Lebensqualität bei ALS

Im Deutschen Ärzteblatt erschien vor kurzem eine Studie zur Lebensqualität von Menschen mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS), einer degenerativen Muskelerkrankung. Im Endzustand der Erkrankung kann der menschliche Körper keinerlei Eigenbewegung mehr ausführen. Die Patienten müssen künstlich beatmet werden. Das Hirn ist vollständig eingeschlossen, locked-in.

Ich habe anlässlich des Filmstarts von “Schmetterling und Taucherglocke” Ende März eine Interviewserie mit Niels Birbaumer (Locked-In-Syndrom – das eingeschlossene Hirn) veröffentlicht, der ALS seit Jahren erforscht und auch an der aktuellen Studie beteiligt war.

Das zentrale Ergebnis: Die Lebensqualität aus der Innensicht der Betroffenen ist nicht schlechter als die anderer Menschen auch. Sie sind auch nicht depressiver.

Allerdings geben natürlich nur die Leute Auskunft, die sich bspw. durch eine Beatmungsmaschine am Leben erhalten lassen. Die anderen sind entweder bereits verstorben bzw. verweigern sich der sicherlich anstrengenden Befragung. Die Verzerrung in der Auswahl der Patienten könnte eine Ursache dafür sein, dass die Betroffenen ihre Lebensqualität und ihre Stimmung als ganz gut einschätzen.

Die Studie gebietet es dennoch, innezuhalten und sich vor vorschnellen Einschätzungen über das Befinden von Schwerstkranken zu hüten, die nicht mehr in der Lage sind, ihre Gefühle ohne weiteres mitzuteilen.

Auch Menschen mit Demenz erleben wir als kaum noch zugänglich. Auch sie sind in einem bestimmten Stadium der Krankheit nicht mehr in der Lage, Mitteilungen über ihr Innenleben zu machen. Das sollten wir Außenstehenden aber nicht dahingehend interpretieren, dass in diesem Inneren nichts mehr oder nur noch Schreckliches stattfindet bzw. diejenigen sowieso nichts mehr mitkriegen.

Respekt und Würde sind nicht teilbar!

Das eingeschlossene Hirn – Teil 5

Ende der 1990er Jahre entwickelte der Tübinger Psychologe Niels Birbaumer ein computergestütztes Gedankenübersetzungsgerät. Das Gerät eröffnete Menschen mit dem Locked-In-Syndrom die Möglichkeit, wieder mit der Außenwelt zu kommunizieren, zu schreiben, das Licht im Zimmer an und aus zu schalten. Aus Anlass des Filmstarts von „Schmetterling und Taucherglocke“ (wieder)-veröffentliche ich ein Gespräch mit Birbaumer (Psychologie Heute 11/98) über die Neuroprothese, die dahinter stehende Lerntheorie und den Konstruktivismus.

Teil 4

Zettmann: Beschäftigt sie als Psychologe der Gedanke, welche Auswirkungen direkte Schnittstellen auf die menschliche Identität haben könnten?

Birbaumer: Eigentlich nicht. Natürlich beschäftigt es mich aus philosophischer Sicht, weil wir dadurch mit alten philosophischen Fragen konfrontiert werden. Wenn man das aber spezifisch betrachtet, das eigene Gehirn zu kontrollieren, dann wirkt das auf den ersten Blick etwas futuristisch und philosophisch besonders interessant. Bei genauerem Hinschauen ist das aber alles nicht viel mehr wie Fußballspielen. Es ist eine Methode, bei der man statt der Muskelzellen die Gehirnzellen über Training zu bestimmten Fertigkeiten bringt. Die Mechanismen sind exakt dieselben wenn sie einen Sport oder eine Sprache lernen: Klassisches und instrumentelles Lernen, es unterscheidet sich durch nichts von etwas anderem.

Z: Ist es nicht ein neue Qualität menschlichen Erlebens, durch Gedankenübertragung eine Maschine zu steuern?

Birbaumer: Das glaube ich nicht. Wenn ihre Muskeln intakt sind, setzen sie die ja auch mit einem Gedanken in Bewegung. Und damit können sie ein Rad steuern oder ein Auto. Gehirnzellen sind nichts anderes wie Muskelzellen, die zum Denken da sind. Und die funktionieren nach denselben Prinzipien. Ein Gedanke ist nichts anderes als eine elektrische Veränderung und die kann einen Muskel steuern, einen Gedanken entwickeln oder in unserem Fall einen Rechner bedienen. Da sehe ich keinen besonderen qualitativen philosophischen Sprung. Der Vorteil ist, näher an die Psyche heranzukommen. Ich komme näher an das Geschehen heran, das die Psychologie zum Gegenstand hat. Die Prinzipien nach denen das funktioniert sind immer dieselben, so wie sie die Herren Pawlow, Skinner oder Thorndyke formuliert haben.
Das interessiert zwar die Psychologen heute nicht mehr, weil sie sich mit anderen, angeblich besseren Dingen beschäftigen – aber deswegen kommt die Psychologie als Wissenschaft speziell in Deutschland nicht weiter.

Z: Aus konstruktivistischer Sicht klingt das nach einem arg vereinfachten Weltbild…

Birbaumer: Natürlich, als Konstruktivist bereitet einem das Probleme. Die entstehen aber schon in der Praxis, wenn man mit solchen Patienten arbeitet wie wir. Die können ihre Welt nicht mehr konstruieren, sondern die sind in dieser Welt eingeschlossen. Und trotzdem ist ihre innere Welt überhaupt nicht anders wie unsere. Sie ist nur nicht mehr mitteilbar, sie hat keine Wirkungen mehr und es kann daher mit ihr nichts mehr konstruiert werden. Aber die Innenwelt wird weiter konstruiert, ein wenig verändert zwar, aber weiter konstruiert. Das erkennt man, wenn man direkt mit dem Gehirn der Patienten kommuniziert. Dann sehen sie, dass es die Konstruktion des Gehirn selbst ist, die die Welt konstruiert. Wenn sich die Konstruktivisten darauf einlassen, bin ich auch wieder Konstruktivist. So wie der Konstruktivismus sich jetzt gebiert, mit diesem ganzen Piaget´schen Rummel und diesen Pseudokonstruktionsideen, dass der Mensch sich die Welt konstruiert und dass das, was wir hier vor uns haben die Konstruktion der Innenwelt und sonst nichts sein soll, halte ich für absoluten Blödsinn und für gefährlich. Wir konstruieren uns nicht die Welt, unabhängig von der Welt. Das geben die Konstruktivisten natürlich auch zu, aber sie sagen, die Welt sei unsere Konstruktion. Das stimmt nicht, weil die Korrelation zwischen der Welt und unseren Hirnkonstruktionen der Welt so hoch ist, dass ich nicht mehr sagen kann, das habe ich konstruiert: Es ist die Welt, die mein Gehirn konstruiert, nicht umgekehrt.

Z: Zumal ich ja mit meinem Gehirn in eine bereits vorfindbare Welt hinein geboren werde…

Birbaumer: … und das Gehirn ist zu Beginn eine Tabula Rasa. Nehmen sie ein Kind, sperren sie es 20 Jahre ein, es lernt nie Sprache, lernt nie Sozialverhalten, konstruiert keine Welt. Und unsere Patienten sind das in diesem Spätzustand. Die verändern sich psychisch in einer Reihe von Faktoren, aber sie können keine Welt mehr konstruieren. Aber mit Hilfe unseres Gerätes können sie es bis zu einem gewissen Grade.

Z: Wird es über solche oder ähnliche Schnittstellen möglich sein, direkt an Sinneszentren heranzukommen?

Birbaumer: Ja, natürlich. Wir experimentieren mit dem MEG, bei dem ich die Hirnaktivität sehr viel genauer, mit Zonen von 1 mm Größe, erfassen kann. Es lassen sich als auf 1 mm genau die Magnetfelder messen, die sich dann wieder kontrollieren lassen. Zwischen 10000 und 100000 Zellen können nach einem entsprechenden Lernprozeß reguliert werden. Damit können sehr spezifische Dinge verändert werden, z. B. einzelne Sinneseindrücke. Allerdings glaube ich nicht, dass sich diese Technik für Prothesen eignet, denn eine Sinnesprothese bspw. bei Blinden muß noch spezifischer sein. Dort müssen einzelne Nervenzellen angesprochen werden können, da kommen wir in der notwendigen Genauigkeit nicht ran.
Das ist aber auch nicht mein primäres Interesse. Als Psychologe interessieren mich Leistungsverbesserungen oder -verschlechterungen, Änderungen der Ausdehnungen kortikaler Felder, Verbesserung ganz spezifischer Lernleistungen. Für solche tatsächlich psychologischen Probleme oder für Krankheiten, bei denen solche Probleme eine Rolle spielen – Alzheimer‘sche Erkrankung, Epilepsie, Parkinson, alle chronisch-degenerativen neurologischen Erkrankungen. Dafür könnte unsere Methode in Zukunft von Nutzen sein.

Z: Herr Birbaumer, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das eingeschlossene Hirn – Teil 4

Ende der 1990er Jahre entwickelte der Tübinger Psychologe Niels Birbaumer ein computergestütztes Gedankenübersetzungsgerät. Das Gerät eröffnete Menschen mit dem Locked-In-Syndrom die Möglichkeit, wieder mit der Außenwelt zu kommunizieren, zu schreiben, das Licht im Zimmer an und aus zu schalten. Aus Anlass des Filmstarts von „Schmetterling und Taucherglocke“ (wieder)-veröffentliche ich ein Gespräch mit Birbaumer (Psychologie Heute 11/98) über die Neuroprothese, die dahinter stehende Lerntheorie und den Konstruktivismus.

Teil 3

Zettmann: Wie funktioniert das technische System, an das Sie die Patienten anschließen?

Birbaumer: Das EEG kommt als Gleichstromveränderung an einem speziellen Analog-Digital-Wandler an. Dort wird es auf digitale Einheiten zerlegt. Damit kann der Computer dann weiter rechnen.

Z: Wie viele Daten produziert das EEG in der Sekunde?

Birbaumer: Das hängt von der Digitalisierungsrate ab. Im Moment muß der Rechner pro Sekunde 1000 Daten vom Hirn verarbeiten. Dieselbe Datenmenge entsteht an den Elektroden am Auge. Das ist nicht soviel, das Problem ist die Geschwindigkeit. Sie müssen es dem Patienten in Echtzeit und in leicht faßlicher Form zurückmelden. Sie müssen die Daten filtern und glätten, denn das EEG produziert eine Menge Rauschen. Deswegen ist es so schwierig, die Selbstkontrolltechnik zu erlernen. Um das zu forcieren, verwenden wir Algorithmen, die die Leistungen der Patienten künstlich verbessern. Bei einem etwaigen Unterschied von 2 Mikrovolt meldet der Computer bereits 3 erreichte Mikrovolt zurück. Dann hinkt das Gehirn des Patienten ein wenig hinterher, ohne dass das zu extrem sein darf, weil das Gehirn das ansonsten erkennt und ermüdet. All das muß in Echtzeit passieren und erfordert sehr schnelle Rechner.

Z: Was kostet die gesamte mobile Einheit?

Birbaumer: Alles in allem kostet die Einheit DM 30000. Ein Gerät, mit Hilfe dessen über Muskeln kommuniziert werden kann, ist in etwa genauso teuer. Das ist der Preis für solche Neuroprothesen. Das zahlt die Krankenkasse über die Pflegeversicherung.

Z: Wie viele Patienten kämen in Frage?

Birbaumer: Es gibt keine Zahlen, denn die Diagnose des Lock-In-Syndroms alleine ist schon ein Problem. Wie kommen sie dahinter, dass der Mensch noch alles versteht, wenn der Mensch ihnen kein Signal geben kann? Wir wissen von rund 5000 bis 6000 ALS-Erkrankungen. Stastisch müßten es 100000 sein, die diese Erkrankung haben, sei es zu Hause, auf Intensivstationen, in Heimen. Sicherlich sterben sehr viele. Dennoch muß die Zahl groß sein, aber niemand will sie wirklich wissen.

Z: Sie testen ihre Geräte auch mit studentischen Versuchspersonen. Wie fasziniert sind die Testpersonen von der Apparatur?

Birbaumer: Anfänglich sind sie schon sehr fasziniert. Studenten und andere Versuchspersonen beteiligen sich gern. Aber es ist so wie mit einem Computerspiel. Sie kaufen sich ein Computerspiel, sie machen es drei Tage, dann legen sie es weg, weil es langweilig geworden ist. Das ist typisch für Biofeedback-Anordnungen. Die sind anfänglich interessant, dann merkt man, es bringt nicht viel, dann legt man es wieder weg. Die Motivation hält bei Normalpersonen nicht lange an. Nach ein paar Sitzungen müssen wir denen schon sehr viel Geld geben, damit sie weitermachen. Bei Patienten ist die Situation anders, die versprechen sich ja etwas davon.

Z: Welche Rückmeldungen bekommen sie von den Patienten, wenn sie sie in die Lage versetzen, wieder mit der Außenwelt in Verbindung zu treten? Wie motiviert sind die Patienten, das Training auf sich zu nehmen?

Birbaumer: Damit sprechen sie ein heikles ethisches Problem an. Es ist so, dass die meisten Patienten, die solche Krankheiten haben, bevor sie beatmet werden, rechtlich entscheiden können, ob sie weiterbeatmet werden wollen oder nicht. Die meisten Patienten entscheiden sich unter dem Einfluß der Ärzte oder der Angehörigen nicht für das Weiterleben. D.h. wir haben hier eine relativ selegierte, kleine Gruppe von Menschen, die sich entweder unter unserem oder anderem Einfluß entschieden hat, sich beatmen zu lassen und weiter zu leben, auch in diesem gelähmten Zustand. Das sind also schon Menschen, die eine extrem hohe Überlebens- und Motivationsfähigkeit haben. Die Mehrheit entscheidet sich für den Tod, meiner Meinung aufgrund falscher Informationen und leichtfertigem Umgang mit diesem Problem. Deswegen haben wir Patienten, die hoch motiviert sind, wieder mit der Umgebung zu kommunizieren. Die haben auch ihre Tiefs wie wir alle. Es gibt Studien, die den psychischen Zustand, die Depression dieser Patienten messen. Und sie unterscheiden sich nicht von einer normalen Kontrollgruppe, die sind wie sie und ich. Obwohl sie beatmet über Jahre in einem Stuhl sitzen und sich nicht mehr bewegen können sind diese Menschen nicht depressiver als sie.
Das wird immer übersehen, wenn man mit den Leuten redet. Wenn man das nicht kennt, macht man sich natürlich nur furchtbare Vorstellungen, denkt sich, was das wohl für ein grauenhafter Zustand ist. Der Mensch gewöhnt sich an vieles, so auch an das.

Z: Welche weiteren psychischen Effekte resultieren aus den Biofeedback-Anordnungen?

Birbaumer: Ein Effekt des Selbstkontrolltrainings, den ich nicht beweisen kann, weil wir viel zu wenige Fälle haben, scheint mir, dass die Patienten munterer, aktiver werden, dass sie stärker mit der Umgebung interagieren. Bei der Epilepsie konnten wir zudem zeigen, dass es nicht nur zu einer Reduktion der Anfälle kommt, sondern dass als positiver Begleiteffekt der IQ um bis zu 15 Punkte ansteigt. Als Nebeneffekt des Selbstkontrolltrainings werden andere Gehirnfunktionen positiv beeinflußt.

Z: Wie reagieren ihre medizinischen Kollegen auf ihre Ergebnisse?

Birbaumer: Sie wissen wie das in der Wissenschaft ist, gerade wenn sie Psychologe sind: Sie müssen das einem medizinischen Kollegen lückenlos nachweisen, am besten mit einer Doppelblindstudie – und das können wir nie.

Z: Werden ihre Ergebnisse nicht für glaubwürdig gehalten?

Birbaumer: Doch, die Mediziner glauben mir jetzt. Die glauben auch an das Epilepsie-Ergebnis, deswegen setzen sie die Biofeedback-Technik zur Anfallsvermeidung trotzdem nicht ein. Auch andere Trainingsmaßnahmen für verschiedenste Erkrankungen werden nicht verwendet, obwohl es viel billiger wäre als das Leiden konventionell einzudämmen. Doch das interessiert niemanden.

Z: Woran liegt das?

Birbaumer: Das Hauptproblem ist, dass die medizinischen Kollegen uns nicht verstehen und umgekehrt die Psychologen die Mediziner nicht verstehen, weil sie zwei völlig verschiedene Sprachen sprechen. Die Idee, dass ein biologisches Substrat wie das Hirn oder ein Muskel so funktioniert wie das Verhalten, erschließt sich einem Mediziner nicht. Umgekehrt ist es nicht anders: Welcher Psychologe interessiert sich für das Gehirn? Welcher Psychologe hat ein wirkliches Verständnis von organischen Erkrankungen? Die laufen beide nebeneinander her. Doch wenn sie sich umschauen: Was machen Psychologen? Psychotherapie, Partnerschaftsprobleme, Alltagsprobleme. Um ernsthafte Erkrankungen, für die die Psychologie durchaus Lösungen zu bieten hat, kümmern sich Psychologen nicht. Wir haben Schmerztherapien entwickelt für verschiedenste Schmerzzustände, wir haben für rein organische Erkrankungen, für Skoliose und Rückenmarksverkrümmungen Techniken entwickelt. Das interessiert keine Psychologen. Das nehme ich den Psychologen viel übler als den Medizinern. Wenn Mediziner das hören, sagen die wenigstens, das ist toll. Aber machen mußt du das selber, denn wir verstehen nichts von der Lernpsychologie. Ich würde es gern machen, aber ich brauche einen Psychologen dazu. Und die sagen dann zu mir, das interessiert uns nicht, wir behandeln Partnerschaftsprobleme. Deswegen bin aus dem Verein ausgetreten und will mit denen nichts mehr zu tun haben. Die Psychologen wissen nicht, wozu sie da sind, was ihre gesellschaftliche Funktion ist.
Finden sie mir einen Psychologen, der die Lernprinzipien noch kennt. Für die Multiplikation dieser Sache sind die Psychologen absolut essentiell. Mediziner verstehen nur die Lernprinzipien nicht. Beibringen kann man das im Prinzip jedem, aber damit umzugehen, das Fingerspitzengefühl entwickeln, wann kann ich eine Shaping-Prozedur anwenden…

Z: Beschäftigt sie als Psychologe der Gedanke, welche Auswirkungen direkte Schnittstellen auf die menschliche Identität haben könnten?

Das eingeschlossene Hirn – Teil 3

Ende der 1990er Jahre entwickelte der Tübinger Psychologe Niels Birbaumer ein computergestütztes Gedankenübersetzungsgerät. Das Gerät eröffnete Menschen mit dem Locked-In-Syndrom die Möglichkeit, wieder mit der Außenwelt zu kommunizieren, zu schreiben, das Licht im Zimmer an und aus zu schalten. Aus Anlass des Filmstarts von „Schmetterling und Taucherglocke“ (wieder)-veröffentliche ich ein Gespräch mit Birbaumer (Psychologie Heute 11/98) über die Neuroprothese, die dahinter stehende Lerntheorie und den Konstruktivismus.

Teil 2

Zettmann: Wann hatten sie die Idee, auf diese Weise das Problem völlig fehlender Motorik zu umgehen?

Birbaumer: Weil das Problem auf der Hand liegt, haben das schon viele andere Leute auch versucht. Aber das mit den LKPs auf diese Weise zu versuchen, kam mir im Zusammenhang mit den Epileptikern. In der Epilepsie finden sie auch oft Zustände, in denen der Kranke völlig weg ist, während eines Anfalls oder auch im Schlaf. Dabei haben wir erkannt, dass die Leute auch in einem solchen Zustand ihre Selbstkontrolle beibehalten können. Selbst im Schlaf oder nach einem Anfall können Epileptiker ihr Gehirn wieder in den Griff bekommen. Oder auch ganz kurz vor dem Anfall, wenn es schon kurz vor der Explosion ist, können die das beherrschen. Daraus folgerte ich, dass sich diese Art der Selbstkontrolle auch für schnelle Kommunikationsequenzen wie Sprache einsetzen läßt. Wobei gegenwärtig die Kommunikationsgeschwindigkeit sehr langsam ist.

Z: Im Schnitt 80 Sekunden, um einen Buchstaben zu bestätigen…

Birbaumer: Wir hoffen, dass wir die Zeiten verringern können. Aber der Prozeß ist auch sehr anstrengend, so dass die Patienten meist nur eine Stunde über das Gerät kommunizieren können. Dann brauchen sie eine Stunde Pause, dann können sie wieder.

Z: Sie nennen das Ziel ihrer Forschungen, die elektrische Hirnaktivität zur willentlichen Steuerung von Schaltern und Computern und Sprache einzusetzen. Wie nah sind sie dem Ziel?

Birbaumer: Wir haben die Locked-In-Patienten, die vollständig gelähmt sind und künstlich ernährt und beatmet sind. Ein Teil der Patienten kann das wohl, aber diese Fertigkeit ist im Moment noch sehr labil, d.h. sie machen immer noch relativ viele Fehler. Wir müssen also Strategien finden, wie wir diese Fehler ausschalten. Daran arbeiten wir im Moment. Wir müssen die Patienten trainieren und verändern die Programme so, dass sie eine mindestens 90%ige Kontrolle über die Hirnaktivität haben, denn nur dann können sie solche Schalter oder solche Buchstabensysteme fehlerlos bedienen.

Z: Körperliche Entspannung ist nicht vorteilhaft für die Aktivität und Kontrolle der Potentiale. Welche Strategien eignen sich am besten, die LPKs zu beeinflussen?

Birbaumer: Wir fanden heraus, dass Strategien kognitiver Natur, die das Denken verwenden, Gedanken, besser sind, als Strategien, die körperliche Sachen verwenden.
Das Gehirn selbst hat keine Rezeptoren, die Sinnesorgane sind die Rezeptoren des Gehirns, es fehlen ihm die Fühler für die eigene Tätigkeit, wie sie den Muskeln zur Verfügung stehen. Dennoch muß das Gehirn, wenn es sich selber kontrollieren will, herausfinden, mit welcher Strategie die Negativierung erreicht wird. Dafür sind Gedanken notwendig, nicht Körperzustände. Bei den Gelähmten nicht, aber prinzipiell kann ich mit dem Heben einer Zehe ein bestimmtes Areal aktivieren. Aber die Aktivierung ist sehr klein. Deswegen müssen sich die Patienten Gedanken zurecht legen, deswegen braucht das Gehirn ein, zwei Sitzungen bis es herausfindet, wie es das am besten regelt. Wenn sie die Peripherie dazu verwenden (Atmung, Augenbewegung, Blutdruck steigern usw.) würden jedesmal Störfaktoren auf den Gedanken gesetzt. Es kämen also neue Informationen aus der Peripherie, die das Gehirn ablenken.
Deswegen dachten wir zuerst, meditativ entspannte Leute sind gut. Doch heute ist uns klar, dass auch die völlige Entspannung das Gehirn stört. Denn auch die völlige Entspannung muß über eine Strategie erreicht werden, die die Muskeln hemmt und schlaff hält. Wenn das einhergeht mit einer Leere der Gedanken so erzeugt das eine Positivierung. Das tun viele unserer Patienten.
Am besten funktioniert ein abgeschlagener Kopf. Wenn ich das Gehirn in eine Kühltruhe lege, wären die Einflüsse am geringsten. Unsere Patienten haben, obwohl sie praktisch nur Köpfe sind, mehr Schwierigkeiten. Zwar werden sämtliche Reize weiterhin ins Hirn geleitet, die Patienten spüren alles, sie können sich eben nur nicht mehr bewegen. Doch die Mehrzahl der Zellen im vorderen Hirnabschnitt sind tot. Wir haben Gehirne vor uns, die schwerst geschädigt sind. Das ist das wirkliche Problem, denn wir haben einen Verlust von 30-40% der Hirnzellen.

Z: Der Frontallappen darf jedoch nicht ausgefallen sein.

Birbaumer: Genau, das haben wir festgestellt. Der ist auch bei unseren Patienten intakt, aber es gehen viele Zellen verloren. Deswegen haben wir Schwierigkeiten, um die wir nicht umhin kommen. Sie lernen es trotzdem, aber langsam

Z: Wie viele Elektroden werden für das Messen der Hirnaktivitäten angeschlossen?

Birbaumer: Für das Training selbst kleben wir eine aktive Elektrode am Zentrum des Kopfes, dem Vertex (Scheitel). Wenn die Leute das 24 Stunden haben wollen, kleben wir eine Elektrode unter die Haut, zementieren sie sozusagen dauerhaft am Scheitel ein. Dort hinein wird dann der Stecker gesteckt, um den Patienten mit der Maschine zu verbinden. Weiterhin kleben wir zwei Referenzelektroden hinter den Ohren und zwei Augenelektroden, um die Augenbewegungen messen zu können. Falls der Patient mit den Augen noch etwas sagen kann, können wir im Zweifelsfall auf die Augen umschalten.

Z: Eröffnet vor allem der Computer diese neuen Kommunikationsmöglichkeiten?

Birbaumer: Ohne Rechner ist das alles ausgeschlossen. Die Programme sind hoch kompliziert und brauchen eine sehr hohe Rechengeschwindigkeit. Es werden gleichzeitig die gesamten Hirndaten erfaßt und es müssen wegen der Artefakt-Einflüsse die Augenbewegungen genau registriert werden. Der Computer vergleicht ständig, ob der Zielzustand erreicht ist. Wenn der Patient richtig reagiert, muß der Computer Buchstaben oder Worte oder Wortsequenzen darbieten. Die Sprachprogramm sind sehr komplex, jeder Patient hat sein eigenes Lexikon. Das Programm ist so beschaffen, dass der Computer in einer bestimmten Sequenz Buchstaben anbietet, dann setzt der Patient die Anfangsbuchstaben zusammen. Aus dem Lexikon des Patienten wählt der Computer dann das richtige, vollständige Wort aus. Ansonsten dauerte das zu lange. Gleichzeitig verarbeitet der Computer permanent die Hirnaktivität. Es muß ein kleiner Rechner sein, denn Patienten liegen zu Hause oder auf der Intensivstation, alles muß in ein kleines Wohnzimmer passen. Das wäre ohne die moderne Computertechnologie nicht einmal anzudenken, ausgeschlossen.

Z: Wie funktioniert das technische System, an das sie die Patienten anschließen?

Teil 4 erscheint am 01.04.

Bisher erschienen:
Teil 1
Teil 2

Das eingeschlossene Hirn – Teil 2

Ende der 1990er Jahre entwickelte der Tübinger Psychologe Niels Birbaumer ein computergestütztes Gedankenübersetzungsgerät. Das Gerät eröffnete Menschen mit dem Locked-In-Syndrom die Möglichkeit, wieder mit der Außenwelt zu kommunizieren, zu schreiben, das Licht im Zimmer an und aus zu schalten. Aus Anlass des Filmstarts von „Schmetterling und Taucherglocke“ (wieder)-veröffentliche ich ein Gespräch mit Birbaumer (Psychologie Heute 11/98) über die Neuroprothese, die dahinter stehende Lerntheorie und den Konstruktivismus.

Teil 1

Zettmann: Sie verwenden langsame kortikale Potentiale (LKP), um den Patienten Kontrolle über Hirnaktivitäten zu ermöglichen. Was sind das für Ströme und warum eignen sie sich besonders, von vollständig Gelähmten kontrolliert zu werden?

Birbaumer: Langsame kortikale Potentiale sind relativ langsame elektrische Veränderungen der obersten Hirnrindenschichten. Ich habe diese Potentiale immer untersucht, weil sie die Grundlage der Erregungsbereitschaft der Nervenzellen darstellen. Mich hat früher interessiert, was passiert, wenn ein bestimmter Teil des Gehirns in einen solchen Mobilisierungs- bzw. Erregungszustand versetzt wird, wie wirkt sich das auf Verhalten aus, denn jedes Verhalten läßt sich auf einen Zustand der Erregungserhöhung in bestimmten Hirnarealen zurückführen. Die langsamen Hirnpotentiale sind wahrscheinlich die physiologische Basis dieses Mobilisationszustandes der Nervenzellen. Zudem korrelieren sie sehr gut mit Verhalten, und als Psychologen sind wir ja stets daran interessiert, Maße zu finden, die mit Verhalten gut zusammenhängen. Die LKPs hängen nun mit Aufmerksamkeitszuwendung oder -abwendung, mit Mobilisierung für Bewegungen, mit Mobilisierung für Gedanken oder für Gefühle eng zusammen.

Z: Kommt diese Erregungsvielfalt zustande, weil es sich bei den LKPs um ein ausgedehntes System handelt, das sich in vielen Hirnregionen finden läßt?

Birbaumer: Genau, es ist ein relativ unspezifisches System, das sich in vielen Hirnregionen registrieren läßt. Jedesmal, wenn ein bestimmte Hirnregion in einen Zustand der erhöhten oder erniedrigten Erregung gelangt, sehen sie eine elektrische Negativierung oder Positivierung im Gehirn. Die können sie im EEG (Elektroenzephalogramm) oder im MEG (Magnetoenzephalogramm) relativ problemlos messen, wenngleich es nicht so einfach ist, wie das normale EEG, denn es gibt ein paar technische Schwierigkeiten, welche die meisten Leute nicht beherrschen, darum gibt es wenige Leute, die sich damit befassen.
Langsame Hirnpotentiale sind keineswegs meine Entdeckung, sie werden bereits seit 70, 80 Jahren nachgewiesen. Weil diese Potentiale so gut mit Verhalten korrelieren, lag es nahe, sie zu konditionieren. Es lag nah, herauszufinden, was passiert mit unserem Verhalten, unserem Denken, wenn wir diese Potentiale verändern. Veränderbar sind die LKPs auf verschiedene Weise: Pharmakologisch, durch Darbietung bestimmter Reize oder durch selbstkontrollierende Veränderung. Selbstkontrolle ist nur über operantes Konditionieren zu erzielen. Deswegen konditionieren wir diese Potentiale, in dem wir die Patienten dafür belohnen, dass sie sie produzieren, systematisch über viele Sitzungen. Wenn die Patienten diese Selbstkontrolle erlernt haben, können sie selbst bestimmte Hirnareale entweder erregen oder hemmen, lokal einen bestimmten Teil des Gehirns. Damit kann man Verhalten verändern oder epileptische Anfälle verhindern. Jetzt möchten wir, dass man das nutzt, um Menschen, die vollständig eingeschlossen sind, gelähmt sind, Patienten, die in einer Art Komazustand sind, doch zu erlauben, wieder mit ihrer Umgebung zu kommunizieren.

Z: Was ist unter kortikaler Negativierung und kortikaler Positivierung zu verstehen?

Birbaumer: Im Gehirn entsteht eine Negativierung dann, wenn die Zellen depolarisiert werden, d.h. wenn die Ladung der Zellmembran so verschoben wird, dass die Zelle ladungsbereit ist. Diese Ladungsbereitschaft der Zelle äußert sich in einer Negativierung, und wenn die Zelle ihre Ladungsbereitschaft verhindert, wenn sie in einen Zustand der Passivität oder der Hemmung verfällt, dann verändert sie sich hin zu einer Positivierung. Diesen Zustand der Erregungsbereitschaft und Erregungshemmung kann ich nun für ein Areal etwa in einem Umkreis von 1 cm im EEG und im MEG bis auf wenige Millimeter genau messen. Da unsere Patienten entweder zu Hause oder auf Intensivstationen liegen, brauchen wir portable Geräte, deswegen können wir das MEG dort nicht verwenden, auch wenn dies wegen der höheren Genauigkeit viel besser wäre.
Mit einer Negativierung sind also die Zellen erregungsbereit, und wenn dann ein Gedanke oder eine Bewegung ausgeführt werden soll, dann wird sie besser ausgeführt, wenn die Zelle negativ ist. Wenn sie positiv ist, wird es schlechter. Das Verhalten, also die Verhaltensbereitschaft und die Verhaltenseffizienz hängen davon ab, ob die Areale, die mein Verhalten steuern, negativ geladen sind. Wenn sie das sind, dann wird die Effizienz dieses Zellsystems, zu feuern und das Verhalten zu bewirken, besser. Wobei das für die Experimente mit den Gelähmten überhaupt keine Rolle spielt, weil wir von denen nur ein Signal aus dem Hirn erkennen wollen, das stimmt, das jedesmal funktioniert. Und dafür ist es uns egal, ob das positiv ist oder negativ.

Z: Wie lassen sich die Hirnpotentiale unter Kontrolle bringen? Welches Setting haben Sie, um operant zu kondtionieren?

Birbaumer: Das ist immer gleich. Die Patienten schauen auf den Bildschirm und sehen dort ihre langsamen Hirnpotentiale im Abstand von 2 bis 8 Sekunden in Form einer Rakete oder in Form eines Balles oder auch eines freundlichen Computers. Die Patienten sehen das über den Bildschirm laufen. Der Computer weist an, mach das Hirn negativ für 2 Sekunden, und der Patient muß eine Negativierung produzieren.

Z: Wie geschieht das?

Birbaumer: Ganz genau wissen wir das nicht. Jeder Mensch entwickelt dafür seine eigene Strategie. Jeder Mensch erzählt ihnen da eine eigene Geschichte, wie er das macht. Uns interessiert nur, dass es funktioniert. Die Patienten beobachten also die LKPs auf dem Bildschirm. Wenn das Potential eine bestimmte Höhe erreicht hat, dann fliegen der Ball oder die Rakete entweder in ein Tor oder der Bildschirm leuchtet auf oder das Gesicht lacht. Richtig Skinnerianisch.
Oder aber, wenn sie eine Positivierung produzieren sollen, dann erscheint bspw. ein B, wenn die Negativierung als A erscheint. Die Aufgabe ist dann, in zwei Sekunden eine Positivierung zu erzeugen. Und wenn der Mensch innerhalb von 2 Sekunden 5 Millionstel Volt positiv erreicht, bekommt er eine der genannten Belohnungen. Das wiederholt sich pro Sitzung etwa 150 mal. Dann wird der Bildschirm abgeschaltet und der Computer gibt nur noch aus, im Wechsel ein negatives und ein positives Signal zu erzeugen, ohne Belohnung und ohne Rückmeldung, so dass die Patienten das auch ohne diese Hilfen können. Meistens können sie es ohne Feedback sogar besser. Am Anfang braucht man das Feedback aber, um ein Gefühl zu bekommen, wie man die Potentiale kontrolliert. Die individuelle Strategie der Kontrolle muß zuerst gefunden werden.

Z: Wann hatten sie die Idee, auf diese Weise das Problem völlig fehlender Motorik zu umgehen?

Fortsetzung: Teil 3

Locked-In-Syndrom – das eingeschlossene Hirn

Heute startet der Film „Schmetterling und Taucherglocke„, Regie Julian Schnabel. Der Film nimmt sehr konsequent die Perspektive eines Menschen ein, der an einem so genannten Locked-In-Syndrom leidet: Sämtliche Muskeln (hier: bis auf ein Augenlid) sind gelähmt (nun ja, im Film hängt der Schauspieler nicht an einer Herz-Lungen-Maschine…). Kommunikation ist, wenn überhaupt, nur noch sehr eingeschränkt möglich.

Ende der 1990er Jahre entwickelte der Tübinger Psychologe Niels Birbaumer ein computergestütztes Gedankenübersetzungsgerät. Das Gerät eröffnete Menschen mit dem Locked-In-Syndrom die Möglichkeit, wieder mit der Außenwelt zu kommunizieren, zu schreiben, das Licht im Zimmer an und aus zu schalten. Aus Anlass des Filmstarts (wieder)-veröffentliche ich ein Gespräch mit Birbaumer (Psychologie Heute 11/98) über die Neuroprothese, die dahinter stehende Lerntheorie und den Konstruktivismus.

Zettmann: Mit Hilfe einer Biofeedback-Anordnung und eines leistungsstarken PC stellen Sie Patienten und Patientinnen, deren Motorik durch chronisch-degenerative Nervenerkrankungen komplett ausgefallen ist, deren Gehirn aber weiterhin Informationen verarbeitet, ein von Ihnen so genanntes Gedankenübersetzungsgerät zur Verfügung, mit dem diese Menschen wieder mit der Außenwelt kommunizieren können. Wie können Sie erfahren, dass ein Gelähmter eingeschlossen ist, wenn Sie nicht mit demjenigen kommunizieren können?

Birbaumer: Im Prinzip gar nicht, außer es steht ein System zur Verfügung, mit dem sich diagnostizieren läßt, inwieweit die Informationsverarbeitung des Patienten funktioniert. Wir testen gerade ein System, das zunehmend komplizierte Reize darbietet und die Hirnaktivität ableitet. Aus der Form der Hirnaktivität läßt sich erschließen, ob diese komplexen Reize noch verarbeitet werden. Das beginnt mit einfachen Tönen, die sich abwechseln, über den Namen des Patienten zu Sätzen, die syntaktische und semantische Fehler enthalten. So wird eine Hierarchie der Reize dargeboten. Das System leitet die Hirnaktivität ab und hinterher kann man sagen, inwieweit die Patienten die Informationen verstehen. Für diese Diagnose brauche ich dann kein willentliches Signal von den Patienten mehr. Anschließend kann das Training mit dem Gedankenübersetzungsgerät beginnen.

Z: Sie vergleichen also die bekannten Reiz-Reaktionen eines nicht-geschädigten Hirns mit den gemessenen Werten eines Patienten?

Birbaumer: Genau, die Normalwerte sind als kartographiert, die Potentialformeln sind bekannt. Mich wundert, dass das noch niemand gemacht hat. Wir haben die Literatur gesucht, aber keine gefunden. Technisch möglich ist das seit 30 Jahren.

Z: Für welche hirnorganischen Syndrome ist die Anwendung geeignet?

Birbaumer: Unser Gerät erfordert ein intaktes Großhirn. Bei Patienten mit apallischem Syndrom ist das nicht der Fall. Allerdings ist die gesamte Definition des apallischen Syndroms problematisch. Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit, dass sich jemand in einem apallischen Syndrom befindet. Es kann also sein, dass ein Mensch als Apalliker behandelt wird, weil angenommen wird, dass die Gehirnrinde nicht mehr funktioniert. In diesem Zustand kann man natürlich leben, aber für diejenigen ist unser Gerät nicht geeignet.
Es gibt jedoch pseudo-komatische oder auch echte komatische Zustände, bei denen Teile der Hirnrinde intakt sind, der Patient aber nur deswegen nicht kommunizieren kann, weil alle Muskeln gelähmt sind, weil die ganze Motorik weg ist. Dann werden diese Leute häufig als im Koma liegend bezeichnet, aber man ist dann immer wieder überrascht, wenn die Leute nach Jahren aus dem Koma aufwachen, welche Geschichten die dann erzählen. In einzelnen Fällen geschieht es, dass Patienten als Apalliker diagnostiziert werden, obwohl sie sich in einem Lock-In Zustand befinden, in Wirklichkeit also intellektuell völlig intakt sind.
Das Gerät wird somit auch für diese Patientengruppe entwickelt, aber primär für Patienten, die an chronischen neurologischen Erkrankungen leiden, die im Endzustand zu einem Locked-In-Syndrom führen – und das werden heutzutage immer mehr, weil die Patienten mit den verfügbaren lebenserhaltenden Maßnahmen am Leben erhalten werden können. Krankheiten wie die amyotrophe Lateralsklerose oder verschiedene Muskeldystrophien führen im Endzustand zu völliger Lähmung, einschließlich der Augenmuskeln. Die Leute müssen künstlich ernährt und beatmet werden, sind aber intellektuell völlig intakt. Sie können denken, sehen, hören, fühlen – sie können nur nichts wiedergeben, nicht einmal mit den Augen blinzeln.
Solange wir irgendwo im Körper noch einen Muskel finden, bevorzugen wir den Muskel gegenüber dem Gehirn als Signalgeber, weil die Muskeln in der Regel viel zuverlässiger arbeiten. Aber bei unseren Patienten funktionieren die nicht mehr gut. Wir sehen sie zu einem Zeitpunkt, wo die Muskeln noch funktionieren, da kommunizieren wir über die Augenmuskeln mit ihnen. Aber wir sehen bei Patienten, die schon viele Jahre künstlich beatmet und ernährt werden, dass nach kurzer Zeit die Muskeln so fehlerhaft werden, dass wir darüber auch nicht mehr kommunizieren können. Auch wenn sie noch Kontrolle haben, ermüden sie so schnell, so dass wir dann aufs Gehirn schalten müssen.

Z: Sie verwenden langsame kortikale Potentiale (LKP), um den Patienten Kontrolle über Hirnaktivitäten zu ermöglichen. Was sind das für Ströme und warum eignen sie sich besonders, von vollständig Gelähmten kontrolliert zu werden?

Teil 2

Gespräch mit Joseph Weizenbaum – Teil 4

Am Mittwoch letzter Woche (05.03.08) ist der Hacker, Computerphilosoph und Gesellschaftsanalytiker Joseph Weizenbaum gestorben. Ich habe ihn 1998 besucht, um ihn für die Zeitschrift Psychologie Heute (Heft 12/98) zu interviewen. Ich veröffentliche das ausführliche Gespräch erneut, verteilt über vier Blogeinträge. Es hat wenig von seiner Aktualität eingebüßt, obwohl es entstanden ist, bevor Internet, Handy und Laptop zu wirklichen Massenphänomen wurden. Zeitlos also das Gespräch, trotz der rasanten Entwicklungen gerade in diesem Bereich und ein Zeichen dafür, wie werthaltig Weizenbaums Betrachtungen sind.

Teil 3 12.03.08, Fortsetzung:

Zettmann: Der Erfolg führt uns in das Dilemma, daß der Computer menschliche Tätigkeiten und damit Fähigkeiten und Fertigkeiten entweder entwertet oder gänzlich abschafft.

Weizenbaum: Es mußte so kommen und es war schon lange absehbar, wenn man sich schon früher kritisch damit auseinandergesetzt hätte. Ich habe an der Wayne-University in Detroit studiert. Dort habe ich 1951 meinen ersten Computer zusammengebaut. Damals bin ich mit einigen anderen Assistenten zur Automobilgewerkschaft gegangen, um den Leuten zu sagen, daß der Computer die gesamte Branche verändern wird. Darauf sollten sie vorbereitet sein. Wir nahmen uns damals die entsprechende Zeit, um kritisch über die Auswirkungen solcher Entwicklungen nachzudenken. Wer sollte die Kritik sonst ausüben, wenn nicht jene Leute, die mit diesen Dingen arbeiten?

Angesichts meiner kritischen Haltung werde ich oft gefragt, wie ich weiter lehren kann? Denn ich lehre Computersprachen und die werden dann in Waffensystemen verwendet. Wie kann ich das vertreten, werde ich gefragt. Aber es ist ganz einfach: Wir brauchen Leute, die den Computer und die kritisch damit umgehen und darüber nachdenken kann. Wer sonst? Am besten ist es, die kritische Herangehensweise von Lehrern zu vermittelt zu bekommen, die durch ihre Haltung etwas Tiefe rüberbringen.

Z: Gibt es so eine Art innerer psychischer Bereitschaft, all den Versprechungen der Industrie zu glauben – und eben nicht kritisch zu hinterfragen.

W: Ich glaube ja, so eine Bereitschaft gibt es, denn das hat auch etwas mit Wünschen zu tun: Man wünscht sich, daß das Leben leichter wird. Aber es hat auch etwas mit einer Art emotionaler und intellektueller Faulheit zu tun. Das Leben ist leichter, wenn wir uns nicht mit solchen Dingen beschäftigen. Vielleicht müßte man sich irgendwann einmal bemühen, nicht an diese fürchterlichen Sachen zu denken. Wenn man etwas nicht sehen will, dann sieht man es nicht, auch wenn es da ist – selektive Wahrnehmung. Wenn man sich daran gewöhnt hat, nicht zu sehen, wenn man einfach Harmonie haben möchte…

Ich glaube der Wunsch, in Frieden gelassen zu werden, auch sich selber in Frieden zu lassen, eben nicht an solche Sachen zu denken, die das innere Gleichgewicht stören, ist sehr weit verbreitet. Man lebt allerdings auf einer trivialen Ebene. Der Preis wird jedoch schließlich sehr hoch. Sie sehen das in der Welt: Wir entwickeln uns von einer Krise zur anderen. Der amerikanische Präsident Johnson hat damals die Öffentlichkeit über die Kosten des Krieges in Vietnam belogen. Hätte er die Wahrheit gesagt, hätte die Bevölkerung wohl gesagt, nein, wir brauchen das Geld für andere Sachen, das Engagement ist teuer – unabhängig davon, ob der Krieg gerechtfertigt werden kann oder nicht. Zu Lügen war das einfachste zu tun, denn es störte die Menschen nicht in ihrer Ruhe auf. Warum reden wir überhaupt von solch furchtbaren Sachen, die unsere innere Harmonie aus dem Gleichgewicht bringen?

Wenn ich zurückblicke und an mein eigenes Leben denke, dann habe ich in einer Zeit gelebt, in der es eine breite Schicht von Menschen relativ leicht gehabt hat – in Amerika. In einem solchen Middle-Class-Leben kaufte man sich ein Auto, eine Wohnung, Air-Con, machte Urlaub. Eine große Masse der Menschen brauchte keine Erfahrungen damit zu machen, was es bedeutet, zu hungern. In dieser Zeit haben meine Frau und ich Kinder bekommen. Die Kinder mußten nichts für das Essen tun, es gab keinen Kampf ums Dasein. Die Welt war da, und lieferte das, was man haben mochte. In der Universität habe ich gesehen, daß Kinder keinerlei Noterfahrung mehr gemacht haben. Daraus beginnen die Kinder zu extrapolieren für das eigene Leben: Man braucht sich nicht zu bemühen. Vielleicht in anderen Teilen der Welt, in Indien und Afrika, dort gibt es Hunger, aber das hat nichts mit ihnen zu tun. Sie haben die Erfahrung, daß es entscheidend ist, welche Art von Turnschuhmarke diejenige ist, die in der Schule getragen werden sollte.
Diese Generation ist jetzt erwachsen. Die haben nicht gelernt, hinter die Kulissen zu gucken, weil vieles zu leicht war. Am MIT beispielsweise, der Universität, an der ich lehre, gibt es eine ganze Menge Studenten, die wußten bereits mit 10 Jahren, daß sie an dieser Hochschule studieren werden. Sie hat einen sehr guten Ruf, die Studenten werden sorgfältig ausgewählt. Das heißt, die Kinder mußten gute Noten bekommen, weil Daddy wollte, daß sie am MIT studieren. Sie produzieren die guten Noten, überstehen das Auswahlverfahren. Nun kommen junge Menschen an diese Hochschule, die niemals in ihrem Leben gescheitert sind, die immer zu den besten 5% ihres Jahrgangs gehörten. Am MIT treffen sie nun auf ihre Konkurrenz, und plötzlich sehen sich viele von ihnen Scheitern, erleben Enttäuschung und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen, weil es ihre bisherige Erfahrung übersteigt.

Z: Wie läßt sich das, was mit solchen Erfahrungen verbunden ist, in unsere Leben holen, ohne jemanden zum Hungern zu zwingen oder eine andere Notsituation zu erzeugen?

W: Früher sind Leute mit dem Peace-Korps nach Afrika geschickt worden. Die wissen, was Not ist, die nehmen persönliche Unbequemlichkeit in Kauf, weil sie nicht einfach den Wasserhahn aufdrehen können, um zu trinken. Sie fragen nach einer Lösung, aber eine einfache Lösung gibt es nicht. Viel hängt von den Eltern ab und was die Kinder von ihnen mitbekommen haben. Als meine Kinder zur Schule gegangen sind, wohnte ich in Concord, Massachussetts. Das ist ein sehr geschichtsträchtiger Ort, weil dort der erste Schuß der amerikanischen Revolution abgefeuert wurde. Wir wohnten in einer Gegend, Upper-Middle-Class, in der die meisten Menschen aufstrebten, auf dem Weg nach oben waren. Meine Frau war mit einer anderen Frau befreundet, die sechs, sieben Häuser weiter wohnte. Ihr Mann arbeitete in einer Rüstungsfirma. Er war dreiviertel der Zeit im Jahr unterwegs, weltweit. Er hat an der Einrichtung von Raketen mitgearbeitet und die Leute mit ausgebildet, die sie bedienen sollten. Ich habe keine Ahnung, was er seinen Kindern geantwortet hat, wenn sie ihn fragten, womit er eigentlich sein Geld verdiente. Doch die Familie war intakt, niemand brauchte Hunger zu leiden. Aber was haben die Kinder gelernt über die Schwierigkeiten in der Welt und darüber, was Papa macht. Es war leicht, ein Tag nach dem anderen.
Wo sollen Kinder etwas lernen, wenn nicht zu Hause? Für den Raketeningenieur ergeben sich zwei Möglichkeiten: Entweder er erklärt es einfach nicht, was er da macht oder er erklärt mit großer Selbstverständlichkeit, dies sei ein ganz normaler Job, und findet, daß diese Massenmordmaschinen ganz in Ordnung seien.

Z: Herr Weizenbaum, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Gespräch mit Joseph Weizenbaum – Teil 3

Am Mittwoch letzter Woche (05.03.08) ist der Hacker, Computerphilosoph und Gesellschaftsanalytiker Joseph Weizenbaum gestorben. Ich habe ihn 1998 besucht, um ihn für die Zeitschrift Psychologie Heute (Heft 12/98) zu interviewen. Ich veröffentliche das ausführliche Gespräch erneut, verteilt über vier Blogeinträge. Es hat wenig von seiner Aktualität eingebüßt, obwohl es entstanden ist, bevor Internet, Handy und Laptop zu wirklichen Massenphänomen wurden. Zeitlos also das Gespräch, trotz der rasanten Entwicklungen gerade in diesem Bereich und ein Zeichen dafür, wie werthaltig Weizenbaums Betrachtungen sind.

Teil 2 11.03.08, Fortsetzung:

Zettmann: Wenn keine Computerkabinette, was soll die Schule dann leisten?

Weizenbaum: Die Grundfrage überhaupt ist die danach, was die Schule in unserer Gesellschaft für Funktionen hat. Wenn man das irgendwie beantwortet hat, kann man sich fragen, wie man die Prioritäten gestaltet. Ich bin völlig überzeugt, daß die erste Aufgabe der Schule ist, den Kindern ihre eigene Sprache beizubringen, so daß sie klar und korrekt Ideen artikulieren können, daß sie Sprechen und Schreiben können, daß sie kritisch Lesen und Hören können, daß all das gelehrt wird, was die Sprache verlangt.
Ich glaube, unsere Alltagssprache ist die Sprache unseres Denkens und unserer Wahrnehmung. Sie ist unsere Beschreibung der Welt und unsere Geschichte. Die Sprache ist für das intelligente Leben genauso wichtig wie die Sprache der Mathematik für die Physik unabdingbar ist. Und jetzt schauen sie sich um, wie es in den westlichen Ländern um die Sprache bestellt ist. Die amerikanische Regierung sagt uns, daß ein Drittel unserer Jugend funktional analphabetisch ist. Das nenne ich eine Katastrophe, eine Art Selbstmord für das Land. Nicht daß Geld die Lösung wäre, aber vielleicht wäre es besser, das Geld für kleinere Klassen, für mehr Deutsch- bzw. Englischlehrer und -lehrerinnen auszugeben anstatt für Computer, die zudem auch noch falsch benutzt werden.

Z: Vielleicht könnte aber doch die Beschäftigung mit dem Computer und mit dem, was der Computer an Projektionsfeld und Phantasieraum aufmacht, wieder ein wenig Lebendigkeit, Spaß und die Lust am Lernen zurück in die Schulen bringen bspw. weil Themen aufgegriffen werden, die Jugendliche interessieren, und welche die herkömmliche Schule nicht vermitteln werden können, weil das Interesse der Schülerinnen nicht geweckt werden kann..

W: Wenn das so ist, und ich glaube es ist so, daß die Kinder die Schule nicht mögen…. In Amerika betrachten viele Kinder die Schule als minimale Sicherheitsverwahrung, als Gefängnis, zu dem sie verurteilt sind bis zu einem gewissen Alter, das stimmt – aber dann ist es doch zuallererst notwendig sich zu fragen, warum das so ist. Hinter der Idee, die Kinder könnten durch Computer motivierter werden und daß es Spaß machen kann, ist auch die Idee, daß Spaß ein wichtiger Bestandteil der Schulerziehung ist. Ein Engländer hat mal gesagt, es spielt keine Rolle, was man Kindern lehrt, so lange sie es hassen. Ich bin da nicht ganz dabei.
Wirkliches Lernen, Begreifen, Verstehen – nicht nur in der Schule, sondern auch im Leben – geht nicht mühelos. Es ist sogar die Mühe, die dazu führt, daß das Gelernte verinnerlicht wird. Wenn ich ein Buch lese, dann muß ich die Charaktere, den Hintergrund, die Landschaft und die Häuser alles selbst herstellen. Das ist ganz anderes als Fernsehen, das mir alles vorgefertigt präsentiert. Ich muß also die Geschichte selber in mir entstehen lassen und später kann ich mich erinnern, daß ich als 11jähriger „Onkel Toms Hütte“ gelesen habe – und daß ich geweint habe. Es ist für mich über 60 Jahre her, daß ich das gelesen habe, aber daran erinnere ich mich. An den Film, wenn ich einen gesehen habe, erinnere ich mich überhaupt nicht. Ich mußte mir keine Mühe machen. Und deswegen ist das Fernsehen so langweilig.

Was ich mit meiner Argumentation zum Ausdruck bringen will, ist, daß die Leute, die über solche Sachen nachdenken ein wenig tiefer ansetzen, unter die Oberfläche gehen.
Wenn es wirklich so ist, daß Kinder die Schule nicht mögen, daß sie lieber mit einem Computer „reden“ als mit einem Lehrer, daß sie lieber zu Hause bleiben oder wo auch immer, statt die Schule zu besuchen, dann muß man zuerst fragen, warum und wie läßt sich das verbessern. Es ist durchaus möglich, daß der Computer in manchen Fällen helfen könnte, die Situation zu verbessern, aber mit dem Computer anzufangen, ist nicht vernünftig. Zu sehr klingt mir das danach, der Computer könnte eine Lösung sein, die sich auf allen Gebieten ihre Probleme sucht.

Z: Mit dem Computer können wir Arbeiten, Lernen, Spielen, mit anderen Menschen kommunizieren und uns informieren. Der universale Apparat vermag immer weitere Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vollbringen. Wie konnte es zum großen Erfolg des Computers kommen?

W: Die meisten Computer sind heutzutage versteckt, die sehen wir gar nicht. Wenn heute ein Auto nicht mehr funktioniert, kann es passieren, daß er den einen Chip rausnimmt und gegen einen anderen ersetzt. Und dann fährt das Auto wieder. Der Computer ist erfolgreich in Bereichen, von denen die wenigsten wissen. Lokomotiven werden gesteuert. Dennoch beruhen die Erfolge bspw. der Astronomie auf den Errungenschaften jener Forscher, die bis zur Erfindung des Computers Gleichungen mit der Hand ausgerechnet. haben, nicht auf den Leistungen moderner Rechenmaschinen heute. Manchmal macht der Computer sogar möglich, was ohne ihn nicht möglich gewesen wäre.

Einsichtig ist, daß der Erfolg der Maschine darauf beruht, daß sie Dinge erledigt, die früher sehr viel schwerer zu bewerkstelligen gewesen sind oder eben gar nicht möglich. Zum Beispiel einfache Sachen, wie in einem sehr hohen Gebäude Funktion und Sicherheit der Fahrstühle zu überwachen. Es ist ein sehr erfolgreiches Gerät.

Z: Der Erfolg führt uns in das Dilemma, daß der Computer menschliche Tätigkeiten und damit Fähigkeiten und Fertigkeiten entweder entwertet oder gänzlich abschafft.

Teil 1: 10.03.08
Teil 2: 11.03.08

Gespräch mit Joseph Weizenbaum – Teil 2

Am Mittwoch letzter Woche (05.03.08) ist der Hacker, Computerphilosoph und Gesellschaftsanalytiker Joseph Weizenbaum gestorben. Ich habe ihn 1998 besucht, um ihn für die Zeitschrift Psychologie Heute (Heft 12/98) zu interviewen. Ich veröffentliche das ausführliche Gespräch erneut, verteilt über vier Blogeinträge. Es hat wenig von seiner Aktualität eingebüßt, obwohl es entstanden ist, bevor Internet, Handy und Laptop zu wirklichen Massenphänomen wurden. Zeitlos also das Gespräch, trotz der rasanten Entwicklungen gerade in diesem Bereich und ein Zeichen dafür, wie werthaltig Weizenbaums Betrachtungen sind.

Teil 1 10.03.08, Fortsetzung:

Zettmann: Auch das wird uns seit Jahren versprochen: Den Computer, leicht zu handhaben wie ein Toaster und multifunktional wie früher nur ein Großrechner.

Weizenbaum: Ja, aber die Leute zeigen größere Skepsis als früher, weil sie mittlerweile ein paar Erfahrungen gemacht haben. Nehmen wir das Internet. Ich vergleiche es manchmal mit der Encyclopedia Brittannica. Die Leute kaufen sich das, weil sie denken, es ist gut für die Kinder, die können dort nachschlagen, forschen lernen usw. Das Ding kommt ins Haus, ein paar Wochen lang ist es reizvoll und interessant, dann steht es da die nächsten 20 Jahre…

Z: … und wird an die nächste Generation vererbt.

W: Ja, ich habe eine Ausgabe von 1912 zu Hause, das wurde sicherlich auf diese Weise benutzt. Die Menschen glauben nun, das Internet beherberge alles Wissen der Welt. Das Kind hat dann leichten Zugang zu diesem Wissen, das Kind wird besser in der Schule usw. Bald jedoch lernen sie, daß das einfach nicht der Fall ist. Um das Einfachste im Internet zu suchen, bspw. das Kinoprogramm in Berlin, ist viel schwerer, als das Kino anzurufen, und zu fragen, oder in die Tageszeitung zu gucken. Ich weiß, daß das da ist und ich bin nicht unerfahren, ich kann es auch finden. Ich benutze das Internet täglich. Ich kann da sehr viel finden, die jünger als zehn Jahre sind. Aber beispielsweise historische Sachen sind sehr schwer zu finden, denn die damaligen Dokumente sind nicht maschinenlesbar.

Z: Daraus könnte der Vorschlag erwachsen, ein Beschäftigungsprogramm zu entwickeln, alle Bibliotheken nach und nach digital zu erfassen.

W: Diesen Vorschlag hat bestimmt schon jemand gemacht. Jetzt also fangen Leute an, Erfahrungen zu machen, daß diese Maschinen gar nicht so einfach zu bedienen sind. Auch in der Kontroverse über Computer in der Schule sehe ich Licht am anderen Ende des Tunnels, ein kleines Licht zumindest. Denn die Schulen, die mit Computern ausgestattet sind, entdecken auch, was sie da gekauft haben. Es ist eine Illusion zu glauben, wenn man den Computer einmal hat, dann geht alles wie von alleine und alles wird glänzend. Insbesondere Software kostet viel Geld. Deren Hersteller wie Microsoft, aber auch die Hardware-Lieferanten machen ein gutes Geschäft, in dem sie Waren produzieren, die mit den im letzten Jahr gekauften nicht mehr funktioniert. Also muß ich ein neues System erwerben. Heute muß man sagen, es ist immer zu früh einen Computer zu kaufen, denn der nächste ist immer besser.

Z: Aber die Geschäfte florieren…

W: All das ist künstlich aufgeblasen und wird von Leuten unterstützt, die entweder sehr viel Geld damit verdienen oder furchtbar naiv sind. Ich glaube, viele sind in der zweiten Kategorie.

Z: Leute, die keine Ahnung haben, treffen Entscheidungen, deren Tragweite sie nicht abschätzen können.

W: Es ist schon lange her, daß ich zu der Erkenntnis gekommen bin, daß Computer in der Kinderschule Unsinn sind. In Amerika werde ich öfter gebeten, zu einer Sitzung einer Schulaufsichtsbehörde zu kommen, um über Computer in der Schule zu reden. Wenn diese Leute vor der Entscheidung stehen, Computer zu beschaffen, frage ich sie als erstes: Warum? Zu den Antworten zählen bekannte Argumente wie jenes, daß der Computer ein Teil des Berufslebens der Kinder sein wird. Darauf sollen sie vorbereitet sein.

Z: … in einer Art staatlich finanzierter Computerfahrschule.

W: So etwas, genau. Aber ich sage denen, nein, es werden nur wenige Kindern direkt mit Computern zu tun haben. Denn wir sind inmitten einer Entwicklung, in der der Computer als einzelnes Gerät verschwindet: in den Fotoapparat, in den Kühlschrank, ins Auto. Die meisten Computer sehen wir nicht. Wenn man in ein Versicherungsbüro oder zu einem Immobilienhändler kommt, sehen sie die Bildschirme auf den Tischen, jeder Angestellte hat einen. Und doch hat nicht mehr jeder einen Computer, denn der läuft für alle im Hintergrund. Die Angestellten füllen Masken und Formulare aus, geben Daten ein. Was hinter den Kulissen passiert, wissen sie nicht – und brauchen es auch nicht zu wissen.

Z: Die modernen Systeme erlauben es den meisten Anwender/innen, an der Oberfläche zu bleiben.

W: Die allermeisten Anwendungen sind intransparent, und darauf ist die Computerindustrie zurecht stolz. Niemand braucht zu wissen, was die Maschine konkret macht. Einem Pilot in einem computergesteuerten Flugzeug hilft es überhaupt nichts, zu wissen, wie etwas programmiert ist, wenn etwas schiefgeht. Er muß nur wissen, wie er ein Flugzeug fliegt. Wer mit Programmieren Geld verdient, muß wissen, wie ein Rechner funktioniert, aber das sind bei weitem die wenigsten Anwender. In 20 Jahren werden wir wahrscheinlich im Verhältnis so wenige Programmierer finden in der industrialisierten Welt wie heute Automobildesigner. Wir produzieren jedes Jahr Millionen von Autos, aber wieviele Ingenieure brauchen wir dazu? Viele müssen wissen, wie sie einen Auto fahren, aber wie es konstruiert ist, müssen nur wenige wissen. Zurück zur Kinderschule: Ich frage also die Behörde, was wollen sie lehren? Dann antworten sie, wir wollen den Computer demystifizieren.

Z: Die Maschine ist keine magische Box…

W: Genau. Dann frage ich, auf welcher Ebene der Erklärung wollen sie die Maschine demystifizieren? Sie antworten dann, sie wollten bespielsweise drag-and-drop erklären, also das Markieren eines Abschnitts im Text und dessen Verschieben an eine andere Stelle im Text. Oder sie wollen das Rechtschreibeprogramm erklären, wie wird ein Wort gesucht und als falsch oder richtig erkannt. Das alles sollen unsere Kindern wissen. Ich sage, ok, sie bekommen erklärt, daß im Hintergrund verschiedene Subprogramme ablaufen, aber auch die wiederum sind doch sehr mysteriös… Sollen sie nicht wissen, wie die wiederum funktionieren? Wie werden die Textteile gespeichert und verschoben? Dann erhalte ich die Antwort, das sei dann die zweite Ebene der Erklärung. Und sie können sich vorstellen, auf der fünften Ebene landen wir dann bei der Quantenmechanik. Die Leute, die hier in der Bundesrepublik 40 Millionen Mark für Computer in den Schulen ausgeben, haben keine Ahnung. Sie wissen zuerst einmal gar nicht, worauf ich hinauswill, wenn ich ihnen die Ebenen vor Augen führe. Und wenn sie wissen, was ich meine, dann haben sie keinen Weg zu entscheiden, welche Ebene sie eigentlich vermitteln wollen. Ich denke, sie müßten doch intensiv darüber nachgedacht haben, was denn der Computer in der Schule soll. Doch das haben sie nicht.
Nehmen sie BASIC – eine Programmiersprache. Eine der schlimmsten Ideen, die jemand je von Computern hatte. Leute haben entschieden, es soll BASIC sein, das die Kinder in der Schule lernen sollen. Das haben Leute entschieden, die keine Idee hatten, was es bedeutet, BASIC zu lernen – in dem Fall, etwas ganz falsch zu lernen. Heute ist das vorbei. Für fast jeden Punkt, den ich erwähnt habe, erweisen sich die Schulaufsichtsbehörden als uninformiert. Was sie wissen, ist zum größten Teil falsch – oder wird morgen falsch sein. Besonders schlimm finde ich, daß das heute knappe Geld ausgerechnet für Computer ausgegeben wird. Stattdessen sollten dafür mehr Lehrerinnen und Lehrer eingestellt werden. Auch neue Schulbänke und ein frischer Anstrich bekäme manchen Schulen besser als ein teuer eingerichtetes Computerkabinett.

Z: Wenn keine Computerkabinette, was soll die Schule dann leisten?

Teil 1: 10.03.08

Zur Erinnerung: Gespräch mit Joseph Weizenbaum

Am Mittwoch letzter Woche (05.03.08) ist der Hacker, Computerphilosoph und Gesellschaftsanalytiker Joseph Weizenbaum gestorben. Ich habe ihn 1998 besucht, um ihn für die Zeitschrift Psychologie Heute (Heft 12/98) zu interviewen. Ich veröffentliche das ausführliche Gespräch erneut, verteilt über vier Blogeinträge. Es hat wenig von seiner Aktualität eingebüßt, obwohl es entstanden ist, bevor Internet, Handy und Laptop zu wirklichen Massenphänomen wurden. Zeitlos also das Gespräch, trotz der rasanten Entwicklungen gerade in diesem Bereich und ein Zeichen dafür, wie werthaltig Weizenbaums Betrachtungen sind.

Zettmann: Reichen Versprechungen aus, eine neue Technologie zu rechtfertigen – so wie es heute in der Informations- und der Biotechnologie geschieht?.

Weizenbaum: Hätte man am Anfang des Jahrhunderts vorhersagen sagen können, wie viele Menschen durch das Automobil getötet werden, hätten wir dann Autos gebaut? Doch niemand hat daran gedacht, diese Frage zu stellen. Ich glaube, der größte Fehler des Jahrhunderts ist die Atomkraft. Ich erinnere, daß das TIME-Magazin einen Artikel über die Atombombe veröffentlichte. Sie erklärten wie die Technik funktioniert. Damals erklärten die Fachleute, ein Stückchen Uran von der Große einer Erbse (engl. the size of a pea) reiche aus, die „Queen Mary“ dreimal um die Erde fahren zu lassen. Zudem würde es jetzt möglich, damit Kraftwerke zu bauen und die Elektrizität wäre so billig, daß es sich nicht lohnen würde, dafür Geld zu nehmen. Das Messen des Stromverbrauchs wäre teurer als die zu erwartenden Einnahmen. Durch Atomenergie würde die Elektrizität umsonst sein… Das ist ein Beispiel, wie verfehlt Versprechungen sein können. Das läßt sich an anderen Techniken wiederholen. Ein zweiter Aspekt ist, daß sich niemand die Mühe machte, auszurechnen, wie lange die Atomkraftwerke in Betrieb bleiben und wieviel es dann kosten wird, die wieder abzubauen. Abfall wurde nicht kalkuliert, so wie beim Auto nicht an Folgekosten gedacht wurde.

Z: Es scheint noch nie erkenntnisleitend gewesen zu sein, an die unangenehmen Folgen des eigenen Handelns zu denken.

W: Genau dafür gibt es sehr viele Beispiele. Viele der Leute, die an der Atombombe gearbeitet haben, dachten, das wäre eine Waffe, die den Krieg unmöglich macht. Daran sieht man, wie wir träumen. Bis heute wird behauptet, die Atombombe hätte den Krieg wirklich unmöglich gemacht. Jetzt haben wir über 50 Jahre Frieden. Allerdings kam es seit 1945 zu Dutzenden von kriegerischen Auseinandersetzungen. Die vom Frieden durch die Bombe träumten, meinten ja Krieg in Europa. Aber auch da gingen sie fehl, bspw. am Balkan. Eine andere Facette davon sind die Nebenwirkungen großer Entwicklungen. Die Nebenwirkungen der Technologien werden viel bedeutsamer als die eigentlich beabsichtigten Wirkungen. Auch das sehen sie beim Auto: Nebenwirkungen wie die Zupflasterung der halben Welt, mögliche klimatische Veränderungen durch Emissionen usw. Wenn die, wie wir sie kennen, überlebt, werden die Kinder in zwei-, dreihundert Jahren in der Schule lernen, daß es einmal, zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr viel Erdöl auf der Erde gab, und es 150 Jahre später aufgebraucht war. Ohne die geringste Vorsicht haben wir das alles verbrannt, als ob es umsonst wäre und immer erneuert werden könnte. Zu den Nebenwirkungen zählen auch die Kriege im mittleren Osten, ein großer Teil der Weltpolitik hängt von ölstrategischen Überlegungen ab usw. Es wird den Kindern schwer verständlich erscheinen.

Z: Auf den Beipackzetteln von Medikamenten steht die Empfehlung, Arzt oder Apotheker nach den Nebenwirkungen zu fragen. Wen befrage ich zu den Nebenwirkungen des Computers?

W: Natürlich dient der Beipackzettel in erster Linie dazu, die Patienten vor ungewollten Folgen zu schützen. Doch auch Contergan lag ein Zettel bei. Danach konnte die Industrie fragen: Und haben sie ihren Arzt gefragt? In diesem Sinn ist der Zettel eine Lüge. Denn entweder wissen die Ärzte oder Apotheker nicht, oder das Wissen darüber ist gar nicht in der Welt, weil die entsprechenden Experimente nicht gemacht oder nicht richtig durchdacht wurden. So ähnlich ist es mit dem Computer: Man fragt IBM. Und IBM sagt ihnen, was sie Angenehmes hören wollen. Zudem existieren Berater. Die werden oft dann gerufen, wenn es in einer Firma Meinungsverschiedenheiten gibt. Der soll eine unabhängige Meinung zu den avisierten Problemen haben. Dann versucht also der Berater herauszufinden, wie sich die Verhältnisse in der Firma gestalten. Die ihn bezahlen, brauchen eine bestimmte Antwort. Und die liefert er dann. Aber es fehlt kritisches Denken. Und ich glaube, in vielen Fällen ist der Berater nur ein Feigenblatt. Deswegen bin ich davon überzeugt, daß es die Pflicht des Informatikers selbst ist, selbstkritisch zu sein, selbst zu denken, und ehrlich zu sagen, was sie können und was sie nicht können. Wenn sie sich die Reklame der Computerindustrie in den letzten 40 Jahren betrachten, dann sehen sie Versprechungen und nochmals Versprechungen und ganz besonders, wie schön morgen alles sein wird. Zwar haben wir heute noch unsere Schwierigkeiten, aber der neue Rechner, der dann alles kann, entsteht bereits am Zeichenbrett, den haben wir gerade in der Entwicklung. Ich glaube, wir haben eine *therapeutische* Entwicklung in der Computerindustrie. Immer mehr Computer stehen in den Wohnungen der Menschen. Zum ersten Mal sehen ganz einfache Leute, wie schwierig es ist, mit dem Computer umzugehen. Das ist eben kein Kühlschrank, der kühlt, wenn man den Stecker in die Wand steckt. Der Computer erfordert eine große Menge an technischen Fähigkeiten und Fertigkeiten und braucht technische Wartung.

Z: Auch das wird uns seit Jahren versprochen: Den Computer, leicht zu handhaben wie ein Toaster und multifunktional wie früher nur ein Großrechner.