mit wiederholter Körper-Diagnostik und verschreibt Medikamente (z.B. Schmerzmittel), um die akuten Beschwerden zu lindern. Damit hat er sich zwar ökonomisch abgesichert, aber den Patienten keineswegs optimal versorgt – denn die möglichen Ursachen der Beschwerden bleiben weiter verborgen.