Andrian Kreye kritisierte gestern (18.03.08) im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung die Verwendung des Begiffs „kultureller Völkermord“ durch den Dalai Lama. Der Begriff sei ein leeres Reizwort ohne völkerrechtliche Grundlage, wohl aber mit historischer Assoziationskette, ein Kampfbegriff. Und wer derlei Assoziationen (Holocaust! Den allerdings Kreye ins Spiel bringt!) wecke, der komme eben zu einfachen Formeln, ohne dass sich die Parallelen erkennen ließen.
Der Dalai Lama verwende den Begriff nur, um im Westen maximale Aufmerksamkeit zu erzeugen – zumal in der Wiedergabe der Worte in den westlichen Medien das Adjektiv „kulturell“ meist unterschlagen werde. Ich habe mich dem Begriff des Dalai Lama in meinen „Gedanken an Tibet“ durchaus verbunden gefühlt – und erachte ihn keineswegs nur als Marketing-Instrument. Vielmehr differenziert das Begriffspaar durch das Attribut „kulturell“.
Die Tibeter erinnern mich auf ihre Weise an die Aborigines in Australien. Nicht so alteingesessen, sicher. Aber wie diese durch die PoHMs (Prisoners of Her Majesty) und deren Nachfahren in den vergangenen zwei Jahrhunderten werden die Tibeter durch die Han-Chinesen einfach von der Landkarte verdrängt. Die Chinesen besiedeln in Massen das Hochplateau, sind überhaupt (wie die PoHMs) die mächtigere, die hegemoniale Kultur. Diese Kultur besetzt aber nicht nur den Raum. Sie setzt die Regeln, bestimmt die Grenzen der Freiheit und das Ausmaß der Beschränkungen. Zur Not gehen die Eindringlinge über Leichen, um ihre Interessen zu wahren. Den Tibetern (wie den Aborigines) bleibt nur, sich zu arrangieren, sich anzupassen, sich unterzuordnen – und langfristig unterzugehen.
Der Identitätsverlust für das tibetische Volk als Gruppe ist irreparabel. Einzelne können sich dem sicherlich entziehen, ergreifen die Chancen und Möglichkeiten, die ihnen geboten werden. Doch die Kultur ist dem Untergang geweiht. Überleben wird Folklore, der Rest versinkt in der Depression. Insofern: Kultureller Mord an einem Volk trifft schon, was sich dort seit Jahrzehnten abspielt.