Ende der 1990er Jahre entwickelte der Tübinger Psychologe Niels Birbaumer ein computergestütztes Gedankenübersetzungsgerät. Das Gerät eröffnete Menschen mit dem Locked-In-Syndrom die Möglichkeit, wieder mit der Außenwelt zu kommunizieren, zu schreiben, das Licht im Zimmer an und aus zu schalten. Aus Anlass des Filmstarts von „Schmetterling und Taucherglocke“ (wieder)-veröffentliche ich ein Gespräch mit Birbaumer (Psychologie Heute 11/98) über die Neuroprothese, die dahinter stehende Lerntheorie und den Konstruktivismus.
Teil 3
Zettmann: Wie funktioniert das technische System, an das Sie die Patienten anschließen?
Birbaumer: Das EEG kommt als Gleichstromveränderung an einem speziellen Analog-Digital-Wandler an. Dort wird es auf digitale Einheiten zerlegt. Damit kann der Computer dann weiter rechnen.
Z: Wie viele Daten produziert das EEG in der Sekunde?
Birbaumer: Das hängt von der Digitalisierungsrate ab. Im Moment muß der Rechner pro Sekunde 1000 Daten vom Hirn verarbeiten. Dieselbe Datenmenge entsteht an den Elektroden am Auge. Das ist nicht soviel, das Problem ist die Geschwindigkeit. Sie müssen es dem Patienten in Echtzeit und in leicht faßlicher Form zurückmelden. Sie müssen die Daten filtern und glätten, denn das EEG produziert eine Menge Rauschen. Deswegen ist es so schwierig, die Selbstkontrolltechnik zu erlernen. Um das zu forcieren, verwenden wir Algorithmen, die die Leistungen der Patienten künstlich verbessern. Bei einem etwaigen Unterschied von 2 Mikrovolt meldet der Computer bereits 3 erreichte Mikrovolt zurück. Dann hinkt das Gehirn des Patienten ein wenig hinterher, ohne dass das zu extrem sein darf, weil das Gehirn das ansonsten erkennt und ermüdet. All das muß in Echtzeit passieren und erfordert sehr schnelle Rechner.
Z: Was kostet die gesamte mobile Einheit?
Birbaumer: Alles in allem kostet die Einheit DM 30000. Ein Gerät, mit Hilfe dessen über Muskeln kommuniziert werden kann, ist in etwa genauso teuer. Das ist der Preis für solche Neuroprothesen. Das zahlt die Krankenkasse über die Pflegeversicherung.
Z: Wie viele Patienten kämen in Frage?
Birbaumer: Es gibt keine Zahlen, denn die Diagnose des Lock-In-Syndroms alleine ist schon ein Problem. Wie kommen sie dahinter, dass der Mensch noch alles versteht, wenn der Mensch ihnen kein Signal geben kann? Wir wissen von rund 5000 bis 6000 ALS-Erkrankungen. Stastisch müßten es 100000 sein, die diese Erkrankung haben, sei es zu Hause, auf Intensivstationen, in Heimen. Sicherlich sterben sehr viele. Dennoch muß die Zahl groß sein, aber niemand will sie wirklich wissen.
Z: Sie testen ihre Geräte auch mit studentischen Versuchspersonen. Wie fasziniert sind die Testpersonen von der Apparatur?
Birbaumer: Anfänglich sind sie schon sehr fasziniert. Studenten und andere Versuchspersonen beteiligen sich gern. Aber es ist so wie mit einem Computerspiel. Sie kaufen sich ein Computerspiel, sie machen es drei Tage, dann legen sie es weg, weil es langweilig geworden ist. Das ist typisch für Biofeedback-Anordnungen. Die sind anfänglich interessant, dann merkt man, es bringt nicht viel, dann legt man es wieder weg. Die Motivation hält bei Normalpersonen nicht lange an. Nach ein paar Sitzungen müssen wir denen schon sehr viel Geld geben, damit sie weitermachen. Bei Patienten ist die Situation anders, die versprechen sich ja etwas davon.
Z: Welche Rückmeldungen bekommen sie von den Patienten, wenn sie sie in die Lage versetzen, wieder mit der Außenwelt in Verbindung zu treten? Wie motiviert sind die Patienten, das Training auf sich zu nehmen?
Birbaumer: Damit sprechen sie ein heikles ethisches Problem an. Es ist so, dass die meisten Patienten, die solche Krankheiten haben, bevor sie beatmet werden, rechtlich entscheiden können, ob sie weiterbeatmet werden wollen oder nicht. Die meisten Patienten entscheiden sich unter dem Einfluß der Ärzte oder der Angehörigen nicht für das Weiterleben. D.h. wir haben hier eine relativ selegierte, kleine Gruppe von Menschen, die sich entweder unter unserem oder anderem Einfluß entschieden hat, sich beatmen zu lassen und weiter zu leben, auch in diesem gelähmten Zustand. Das sind also schon Menschen, die eine extrem hohe Überlebens- und Motivationsfähigkeit haben. Die Mehrheit entscheidet sich für den Tod, meiner Meinung aufgrund falscher Informationen und leichtfertigem Umgang mit diesem Problem. Deswegen haben wir Patienten, die hoch motiviert sind, wieder mit der Umgebung zu kommunizieren. Die haben auch ihre Tiefs wie wir alle. Es gibt Studien, die den psychischen Zustand, die Depression dieser Patienten messen. Und sie unterscheiden sich nicht von einer normalen Kontrollgruppe, die sind wie sie und ich. Obwohl sie beatmet über Jahre in einem Stuhl sitzen und sich nicht mehr bewegen können sind diese Menschen nicht depressiver als sie.
Das wird immer übersehen, wenn man mit den Leuten redet. Wenn man das nicht kennt, macht man sich natürlich nur furchtbare Vorstellungen, denkt sich, was das wohl für ein grauenhafter Zustand ist. Der Mensch gewöhnt sich an vieles, so auch an das.
Z: Welche weiteren psychischen Effekte resultieren aus den Biofeedback-Anordnungen?
Birbaumer: Ein Effekt des Selbstkontrolltrainings, den ich nicht beweisen kann, weil wir viel zu wenige Fälle haben, scheint mir, dass die Patienten munterer, aktiver werden, dass sie stärker mit der Umgebung interagieren. Bei der Epilepsie konnten wir zudem zeigen, dass es nicht nur zu einer Reduktion der Anfälle kommt, sondern dass als positiver Begleiteffekt der IQ um bis zu 15 Punkte ansteigt. Als Nebeneffekt des Selbstkontrolltrainings werden andere Gehirnfunktionen positiv beeinflußt.
Z: Wie reagieren ihre medizinischen Kollegen auf ihre Ergebnisse?
Birbaumer: Sie wissen wie das in der Wissenschaft ist, gerade wenn sie Psychologe sind: Sie müssen das einem medizinischen Kollegen lückenlos nachweisen, am besten mit einer Doppelblindstudie – und das können wir nie.
Z: Werden ihre Ergebnisse nicht für glaubwürdig gehalten?
Birbaumer: Doch, die Mediziner glauben mir jetzt. Die glauben auch an das Epilepsie-Ergebnis, deswegen setzen sie die Biofeedback-Technik zur Anfallsvermeidung trotzdem nicht ein. Auch andere Trainingsmaßnahmen für verschiedenste Erkrankungen werden nicht verwendet, obwohl es viel billiger wäre als das Leiden konventionell einzudämmen. Doch das interessiert niemanden.
Z: Woran liegt das?
Birbaumer: Das Hauptproblem ist, dass die medizinischen Kollegen uns nicht verstehen und umgekehrt die Psychologen die Mediziner nicht verstehen, weil sie zwei völlig verschiedene Sprachen sprechen. Die Idee, dass ein biologisches Substrat wie das Hirn oder ein Muskel so funktioniert wie das Verhalten, erschließt sich einem Mediziner nicht. Umgekehrt ist es nicht anders: Welcher Psychologe interessiert sich für das Gehirn? Welcher Psychologe hat ein wirkliches Verständnis von organischen Erkrankungen? Die laufen beide nebeneinander her. Doch wenn sie sich umschauen: Was machen Psychologen? Psychotherapie, Partnerschaftsprobleme, Alltagsprobleme. Um ernsthafte Erkrankungen, für die die Psychologie durchaus Lösungen zu bieten hat, kümmern sich Psychologen nicht. Wir haben Schmerztherapien entwickelt für verschiedenste Schmerzzustände, wir haben für rein organische Erkrankungen, für Skoliose und Rückenmarksverkrümmungen Techniken entwickelt. Das interessiert keine Psychologen. Das nehme ich den Psychologen viel übler als den Medizinern. Wenn Mediziner das hören, sagen die wenigstens, das ist toll. Aber machen mußt du das selber, denn wir verstehen nichts von der Lernpsychologie. Ich würde es gern machen, aber ich brauche einen Psychologen dazu. Und die sagen dann zu mir, das interessiert uns nicht, wir behandeln Partnerschaftsprobleme. Deswegen bin aus dem Verein ausgetreten und will mit denen nichts mehr zu tun haben. Die Psychologen wissen nicht, wozu sie da sind, was ihre gesellschaftliche Funktion ist.
Finden sie mir einen Psychologen, der die Lernprinzipien noch kennt. Für die Multiplikation dieser Sache sind die Psychologen absolut essentiell. Mediziner verstehen nur die Lernprinzipien nicht. Beibringen kann man das im Prinzip jedem, aber damit umzugehen, das Fingerspitzengefühl entwickeln, wann kann ich eine Shaping-Prozedur anwenden…
Z: Beschäftigt sie als Psychologe der Gedanke, welche Auswirkungen direkte Schnittstellen auf die menschliche Identität haben könnten?