Neid in griechischer Mythologie und christlicher Religion

Teil 1: Neid und Konkurrenz bei Paaren
Teil 2: Wer liebt, der neidet nicht?
Teil 3: Wenn zwei dasselbe begehren
Teil 4: Der soziale Vergleich liegt dem Neid zugrunde
Teil 5: Beruflicher Erfolg, beruflicher Misserfolg – Vergleich macht neidisch
Teil 6: Männer und Frauen – die neue Konkurrenz
Teil 7: Mit dem Neid leben?
Exkurs: Das romantische Liebesideal
Teil 8: Neid – geächtet durch die Gemeinschaft

Die Frage, ob es erlaubt ist, neidisch zu sein, und wie wir mit den Gefühlen angemessen umgehen, hat eine lange kulturhistorische Tradition. Schon in den antiken Tragödien von Aischylos, Euripides oder Pindar spielt der Neid eine wichtige Rolle. So erzählt Aischylos in seinem Drama Agamemnon von der Heimkehr des Troja-Eroberers und seiner Furcht, durch seine exponierte Stellung den Neid der Irdischen auf sich zu ziehen. Diese empfinden im Anblick seines Triumphes doppeltes Unglück: Einerseits müssen sie damit fertig werden, nicht so erfolgreich zu sein, andererseits haben sie mit anzusehen, wie der Erfolgreiche gefeiert wird.

Die Götter betrachten Agamemnons Bedenken, den Sieg auszukosten, mit Wohlwollen. Sie selbst nämlich reagieren dann neidisch, wenn die Menschen in anmaßender Selbstgefälligkeit Grenzen übertreten, die sie ihnen zuvor auferlegt haben. Missachtet der Mensch die ihm eigene Schwäche und maßt sich an, den Göttern gleichen zu wollen, reagieren sie mit „Abstandsneid“, wie der Psychologe Rolf Haubl diese Form des Neids nennt. Wer selbstgerecht handelt, um einen unangemessenen Vorteil daraus zu ziehen, wird dafür bestraft, um die göttliche Ordnung nicht zu gefährden.

Wie offen die griechische Demokratie dem Neid einen Platz einräumt, belegt auch die Volksversammlung: Sie beschäftigt sich einmal jährlich mit der Frage, ob ein Scherbengericht stattfinden solle. Dadurch kann ein Bürger, dessen Macht und Einfluss dem Wahlvolk zu groß zu werden schien, aus der Stadt verbannt werden. Entscheiden sich die Athener für eine solche Abstimmung, ritzen sie den Namen des zu verbannenden Kandidaten in die Scherben ein. Ein Areal auf dem Marktplatz nimmt die Scherben auf. Die einfache Mehrheit entscheidet. Das Scherbengericht entstand zunächst als eine Sicherheitsmaßnahme gegen zu großen politischen und sozialen Einfluss. In der weiteren Entwicklung dient es allerdings auch dem politischen Intrigenspiel. Gegner einer bestimmten Politik konnten auf diese Weise aus der Stadt gewiesen werden.

Des Volkes Strafe traf auch jene, die durch ihre Art zu leben den Neid der anderen wecken. Da konnte auch ein guter moralischer Ruf mit Verbannung belegt werden: Der Politiker Aristides ging einem Analphabeten zur Hand, der ihn bat, den Namen Aristides auf die Scherbe zu ritzen. Auf die Frage, ob jener Aristides ihm etwas getan habe, antwortet der Athener, er kenne ihn nicht einmal. Allerdings ärgere es ihn, dass Aristides überall als „der Gerechte“ gelte. Gerecht, wie man ihn eben nannte, ritzte Aristides seinen eigenen Namen in die Scherbe und reichte sie dem Mann.

Solchen Auswüchsen schiebt die christliche Religion einen Riegel vor: In unserem Schweigen und unserer Scham über den Neid spiegelt sich auch sein schlechtes gesellschaftliches Image wider. Wie zur Abschreckung sind schon in der Genesis die Kinder von Adam und Eva, die Brüder Abel und Kain, neidisch miteinander verstrickt. Beide bringen Gott ein Opfer dar. Doch Gott akzeptiert nur Abels Opfer und ignoriert Kains. In seiner Wut über diese Ungerechtigkeit erschlägt Kain seinen Bruder. Zur Strafe wird er mit dem Kainsmal auf der Stirn gebrandmarkt, damit alle ihn als Neider und Brudermörder erkennen können.

Der strafende Gott etabliert sich im Zuge von Kains Tat als neidlos und gerecht: Gott neidet Kain nicht, dass er sich göttliche Rechte angemaßt hat. Er neidet ihm nicht, dass Kain sich über den Abstand zwischen göttlicher Autorität und menschlicher Existenz hinweggesetzt hat. Er rächt sich nicht an Kain für das Übertreten dieser Grenzen, wie die griechischen Götter es noch getan haben. Und er lässt Kain das Leben, um seine Tat eigenhändig zu sühnen. Damit grenzt sich die Religion der Christen von den alten griechischen Mythen ab. Während die griechischen Götter noch voller Neid auf die Menschen herabschauen, ist der Christengott ohne Neid.

Die Gebote neun und zehn der „Zehn Gebote“ meißeln den Anspruch an die Menschen in Stein: Niemand dürfe seines Nächsten Hab und Gut begehren. Damit wird eine Orientierungshilfe geschaffen, auf der die christliche Wertegemeinschaft beruht, unter anderem getragen von der Hoffnung auf weitgehend neidfreie zwischenmenschliche Beziehungen. Später, im 6. Jahrhundert unter Papst Gregor I., findet der Neid als eine der sieben Todsünden Aufnahme in den offiziellen Negativkanon der Kirche. Seither gilt Neid als die Sünde wider des Nächsten Glück. Weil Neid als Quelle des Hasses, der Intrige und der Verleumdung ausgemacht war, wird er mit er ewigen Verdammnis belegt.

Literatur:
Rakoczy, T.: Böser Blick, Macht des Auges und Neid der Götter. Eine Untersuchung zur Kraft des Blickes in der griechischen Literatur, Tübingen: Narr 1996.
Haubl, R.: Neidisch sind immer nur die anderen. Über die Unfähigkeit, zufrieden zu sein, München: Beck 2001.

Auszug aus: Zimmermann T (2004). Schön für dich… Neid und Konkurrenz in der Liebesbeziehung. mvg-Verlag, Frankfurt/M.

Teil 9: Neid – beschädigter Selbstwert als Hintergrund
Exkurs: Schneewittchen und die sieben Zwerge
Teil 10: Neid trägt viele Kleider
Teil 11: Aus der Sprachlosigkeit finden, wenn Neid die Stimmung trübt

Neid in Partnerschaften: Literaturangaben

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