Locked-In-Syndrom – das eingeschlossene Hirn

Heute startet der Film „Schmetterling und Taucherglocke„, Regie Julian Schnabel. Der Film nimmt sehr konsequent die Perspektive eines Menschen ein, der an einem so genannten Locked-In-Syndrom leidet: Sämtliche Muskeln (hier: bis auf ein Augenlid) sind gelähmt (nun ja, im Film hängt der Schauspieler nicht an einer Herz-Lungen-Maschine…). Kommunikation ist, wenn überhaupt, nur noch sehr eingeschränkt möglich.

Ende der 1990er Jahre entwickelte der Tübinger Psychologe Niels Birbaumer ein computergestütztes Gedankenübersetzungsgerät. Das Gerät eröffnete Menschen mit dem Locked-In-Syndrom die Möglichkeit, wieder mit der Außenwelt zu kommunizieren, zu schreiben, das Licht im Zimmer an und aus zu schalten. Aus Anlass des Filmstarts (wieder)-veröffentliche ich ein Gespräch mit Birbaumer (Psychologie Heute 11/98) über die Neuroprothese, die dahinter stehende Lerntheorie und den Konstruktivismus.

Zettmann: Mit Hilfe einer Biofeedback-Anordnung und eines leistungsstarken PC stellen Sie Patienten und Patientinnen, deren Motorik durch chronisch-degenerative Nervenerkrankungen komplett ausgefallen ist, deren Gehirn aber weiterhin Informationen verarbeitet, ein von Ihnen so genanntes Gedankenübersetzungsgerät zur Verfügung, mit dem diese Menschen wieder mit der Außenwelt kommunizieren können. Wie können Sie erfahren, dass ein Gelähmter eingeschlossen ist, wenn Sie nicht mit demjenigen kommunizieren können?

Birbaumer: Im Prinzip gar nicht, außer es steht ein System zur Verfügung, mit dem sich diagnostizieren läßt, inwieweit die Informationsverarbeitung des Patienten funktioniert. Wir testen gerade ein System, das zunehmend komplizierte Reize darbietet und die Hirnaktivität ableitet. Aus der Form der Hirnaktivität läßt sich erschließen, ob diese komplexen Reize noch verarbeitet werden. Das beginnt mit einfachen Tönen, die sich abwechseln, über den Namen des Patienten zu Sätzen, die syntaktische und semantische Fehler enthalten. So wird eine Hierarchie der Reize dargeboten. Das System leitet die Hirnaktivität ab und hinterher kann man sagen, inwieweit die Patienten die Informationen verstehen. Für diese Diagnose brauche ich dann kein willentliches Signal von den Patienten mehr. Anschließend kann das Training mit dem Gedankenübersetzungsgerät beginnen.

Z: Sie vergleichen also die bekannten Reiz-Reaktionen eines nicht-geschädigten Hirns mit den gemessenen Werten eines Patienten?

Birbaumer: Genau, die Normalwerte sind als kartographiert, die Potentialformeln sind bekannt. Mich wundert, dass das noch niemand gemacht hat. Wir haben die Literatur gesucht, aber keine gefunden. Technisch möglich ist das seit 30 Jahren.

Z: Für welche hirnorganischen Syndrome ist die Anwendung geeignet?

Birbaumer: Unser Gerät erfordert ein intaktes Großhirn. Bei Patienten mit apallischem Syndrom ist das nicht der Fall. Allerdings ist die gesamte Definition des apallischen Syndroms problematisch. Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit, dass sich jemand in einem apallischen Syndrom befindet. Es kann also sein, dass ein Mensch als Apalliker behandelt wird, weil angenommen wird, dass die Gehirnrinde nicht mehr funktioniert. In diesem Zustand kann man natürlich leben, aber für diejenigen ist unser Gerät nicht geeignet.
Es gibt jedoch pseudo-komatische oder auch echte komatische Zustände, bei denen Teile der Hirnrinde intakt sind, der Patient aber nur deswegen nicht kommunizieren kann, weil alle Muskeln gelähmt sind, weil die ganze Motorik weg ist. Dann werden diese Leute häufig als im Koma liegend bezeichnet, aber man ist dann immer wieder überrascht, wenn die Leute nach Jahren aus dem Koma aufwachen, welche Geschichten die dann erzählen. In einzelnen Fällen geschieht es, dass Patienten als Apalliker diagnostiziert werden, obwohl sie sich in einem Lock-In Zustand befinden, in Wirklichkeit also intellektuell völlig intakt sind.
Das Gerät wird somit auch für diese Patientengruppe entwickelt, aber primär für Patienten, die an chronischen neurologischen Erkrankungen leiden, die im Endzustand zu einem Locked-In-Syndrom führen – und das werden heutzutage immer mehr, weil die Patienten mit den verfügbaren lebenserhaltenden Maßnahmen am Leben erhalten werden können. Krankheiten wie die amyotrophe Lateralsklerose oder verschiedene Muskeldystrophien führen im Endzustand zu völliger Lähmung, einschließlich der Augenmuskeln. Die Leute müssen künstlich ernährt und beatmet werden, sind aber intellektuell völlig intakt. Sie können denken, sehen, hören, fühlen – sie können nur nichts wiedergeben, nicht einmal mit den Augen blinzeln.
Solange wir irgendwo im Körper noch einen Muskel finden, bevorzugen wir den Muskel gegenüber dem Gehirn als Signalgeber, weil die Muskeln in der Regel viel zuverlässiger arbeiten. Aber bei unseren Patienten funktionieren die nicht mehr gut. Wir sehen sie zu einem Zeitpunkt, wo die Muskeln noch funktionieren, da kommunizieren wir über die Augenmuskeln mit ihnen. Aber wir sehen bei Patienten, die schon viele Jahre künstlich beatmet und ernährt werden, dass nach kurzer Zeit die Muskeln so fehlerhaft werden, dass wir darüber auch nicht mehr kommunizieren können. Auch wenn sie noch Kontrolle haben, ermüden sie so schnell, so dass wir dann aufs Gehirn schalten müssen.

Z: Sie verwenden langsame kortikale Potentiale (LKP), um den Patienten Kontrolle über Hirnaktivitäten zu ermöglichen. Was sind das für Ströme und warum eignen sie sich besonders, von vollständig Gelähmten kontrolliert zu werden?

Teil 2

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