Lebensqualität bei ALS

Im Deutschen Ärzteblatt erschien vor kurzem eine Studie zur Lebensqualität von Menschen mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS), einer degenerativen Muskelerkrankung. Im Endzustand der Erkrankung kann der menschliche Körper keinerlei Eigenbewegung mehr ausführen. Die Patienten müssen künstlich beatmet werden. Das Hirn ist vollständig eingeschlossen, locked-in.

Ich habe anlässlich des Filmstarts von “Schmetterling und Taucherglocke” Ende März eine Interviewserie mit Niels Birbaumer (Locked-In-Syndrom – das eingeschlossene Hirn) veröffentlicht, der ALS seit Jahren erforscht und auch an der aktuellen Studie beteiligt war.

Das zentrale Ergebnis: Die Lebensqualität aus der Innensicht der Betroffenen ist nicht schlechter als die anderer Menschen auch. Sie sind auch nicht depressiver.

Allerdings geben natürlich nur die Leute Auskunft, die sich bspw. durch eine Beatmungsmaschine am Leben erhalten lassen. Die anderen sind entweder bereits verstorben bzw. verweigern sich der sicherlich anstrengenden Befragung. Die Verzerrung in der Auswahl der Patienten könnte eine Ursache dafür sein, dass die Betroffenen ihre Lebensqualität und ihre Stimmung als ganz gut einschätzen.

Die Studie gebietet es dennoch, innezuhalten und sich vor vorschnellen Einschätzungen über das Befinden von Schwerstkranken zu hüten, die nicht mehr in der Lage sind, ihre Gefühle ohne weiteres mitzuteilen.

Auch Menschen mit Demenz erleben wir als kaum noch zugänglich. Auch sie sind in einem bestimmten Stadium der Krankheit nicht mehr in der Lage, Mitteilungen über ihr Innenleben zu machen. Das sollten wir Außenstehenden aber nicht dahingehend interpretieren, dass in diesem Inneren nichts mehr oder nur noch Schreckliches stattfindet bzw. diejenigen sowieso nichts mehr mitkriegen.

Respekt und Würde sind nicht teilbar!

Das eingeschlossene Hirn – Teil 5

Ende der 1990er Jahre entwickelte der Tübinger Psychologe Niels Birbaumer ein computergestütztes Gedankenübersetzungsgerät. Das Gerät eröffnete Menschen mit dem Locked-In-Syndrom die Möglichkeit, wieder mit der Außenwelt zu kommunizieren, zu schreiben, das Licht im Zimmer an und aus zu schalten. Aus Anlass des Filmstarts von „Schmetterling und Taucherglocke“ (wieder)-veröffentliche ich ein Gespräch mit Birbaumer (Psychologie Heute 11/98) über die Neuroprothese, die dahinter stehende Lerntheorie und den Konstruktivismus.

Teil 4

Zettmann: Beschäftigt sie als Psychologe der Gedanke, welche Auswirkungen direkte Schnittstellen auf die menschliche Identität haben könnten?

Birbaumer: Eigentlich nicht. Natürlich beschäftigt es mich aus philosophischer Sicht, weil wir dadurch mit alten philosophischen Fragen konfrontiert werden. Wenn man das aber spezifisch betrachtet, das eigene Gehirn zu kontrollieren, dann wirkt das auf den ersten Blick etwas futuristisch und philosophisch besonders interessant. Bei genauerem Hinschauen ist das aber alles nicht viel mehr wie Fußballspielen. Es ist eine Methode, bei der man statt der Muskelzellen die Gehirnzellen über Training zu bestimmten Fertigkeiten bringt. Die Mechanismen sind exakt dieselben wenn sie einen Sport oder eine Sprache lernen: Klassisches und instrumentelles Lernen, es unterscheidet sich durch nichts von etwas anderem.

Z: Ist es nicht ein neue Qualität menschlichen Erlebens, durch Gedankenübertragung eine Maschine zu steuern?

Birbaumer: Das glaube ich nicht. Wenn ihre Muskeln intakt sind, setzen sie die ja auch mit einem Gedanken in Bewegung. Und damit können sie ein Rad steuern oder ein Auto. Gehirnzellen sind nichts anderes wie Muskelzellen, die zum Denken da sind. Und die funktionieren nach denselben Prinzipien. Ein Gedanke ist nichts anderes als eine elektrische Veränderung und die kann einen Muskel steuern, einen Gedanken entwickeln oder in unserem Fall einen Rechner bedienen. Da sehe ich keinen besonderen qualitativen philosophischen Sprung. Der Vorteil ist, näher an die Psyche heranzukommen. Ich komme näher an das Geschehen heran, das die Psychologie zum Gegenstand hat. Die Prinzipien nach denen das funktioniert sind immer dieselben, so wie sie die Herren Pawlow, Skinner oder Thorndyke formuliert haben.
Das interessiert zwar die Psychologen heute nicht mehr, weil sie sich mit anderen, angeblich besseren Dingen beschäftigen – aber deswegen kommt die Psychologie als Wissenschaft speziell in Deutschland nicht weiter.

Z: Aus konstruktivistischer Sicht klingt das nach einem arg vereinfachten Weltbild…

Birbaumer: Natürlich, als Konstruktivist bereitet einem das Probleme. Die entstehen aber schon in der Praxis, wenn man mit solchen Patienten arbeitet wie wir. Die können ihre Welt nicht mehr konstruieren, sondern die sind in dieser Welt eingeschlossen. Und trotzdem ist ihre innere Welt überhaupt nicht anders wie unsere. Sie ist nur nicht mehr mitteilbar, sie hat keine Wirkungen mehr und es kann daher mit ihr nichts mehr konstruiert werden. Aber die Innenwelt wird weiter konstruiert, ein wenig verändert zwar, aber weiter konstruiert. Das erkennt man, wenn man direkt mit dem Gehirn der Patienten kommuniziert. Dann sehen sie, dass es die Konstruktion des Gehirn selbst ist, die die Welt konstruiert. Wenn sich die Konstruktivisten darauf einlassen, bin ich auch wieder Konstruktivist. So wie der Konstruktivismus sich jetzt gebiert, mit diesem ganzen Piaget´schen Rummel und diesen Pseudokonstruktionsideen, dass der Mensch sich die Welt konstruiert und dass das, was wir hier vor uns haben die Konstruktion der Innenwelt und sonst nichts sein soll, halte ich für absoluten Blödsinn und für gefährlich. Wir konstruieren uns nicht die Welt, unabhängig von der Welt. Das geben die Konstruktivisten natürlich auch zu, aber sie sagen, die Welt sei unsere Konstruktion. Das stimmt nicht, weil die Korrelation zwischen der Welt und unseren Hirnkonstruktionen der Welt so hoch ist, dass ich nicht mehr sagen kann, das habe ich konstruiert: Es ist die Welt, die mein Gehirn konstruiert, nicht umgekehrt.

Z: Zumal ich ja mit meinem Gehirn in eine bereits vorfindbare Welt hinein geboren werde…

Birbaumer: … und das Gehirn ist zu Beginn eine Tabula Rasa. Nehmen sie ein Kind, sperren sie es 20 Jahre ein, es lernt nie Sprache, lernt nie Sozialverhalten, konstruiert keine Welt. Und unsere Patienten sind das in diesem Spätzustand. Die verändern sich psychisch in einer Reihe von Faktoren, aber sie können keine Welt mehr konstruieren. Aber mit Hilfe unseres Gerätes können sie es bis zu einem gewissen Grade.

Z: Wird es über solche oder ähnliche Schnittstellen möglich sein, direkt an Sinneszentren heranzukommen?

Birbaumer: Ja, natürlich. Wir experimentieren mit dem MEG, bei dem ich die Hirnaktivität sehr viel genauer, mit Zonen von 1 mm Größe, erfassen kann. Es lassen sich als auf 1 mm genau die Magnetfelder messen, die sich dann wieder kontrollieren lassen. Zwischen 10000 und 100000 Zellen können nach einem entsprechenden Lernprozeß reguliert werden. Damit können sehr spezifische Dinge verändert werden, z. B. einzelne Sinneseindrücke. Allerdings glaube ich nicht, dass sich diese Technik für Prothesen eignet, denn eine Sinnesprothese bspw. bei Blinden muß noch spezifischer sein. Dort müssen einzelne Nervenzellen angesprochen werden können, da kommen wir in der notwendigen Genauigkeit nicht ran.
Das ist aber auch nicht mein primäres Interesse. Als Psychologe interessieren mich Leistungsverbesserungen oder -verschlechterungen, Änderungen der Ausdehnungen kortikaler Felder, Verbesserung ganz spezifischer Lernleistungen. Für solche tatsächlich psychologischen Probleme oder für Krankheiten, bei denen solche Probleme eine Rolle spielen – Alzheimer‘sche Erkrankung, Epilepsie, Parkinson, alle chronisch-degenerativen neurologischen Erkrankungen. Dafür könnte unsere Methode in Zukunft von Nutzen sein.

Z: Herr Birbaumer, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das eingeschlossene Hirn – Teil 4

Ende der 1990er Jahre entwickelte der Tübinger Psychologe Niels Birbaumer ein computergestütztes Gedankenübersetzungsgerät. Das Gerät eröffnete Menschen mit dem Locked-In-Syndrom die Möglichkeit, wieder mit der Außenwelt zu kommunizieren, zu schreiben, das Licht im Zimmer an und aus zu schalten. Aus Anlass des Filmstarts von „Schmetterling und Taucherglocke“ (wieder)-veröffentliche ich ein Gespräch mit Birbaumer (Psychologie Heute 11/98) über die Neuroprothese, die dahinter stehende Lerntheorie und den Konstruktivismus.

Teil 3

Zettmann: Wie funktioniert das technische System, an das Sie die Patienten anschließen?

Birbaumer: Das EEG kommt als Gleichstromveränderung an einem speziellen Analog-Digital-Wandler an. Dort wird es auf digitale Einheiten zerlegt. Damit kann der Computer dann weiter rechnen.

Z: Wie viele Daten produziert das EEG in der Sekunde?

Birbaumer: Das hängt von der Digitalisierungsrate ab. Im Moment muß der Rechner pro Sekunde 1000 Daten vom Hirn verarbeiten. Dieselbe Datenmenge entsteht an den Elektroden am Auge. Das ist nicht soviel, das Problem ist die Geschwindigkeit. Sie müssen es dem Patienten in Echtzeit und in leicht faßlicher Form zurückmelden. Sie müssen die Daten filtern und glätten, denn das EEG produziert eine Menge Rauschen. Deswegen ist es so schwierig, die Selbstkontrolltechnik zu erlernen. Um das zu forcieren, verwenden wir Algorithmen, die die Leistungen der Patienten künstlich verbessern. Bei einem etwaigen Unterschied von 2 Mikrovolt meldet der Computer bereits 3 erreichte Mikrovolt zurück. Dann hinkt das Gehirn des Patienten ein wenig hinterher, ohne dass das zu extrem sein darf, weil das Gehirn das ansonsten erkennt und ermüdet. All das muß in Echtzeit passieren und erfordert sehr schnelle Rechner.

Z: Was kostet die gesamte mobile Einheit?

Birbaumer: Alles in allem kostet die Einheit DM 30000. Ein Gerät, mit Hilfe dessen über Muskeln kommuniziert werden kann, ist in etwa genauso teuer. Das ist der Preis für solche Neuroprothesen. Das zahlt die Krankenkasse über die Pflegeversicherung.

Z: Wie viele Patienten kämen in Frage?

Birbaumer: Es gibt keine Zahlen, denn die Diagnose des Lock-In-Syndroms alleine ist schon ein Problem. Wie kommen sie dahinter, dass der Mensch noch alles versteht, wenn der Mensch ihnen kein Signal geben kann? Wir wissen von rund 5000 bis 6000 ALS-Erkrankungen. Stastisch müßten es 100000 sein, die diese Erkrankung haben, sei es zu Hause, auf Intensivstationen, in Heimen. Sicherlich sterben sehr viele. Dennoch muß die Zahl groß sein, aber niemand will sie wirklich wissen.

Z: Sie testen ihre Geräte auch mit studentischen Versuchspersonen. Wie fasziniert sind die Testpersonen von der Apparatur?

Birbaumer: Anfänglich sind sie schon sehr fasziniert. Studenten und andere Versuchspersonen beteiligen sich gern. Aber es ist so wie mit einem Computerspiel. Sie kaufen sich ein Computerspiel, sie machen es drei Tage, dann legen sie es weg, weil es langweilig geworden ist. Das ist typisch für Biofeedback-Anordnungen. Die sind anfänglich interessant, dann merkt man, es bringt nicht viel, dann legt man es wieder weg. Die Motivation hält bei Normalpersonen nicht lange an. Nach ein paar Sitzungen müssen wir denen schon sehr viel Geld geben, damit sie weitermachen. Bei Patienten ist die Situation anders, die versprechen sich ja etwas davon.

Z: Welche Rückmeldungen bekommen sie von den Patienten, wenn sie sie in die Lage versetzen, wieder mit der Außenwelt in Verbindung zu treten? Wie motiviert sind die Patienten, das Training auf sich zu nehmen?

Birbaumer: Damit sprechen sie ein heikles ethisches Problem an. Es ist so, dass die meisten Patienten, die solche Krankheiten haben, bevor sie beatmet werden, rechtlich entscheiden können, ob sie weiterbeatmet werden wollen oder nicht. Die meisten Patienten entscheiden sich unter dem Einfluß der Ärzte oder der Angehörigen nicht für das Weiterleben. D.h. wir haben hier eine relativ selegierte, kleine Gruppe von Menschen, die sich entweder unter unserem oder anderem Einfluß entschieden hat, sich beatmen zu lassen und weiter zu leben, auch in diesem gelähmten Zustand. Das sind also schon Menschen, die eine extrem hohe Überlebens- und Motivationsfähigkeit haben. Die Mehrheit entscheidet sich für den Tod, meiner Meinung aufgrund falscher Informationen und leichtfertigem Umgang mit diesem Problem. Deswegen haben wir Patienten, die hoch motiviert sind, wieder mit der Umgebung zu kommunizieren. Die haben auch ihre Tiefs wie wir alle. Es gibt Studien, die den psychischen Zustand, die Depression dieser Patienten messen. Und sie unterscheiden sich nicht von einer normalen Kontrollgruppe, die sind wie sie und ich. Obwohl sie beatmet über Jahre in einem Stuhl sitzen und sich nicht mehr bewegen können sind diese Menschen nicht depressiver als sie.
Das wird immer übersehen, wenn man mit den Leuten redet. Wenn man das nicht kennt, macht man sich natürlich nur furchtbare Vorstellungen, denkt sich, was das wohl für ein grauenhafter Zustand ist. Der Mensch gewöhnt sich an vieles, so auch an das.

Z: Welche weiteren psychischen Effekte resultieren aus den Biofeedback-Anordnungen?

Birbaumer: Ein Effekt des Selbstkontrolltrainings, den ich nicht beweisen kann, weil wir viel zu wenige Fälle haben, scheint mir, dass die Patienten munterer, aktiver werden, dass sie stärker mit der Umgebung interagieren. Bei der Epilepsie konnten wir zudem zeigen, dass es nicht nur zu einer Reduktion der Anfälle kommt, sondern dass als positiver Begleiteffekt der IQ um bis zu 15 Punkte ansteigt. Als Nebeneffekt des Selbstkontrolltrainings werden andere Gehirnfunktionen positiv beeinflußt.

Z: Wie reagieren ihre medizinischen Kollegen auf ihre Ergebnisse?

Birbaumer: Sie wissen wie das in der Wissenschaft ist, gerade wenn sie Psychologe sind: Sie müssen das einem medizinischen Kollegen lückenlos nachweisen, am besten mit einer Doppelblindstudie – und das können wir nie.

Z: Werden ihre Ergebnisse nicht für glaubwürdig gehalten?

Birbaumer: Doch, die Mediziner glauben mir jetzt. Die glauben auch an das Epilepsie-Ergebnis, deswegen setzen sie die Biofeedback-Technik zur Anfallsvermeidung trotzdem nicht ein. Auch andere Trainingsmaßnahmen für verschiedenste Erkrankungen werden nicht verwendet, obwohl es viel billiger wäre als das Leiden konventionell einzudämmen. Doch das interessiert niemanden.

Z: Woran liegt das?

Birbaumer: Das Hauptproblem ist, dass die medizinischen Kollegen uns nicht verstehen und umgekehrt die Psychologen die Mediziner nicht verstehen, weil sie zwei völlig verschiedene Sprachen sprechen. Die Idee, dass ein biologisches Substrat wie das Hirn oder ein Muskel so funktioniert wie das Verhalten, erschließt sich einem Mediziner nicht. Umgekehrt ist es nicht anders: Welcher Psychologe interessiert sich für das Gehirn? Welcher Psychologe hat ein wirkliches Verständnis von organischen Erkrankungen? Die laufen beide nebeneinander her. Doch wenn sie sich umschauen: Was machen Psychologen? Psychotherapie, Partnerschaftsprobleme, Alltagsprobleme. Um ernsthafte Erkrankungen, für die die Psychologie durchaus Lösungen zu bieten hat, kümmern sich Psychologen nicht. Wir haben Schmerztherapien entwickelt für verschiedenste Schmerzzustände, wir haben für rein organische Erkrankungen, für Skoliose und Rückenmarksverkrümmungen Techniken entwickelt. Das interessiert keine Psychologen. Das nehme ich den Psychologen viel übler als den Medizinern. Wenn Mediziner das hören, sagen die wenigstens, das ist toll. Aber machen mußt du das selber, denn wir verstehen nichts von der Lernpsychologie. Ich würde es gern machen, aber ich brauche einen Psychologen dazu. Und die sagen dann zu mir, das interessiert uns nicht, wir behandeln Partnerschaftsprobleme. Deswegen bin aus dem Verein ausgetreten und will mit denen nichts mehr zu tun haben. Die Psychologen wissen nicht, wozu sie da sind, was ihre gesellschaftliche Funktion ist.
Finden sie mir einen Psychologen, der die Lernprinzipien noch kennt. Für die Multiplikation dieser Sache sind die Psychologen absolut essentiell. Mediziner verstehen nur die Lernprinzipien nicht. Beibringen kann man das im Prinzip jedem, aber damit umzugehen, das Fingerspitzengefühl entwickeln, wann kann ich eine Shaping-Prozedur anwenden…

Z: Beschäftigt sie als Psychologe der Gedanke, welche Auswirkungen direkte Schnittstellen auf die menschliche Identität haben könnten?

Das eingeschlossene Hirn – Teil 3

Ende der 1990er Jahre entwickelte der Tübinger Psychologe Niels Birbaumer ein computergestütztes Gedankenübersetzungsgerät. Das Gerät eröffnete Menschen mit dem Locked-In-Syndrom die Möglichkeit, wieder mit der Außenwelt zu kommunizieren, zu schreiben, das Licht im Zimmer an und aus zu schalten. Aus Anlass des Filmstarts von „Schmetterling und Taucherglocke“ (wieder)-veröffentliche ich ein Gespräch mit Birbaumer (Psychologie Heute 11/98) über die Neuroprothese, die dahinter stehende Lerntheorie und den Konstruktivismus.

Teil 2

Zettmann: Wann hatten sie die Idee, auf diese Weise das Problem völlig fehlender Motorik zu umgehen?

Birbaumer: Weil das Problem auf der Hand liegt, haben das schon viele andere Leute auch versucht. Aber das mit den LKPs auf diese Weise zu versuchen, kam mir im Zusammenhang mit den Epileptikern. In der Epilepsie finden sie auch oft Zustände, in denen der Kranke völlig weg ist, während eines Anfalls oder auch im Schlaf. Dabei haben wir erkannt, dass die Leute auch in einem solchen Zustand ihre Selbstkontrolle beibehalten können. Selbst im Schlaf oder nach einem Anfall können Epileptiker ihr Gehirn wieder in den Griff bekommen. Oder auch ganz kurz vor dem Anfall, wenn es schon kurz vor der Explosion ist, können die das beherrschen. Daraus folgerte ich, dass sich diese Art der Selbstkontrolle auch für schnelle Kommunikationsequenzen wie Sprache einsetzen läßt. Wobei gegenwärtig die Kommunikationsgeschwindigkeit sehr langsam ist.

Z: Im Schnitt 80 Sekunden, um einen Buchstaben zu bestätigen…

Birbaumer: Wir hoffen, dass wir die Zeiten verringern können. Aber der Prozeß ist auch sehr anstrengend, so dass die Patienten meist nur eine Stunde über das Gerät kommunizieren können. Dann brauchen sie eine Stunde Pause, dann können sie wieder.

Z: Sie nennen das Ziel ihrer Forschungen, die elektrische Hirnaktivität zur willentlichen Steuerung von Schaltern und Computern und Sprache einzusetzen. Wie nah sind sie dem Ziel?

Birbaumer: Wir haben die Locked-In-Patienten, die vollständig gelähmt sind und künstlich ernährt und beatmet sind. Ein Teil der Patienten kann das wohl, aber diese Fertigkeit ist im Moment noch sehr labil, d.h. sie machen immer noch relativ viele Fehler. Wir müssen also Strategien finden, wie wir diese Fehler ausschalten. Daran arbeiten wir im Moment. Wir müssen die Patienten trainieren und verändern die Programme so, dass sie eine mindestens 90%ige Kontrolle über die Hirnaktivität haben, denn nur dann können sie solche Schalter oder solche Buchstabensysteme fehlerlos bedienen.

Z: Körperliche Entspannung ist nicht vorteilhaft für die Aktivität und Kontrolle der Potentiale. Welche Strategien eignen sich am besten, die LPKs zu beeinflussen?

Birbaumer: Wir fanden heraus, dass Strategien kognitiver Natur, die das Denken verwenden, Gedanken, besser sind, als Strategien, die körperliche Sachen verwenden.
Das Gehirn selbst hat keine Rezeptoren, die Sinnesorgane sind die Rezeptoren des Gehirns, es fehlen ihm die Fühler für die eigene Tätigkeit, wie sie den Muskeln zur Verfügung stehen. Dennoch muß das Gehirn, wenn es sich selber kontrollieren will, herausfinden, mit welcher Strategie die Negativierung erreicht wird. Dafür sind Gedanken notwendig, nicht Körperzustände. Bei den Gelähmten nicht, aber prinzipiell kann ich mit dem Heben einer Zehe ein bestimmtes Areal aktivieren. Aber die Aktivierung ist sehr klein. Deswegen müssen sich die Patienten Gedanken zurecht legen, deswegen braucht das Gehirn ein, zwei Sitzungen bis es herausfindet, wie es das am besten regelt. Wenn sie die Peripherie dazu verwenden (Atmung, Augenbewegung, Blutdruck steigern usw.) würden jedesmal Störfaktoren auf den Gedanken gesetzt. Es kämen also neue Informationen aus der Peripherie, die das Gehirn ablenken.
Deswegen dachten wir zuerst, meditativ entspannte Leute sind gut. Doch heute ist uns klar, dass auch die völlige Entspannung das Gehirn stört. Denn auch die völlige Entspannung muß über eine Strategie erreicht werden, die die Muskeln hemmt und schlaff hält. Wenn das einhergeht mit einer Leere der Gedanken so erzeugt das eine Positivierung. Das tun viele unserer Patienten.
Am besten funktioniert ein abgeschlagener Kopf. Wenn ich das Gehirn in eine Kühltruhe lege, wären die Einflüsse am geringsten. Unsere Patienten haben, obwohl sie praktisch nur Köpfe sind, mehr Schwierigkeiten. Zwar werden sämtliche Reize weiterhin ins Hirn geleitet, die Patienten spüren alles, sie können sich eben nur nicht mehr bewegen. Doch die Mehrzahl der Zellen im vorderen Hirnabschnitt sind tot. Wir haben Gehirne vor uns, die schwerst geschädigt sind. Das ist das wirkliche Problem, denn wir haben einen Verlust von 30-40% der Hirnzellen.

Z: Der Frontallappen darf jedoch nicht ausgefallen sein.

Birbaumer: Genau, das haben wir festgestellt. Der ist auch bei unseren Patienten intakt, aber es gehen viele Zellen verloren. Deswegen haben wir Schwierigkeiten, um die wir nicht umhin kommen. Sie lernen es trotzdem, aber langsam

Z: Wie viele Elektroden werden für das Messen der Hirnaktivitäten angeschlossen?

Birbaumer: Für das Training selbst kleben wir eine aktive Elektrode am Zentrum des Kopfes, dem Vertex (Scheitel). Wenn die Leute das 24 Stunden haben wollen, kleben wir eine Elektrode unter die Haut, zementieren sie sozusagen dauerhaft am Scheitel ein. Dort hinein wird dann der Stecker gesteckt, um den Patienten mit der Maschine zu verbinden. Weiterhin kleben wir zwei Referenzelektroden hinter den Ohren und zwei Augenelektroden, um die Augenbewegungen messen zu können. Falls der Patient mit den Augen noch etwas sagen kann, können wir im Zweifelsfall auf die Augen umschalten.

Z: Eröffnet vor allem der Computer diese neuen Kommunikationsmöglichkeiten?

Birbaumer: Ohne Rechner ist das alles ausgeschlossen. Die Programme sind hoch kompliziert und brauchen eine sehr hohe Rechengeschwindigkeit. Es werden gleichzeitig die gesamten Hirndaten erfaßt und es müssen wegen der Artefakt-Einflüsse die Augenbewegungen genau registriert werden. Der Computer vergleicht ständig, ob der Zielzustand erreicht ist. Wenn der Patient richtig reagiert, muß der Computer Buchstaben oder Worte oder Wortsequenzen darbieten. Die Sprachprogramm sind sehr komplex, jeder Patient hat sein eigenes Lexikon. Das Programm ist so beschaffen, dass der Computer in einer bestimmten Sequenz Buchstaben anbietet, dann setzt der Patient die Anfangsbuchstaben zusammen. Aus dem Lexikon des Patienten wählt der Computer dann das richtige, vollständige Wort aus. Ansonsten dauerte das zu lange. Gleichzeitig verarbeitet der Computer permanent die Hirnaktivität. Es muß ein kleiner Rechner sein, denn Patienten liegen zu Hause oder auf der Intensivstation, alles muß in ein kleines Wohnzimmer passen. Das wäre ohne die moderne Computertechnologie nicht einmal anzudenken, ausgeschlossen.

Z: Wie funktioniert das technische System, an das sie die Patienten anschließen?

Teil 4 erscheint am 01.04.

Bisher erschienen:
Teil 1
Teil 2

Das eingeschlossene Hirn – Teil 2

Ende der 1990er Jahre entwickelte der Tübinger Psychologe Niels Birbaumer ein computergestütztes Gedankenübersetzungsgerät. Das Gerät eröffnete Menschen mit dem Locked-In-Syndrom die Möglichkeit, wieder mit der Außenwelt zu kommunizieren, zu schreiben, das Licht im Zimmer an und aus zu schalten. Aus Anlass des Filmstarts von „Schmetterling und Taucherglocke“ (wieder)-veröffentliche ich ein Gespräch mit Birbaumer (Psychologie Heute 11/98) über die Neuroprothese, die dahinter stehende Lerntheorie und den Konstruktivismus.

Teil 1

Zettmann: Sie verwenden langsame kortikale Potentiale (LKP), um den Patienten Kontrolle über Hirnaktivitäten zu ermöglichen. Was sind das für Ströme und warum eignen sie sich besonders, von vollständig Gelähmten kontrolliert zu werden?

Birbaumer: Langsame kortikale Potentiale sind relativ langsame elektrische Veränderungen der obersten Hirnrindenschichten. Ich habe diese Potentiale immer untersucht, weil sie die Grundlage der Erregungsbereitschaft der Nervenzellen darstellen. Mich hat früher interessiert, was passiert, wenn ein bestimmter Teil des Gehirns in einen solchen Mobilisierungs- bzw. Erregungszustand versetzt wird, wie wirkt sich das auf Verhalten aus, denn jedes Verhalten läßt sich auf einen Zustand der Erregungserhöhung in bestimmten Hirnarealen zurückführen. Die langsamen Hirnpotentiale sind wahrscheinlich die physiologische Basis dieses Mobilisationszustandes der Nervenzellen. Zudem korrelieren sie sehr gut mit Verhalten, und als Psychologen sind wir ja stets daran interessiert, Maße zu finden, die mit Verhalten gut zusammenhängen. Die LKPs hängen nun mit Aufmerksamkeitszuwendung oder -abwendung, mit Mobilisierung für Bewegungen, mit Mobilisierung für Gedanken oder für Gefühle eng zusammen.

Z: Kommt diese Erregungsvielfalt zustande, weil es sich bei den LKPs um ein ausgedehntes System handelt, das sich in vielen Hirnregionen finden läßt?

Birbaumer: Genau, es ist ein relativ unspezifisches System, das sich in vielen Hirnregionen registrieren läßt. Jedesmal, wenn ein bestimmte Hirnregion in einen Zustand der erhöhten oder erniedrigten Erregung gelangt, sehen sie eine elektrische Negativierung oder Positivierung im Gehirn. Die können sie im EEG (Elektroenzephalogramm) oder im MEG (Magnetoenzephalogramm) relativ problemlos messen, wenngleich es nicht so einfach ist, wie das normale EEG, denn es gibt ein paar technische Schwierigkeiten, welche die meisten Leute nicht beherrschen, darum gibt es wenige Leute, die sich damit befassen.
Langsame Hirnpotentiale sind keineswegs meine Entdeckung, sie werden bereits seit 70, 80 Jahren nachgewiesen. Weil diese Potentiale so gut mit Verhalten korrelieren, lag es nahe, sie zu konditionieren. Es lag nah, herauszufinden, was passiert mit unserem Verhalten, unserem Denken, wenn wir diese Potentiale verändern. Veränderbar sind die LKPs auf verschiedene Weise: Pharmakologisch, durch Darbietung bestimmter Reize oder durch selbstkontrollierende Veränderung. Selbstkontrolle ist nur über operantes Konditionieren zu erzielen. Deswegen konditionieren wir diese Potentiale, in dem wir die Patienten dafür belohnen, dass sie sie produzieren, systematisch über viele Sitzungen. Wenn die Patienten diese Selbstkontrolle erlernt haben, können sie selbst bestimmte Hirnareale entweder erregen oder hemmen, lokal einen bestimmten Teil des Gehirns. Damit kann man Verhalten verändern oder epileptische Anfälle verhindern. Jetzt möchten wir, dass man das nutzt, um Menschen, die vollständig eingeschlossen sind, gelähmt sind, Patienten, die in einer Art Komazustand sind, doch zu erlauben, wieder mit ihrer Umgebung zu kommunizieren.

Z: Was ist unter kortikaler Negativierung und kortikaler Positivierung zu verstehen?

Birbaumer: Im Gehirn entsteht eine Negativierung dann, wenn die Zellen depolarisiert werden, d.h. wenn die Ladung der Zellmembran so verschoben wird, dass die Zelle ladungsbereit ist. Diese Ladungsbereitschaft der Zelle äußert sich in einer Negativierung, und wenn die Zelle ihre Ladungsbereitschaft verhindert, wenn sie in einen Zustand der Passivität oder der Hemmung verfällt, dann verändert sie sich hin zu einer Positivierung. Diesen Zustand der Erregungsbereitschaft und Erregungshemmung kann ich nun für ein Areal etwa in einem Umkreis von 1 cm im EEG und im MEG bis auf wenige Millimeter genau messen. Da unsere Patienten entweder zu Hause oder auf Intensivstationen liegen, brauchen wir portable Geräte, deswegen können wir das MEG dort nicht verwenden, auch wenn dies wegen der höheren Genauigkeit viel besser wäre.
Mit einer Negativierung sind also die Zellen erregungsbereit, und wenn dann ein Gedanke oder eine Bewegung ausgeführt werden soll, dann wird sie besser ausgeführt, wenn die Zelle negativ ist. Wenn sie positiv ist, wird es schlechter. Das Verhalten, also die Verhaltensbereitschaft und die Verhaltenseffizienz hängen davon ab, ob die Areale, die mein Verhalten steuern, negativ geladen sind. Wenn sie das sind, dann wird die Effizienz dieses Zellsystems, zu feuern und das Verhalten zu bewirken, besser. Wobei das für die Experimente mit den Gelähmten überhaupt keine Rolle spielt, weil wir von denen nur ein Signal aus dem Hirn erkennen wollen, das stimmt, das jedesmal funktioniert. Und dafür ist es uns egal, ob das positiv ist oder negativ.

Z: Wie lassen sich die Hirnpotentiale unter Kontrolle bringen? Welches Setting haben Sie, um operant zu kondtionieren?

Birbaumer: Das ist immer gleich. Die Patienten schauen auf den Bildschirm und sehen dort ihre langsamen Hirnpotentiale im Abstand von 2 bis 8 Sekunden in Form einer Rakete oder in Form eines Balles oder auch eines freundlichen Computers. Die Patienten sehen das über den Bildschirm laufen. Der Computer weist an, mach das Hirn negativ für 2 Sekunden, und der Patient muß eine Negativierung produzieren.

Z: Wie geschieht das?

Birbaumer: Ganz genau wissen wir das nicht. Jeder Mensch entwickelt dafür seine eigene Strategie. Jeder Mensch erzählt ihnen da eine eigene Geschichte, wie er das macht. Uns interessiert nur, dass es funktioniert. Die Patienten beobachten also die LKPs auf dem Bildschirm. Wenn das Potential eine bestimmte Höhe erreicht hat, dann fliegen der Ball oder die Rakete entweder in ein Tor oder der Bildschirm leuchtet auf oder das Gesicht lacht. Richtig Skinnerianisch.
Oder aber, wenn sie eine Positivierung produzieren sollen, dann erscheint bspw. ein B, wenn die Negativierung als A erscheint. Die Aufgabe ist dann, in zwei Sekunden eine Positivierung zu erzeugen. Und wenn der Mensch innerhalb von 2 Sekunden 5 Millionstel Volt positiv erreicht, bekommt er eine der genannten Belohnungen. Das wiederholt sich pro Sitzung etwa 150 mal. Dann wird der Bildschirm abgeschaltet und der Computer gibt nur noch aus, im Wechsel ein negatives und ein positives Signal zu erzeugen, ohne Belohnung und ohne Rückmeldung, so dass die Patienten das auch ohne diese Hilfen können. Meistens können sie es ohne Feedback sogar besser. Am Anfang braucht man das Feedback aber, um ein Gefühl zu bekommen, wie man die Potentiale kontrolliert. Die individuelle Strategie der Kontrolle muß zuerst gefunden werden.

Z: Wann hatten sie die Idee, auf diese Weise das Problem völlig fehlender Motorik zu umgehen?

Fortsetzung: Teil 3

Locked-In-Syndrom – das eingeschlossene Hirn

Heute startet der Film „Schmetterling und Taucherglocke„, Regie Julian Schnabel. Der Film nimmt sehr konsequent die Perspektive eines Menschen ein, der an einem so genannten Locked-In-Syndrom leidet: Sämtliche Muskeln (hier: bis auf ein Augenlid) sind gelähmt (nun ja, im Film hängt der Schauspieler nicht an einer Herz-Lungen-Maschine…). Kommunikation ist, wenn überhaupt, nur noch sehr eingeschränkt möglich.

Ende der 1990er Jahre entwickelte der Tübinger Psychologe Niels Birbaumer ein computergestütztes Gedankenübersetzungsgerät. Das Gerät eröffnete Menschen mit dem Locked-In-Syndrom die Möglichkeit, wieder mit der Außenwelt zu kommunizieren, zu schreiben, das Licht im Zimmer an und aus zu schalten. Aus Anlass des Filmstarts (wieder)-veröffentliche ich ein Gespräch mit Birbaumer (Psychologie Heute 11/98) über die Neuroprothese, die dahinter stehende Lerntheorie und den Konstruktivismus.

Zettmann: Mit Hilfe einer Biofeedback-Anordnung und eines leistungsstarken PC stellen Sie Patienten und Patientinnen, deren Motorik durch chronisch-degenerative Nervenerkrankungen komplett ausgefallen ist, deren Gehirn aber weiterhin Informationen verarbeitet, ein von Ihnen so genanntes Gedankenübersetzungsgerät zur Verfügung, mit dem diese Menschen wieder mit der Außenwelt kommunizieren können. Wie können Sie erfahren, dass ein Gelähmter eingeschlossen ist, wenn Sie nicht mit demjenigen kommunizieren können?

Birbaumer: Im Prinzip gar nicht, außer es steht ein System zur Verfügung, mit dem sich diagnostizieren läßt, inwieweit die Informationsverarbeitung des Patienten funktioniert. Wir testen gerade ein System, das zunehmend komplizierte Reize darbietet und die Hirnaktivität ableitet. Aus der Form der Hirnaktivität läßt sich erschließen, ob diese komplexen Reize noch verarbeitet werden. Das beginnt mit einfachen Tönen, die sich abwechseln, über den Namen des Patienten zu Sätzen, die syntaktische und semantische Fehler enthalten. So wird eine Hierarchie der Reize dargeboten. Das System leitet die Hirnaktivität ab und hinterher kann man sagen, inwieweit die Patienten die Informationen verstehen. Für diese Diagnose brauche ich dann kein willentliches Signal von den Patienten mehr. Anschließend kann das Training mit dem Gedankenübersetzungsgerät beginnen.

Z: Sie vergleichen also die bekannten Reiz-Reaktionen eines nicht-geschädigten Hirns mit den gemessenen Werten eines Patienten?

Birbaumer: Genau, die Normalwerte sind als kartographiert, die Potentialformeln sind bekannt. Mich wundert, dass das noch niemand gemacht hat. Wir haben die Literatur gesucht, aber keine gefunden. Technisch möglich ist das seit 30 Jahren.

Z: Für welche hirnorganischen Syndrome ist die Anwendung geeignet?

Birbaumer: Unser Gerät erfordert ein intaktes Großhirn. Bei Patienten mit apallischem Syndrom ist das nicht der Fall. Allerdings ist die gesamte Definition des apallischen Syndroms problematisch. Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit, dass sich jemand in einem apallischen Syndrom befindet. Es kann also sein, dass ein Mensch als Apalliker behandelt wird, weil angenommen wird, dass die Gehirnrinde nicht mehr funktioniert. In diesem Zustand kann man natürlich leben, aber für diejenigen ist unser Gerät nicht geeignet.
Es gibt jedoch pseudo-komatische oder auch echte komatische Zustände, bei denen Teile der Hirnrinde intakt sind, der Patient aber nur deswegen nicht kommunizieren kann, weil alle Muskeln gelähmt sind, weil die ganze Motorik weg ist. Dann werden diese Leute häufig als im Koma liegend bezeichnet, aber man ist dann immer wieder überrascht, wenn die Leute nach Jahren aus dem Koma aufwachen, welche Geschichten die dann erzählen. In einzelnen Fällen geschieht es, dass Patienten als Apalliker diagnostiziert werden, obwohl sie sich in einem Lock-In Zustand befinden, in Wirklichkeit also intellektuell völlig intakt sind.
Das Gerät wird somit auch für diese Patientengruppe entwickelt, aber primär für Patienten, die an chronischen neurologischen Erkrankungen leiden, die im Endzustand zu einem Locked-In-Syndrom führen – und das werden heutzutage immer mehr, weil die Patienten mit den verfügbaren lebenserhaltenden Maßnahmen am Leben erhalten werden können. Krankheiten wie die amyotrophe Lateralsklerose oder verschiedene Muskeldystrophien führen im Endzustand zu völliger Lähmung, einschließlich der Augenmuskeln. Die Leute müssen künstlich ernährt und beatmet werden, sind aber intellektuell völlig intakt. Sie können denken, sehen, hören, fühlen – sie können nur nichts wiedergeben, nicht einmal mit den Augen blinzeln.
Solange wir irgendwo im Körper noch einen Muskel finden, bevorzugen wir den Muskel gegenüber dem Gehirn als Signalgeber, weil die Muskeln in der Regel viel zuverlässiger arbeiten. Aber bei unseren Patienten funktionieren die nicht mehr gut. Wir sehen sie zu einem Zeitpunkt, wo die Muskeln noch funktionieren, da kommunizieren wir über die Augenmuskeln mit ihnen. Aber wir sehen bei Patienten, die schon viele Jahre künstlich beatmet und ernährt werden, dass nach kurzer Zeit die Muskeln so fehlerhaft werden, dass wir darüber auch nicht mehr kommunizieren können. Auch wenn sie noch Kontrolle haben, ermüden sie so schnell, so dass wir dann aufs Gehirn schalten müssen.

Z: Sie verwenden langsame kortikale Potentiale (LKP), um den Patienten Kontrolle über Hirnaktivitäten zu ermöglichen. Was sind das für Ströme und warum eignen sie sich besonders, von vollständig Gelähmten kontrolliert zu werden?

Teil 2