Das eingeschlossene Hirn – Teil 2

Ende der 1990er Jahre entwickelte der Tübinger Psychologe Niels Birbaumer ein computergestütztes Gedankenübersetzungsgerät. Das Gerät eröffnete Menschen mit dem Locked-In-Syndrom die Möglichkeit, wieder mit der Außenwelt zu kommunizieren, zu schreiben, das Licht im Zimmer an und aus zu schalten. Aus Anlass des Filmstarts von „Schmetterling und Taucherglocke“ (wieder)-veröffentliche ich ein Gespräch mit Birbaumer (Psychologie Heute 11/98) über die Neuroprothese, die dahinter stehende Lerntheorie und den Konstruktivismus.

Teil 1

Zettmann: Sie verwenden langsame kortikale Potentiale (LKP), um den Patienten Kontrolle über Hirnaktivitäten zu ermöglichen. Was sind das für Ströme und warum eignen sie sich besonders, von vollständig Gelähmten kontrolliert zu werden?

Birbaumer: Langsame kortikale Potentiale sind relativ langsame elektrische Veränderungen der obersten Hirnrindenschichten. Ich habe diese Potentiale immer untersucht, weil sie die Grundlage der Erregungsbereitschaft der Nervenzellen darstellen. Mich hat früher interessiert, was passiert, wenn ein bestimmter Teil des Gehirns in einen solchen Mobilisierungs- bzw. Erregungszustand versetzt wird, wie wirkt sich das auf Verhalten aus, denn jedes Verhalten läßt sich auf einen Zustand der Erregungserhöhung in bestimmten Hirnarealen zurückführen. Die langsamen Hirnpotentiale sind wahrscheinlich die physiologische Basis dieses Mobilisationszustandes der Nervenzellen. Zudem korrelieren sie sehr gut mit Verhalten, und als Psychologen sind wir ja stets daran interessiert, Maße zu finden, die mit Verhalten gut zusammenhängen. Die LKPs hängen nun mit Aufmerksamkeitszuwendung oder -abwendung, mit Mobilisierung für Bewegungen, mit Mobilisierung für Gedanken oder für Gefühle eng zusammen.

Z: Kommt diese Erregungsvielfalt zustande, weil es sich bei den LKPs um ein ausgedehntes System handelt, das sich in vielen Hirnregionen finden läßt?

Birbaumer: Genau, es ist ein relativ unspezifisches System, das sich in vielen Hirnregionen registrieren läßt. Jedesmal, wenn ein bestimmte Hirnregion in einen Zustand der erhöhten oder erniedrigten Erregung gelangt, sehen sie eine elektrische Negativierung oder Positivierung im Gehirn. Die können sie im EEG (Elektroenzephalogramm) oder im MEG (Magnetoenzephalogramm) relativ problemlos messen, wenngleich es nicht so einfach ist, wie das normale EEG, denn es gibt ein paar technische Schwierigkeiten, welche die meisten Leute nicht beherrschen, darum gibt es wenige Leute, die sich damit befassen.
Langsame Hirnpotentiale sind keineswegs meine Entdeckung, sie werden bereits seit 70, 80 Jahren nachgewiesen. Weil diese Potentiale so gut mit Verhalten korrelieren, lag es nahe, sie zu konditionieren. Es lag nah, herauszufinden, was passiert mit unserem Verhalten, unserem Denken, wenn wir diese Potentiale verändern. Veränderbar sind die LKPs auf verschiedene Weise: Pharmakologisch, durch Darbietung bestimmter Reize oder durch selbstkontrollierende Veränderung. Selbstkontrolle ist nur über operantes Konditionieren zu erzielen. Deswegen konditionieren wir diese Potentiale, in dem wir die Patienten dafür belohnen, dass sie sie produzieren, systematisch über viele Sitzungen. Wenn die Patienten diese Selbstkontrolle erlernt haben, können sie selbst bestimmte Hirnareale entweder erregen oder hemmen, lokal einen bestimmten Teil des Gehirns. Damit kann man Verhalten verändern oder epileptische Anfälle verhindern. Jetzt möchten wir, dass man das nutzt, um Menschen, die vollständig eingeschlossen sind, gelähmt sind, Patienten, die in einer Art Komazustand sind, doch zu erlauben, wieder mit ihrer Umgebung zu kommunizieren.

Z: Was ist unter kortikaler Negativierung und kortikaler Positivierung zu verstehen?

Birbaumer: Im Gehirn entsteht eine Negativierung dann, wenn die Zellen depolarisiert werden, d.h. wenn die Ladung der Zellmembran so verschoben wird, dass die Zelle ladungsbereit ist. Diese Ladungsbereitschaft der Zelle äußert sich in einer Negativierung, und wenn die Zelle ihre Ladungsbereitschaft verhindert, wenn sie in einen Zustand der Passivität oder der Hemmung verfällt, dann verändert sie sich hin zu einer Positivierung. Diesen Zustand der Erregungsbereitschaft und Erregungshemmung kann ich nun für ein Areal etwa in einem Umkreis von 1 cm im EEG und im MEG bis auf wenige Millimeter genau messen. Da unsere Patienten entweder zu Hause oder auf Intensivstationen liegen, brauchen wir portable Geräte, deswegen können wir das MEG dort nicht verwenden, auch wenn dies wegen der höheren Genauigkeit viel besser wäre.
Mit einer Negativierung sind also die Zellen erregungsbereit, und wenn dann ein Gedanke oder eine Bewegung ausgeführt werden soll, dann wird sie besser ausgeführt, wenn die Zelle negativ ist. Wenn sie positiv ist, wird es schlechter. Das Verhalten, also die Verhaltensbereitschaft und die Verhaltenseffizienz hängen davon ab, ob die Areale, die mein Verhalten steuern, negativ geladen sind. Wenn sie das sind, dann wird die Effizienz dieses Zellsystems, zu feuern und das Verhalten zu bewirken, besser. Wobei das für die Experimente mit den Gelähmten überhaupt keine Rolle spielt, weil wir von denen nur ein Signal aus dem Hirn erkennen wollen, das stimmt, das jedesmal funktioniert. Und dafür ist es uns egal, ob das positiv ist oder negativ.

Z: Wie lassen sich die Hirnpotentiale unter Kontrolle bringen? Welches Setting haben Sie, um operant zu kondtionieren?

Birbaumer: Das ist immer gleich. Die Patienten schauen auf den Bildschirm und sehen dort ihre langsamen Hirnpotentiale im Abstand von 2 bis 8 Sekunden in Form einer Rakete oder in Form eines Balles oder auch eines freundlichen Computers. Die Patienten sehen das über den Bildschirm laufen. Der Computer weist an, mach das Hirn negativ für 2 Sekunden, und der Patient muß eine Negativierung produzieren.

Z: Wie geschieht das?

Birbaumer: Ganz genau wissen wir das nicht. Jeder Mensch entwickelt dafür seine eigene Strategie. Jeder Mensch erzählt ihnen da eine eigene Geschichte, wie er das macht. Uns interessiert nur, dass es funktioniert. Die Patienten beobachten also die LKPs auf dem Bildschirm. Wenn das Potential eine bestimmte Höhe erreicht hat, dann fliegen der Ball oder die Rakete entweder in ein Tor oder der Bildschirm leuchtet auf oder das Gesicht lacht. Richtig Skinnerianisch.
Oder aber, wenn sie eine Positivierung produzieren sollen, dann erscheint bspw. ein B, wenn die Negativierung als A erscheint. Die Aufgabe ist dann, in zwei Sekunden eine Positivierung zu erzeugen. Und wenn der Mensch innerhalb von 2 Sekunden 5 Millionstel Volt positiv erreicht, bekommt er eine der genannten Belohnungen. Das wiederholt sich pro Sitzung etwa 150 mal. Dann wird der Bildschirm abgeschaltet und der Computer gibt nur noch aus, im Wechsel ein negatives und ein positives Signal zu erzeugen, ohne Belohnung und ohne Rückmeldung, so dass die Patienten das auch ohne diese Hilfen können. Meistens können sie es ohne Feedback sogar besser. Am Anfang braucht man das Feedback aber, um ein Gefühl zu bekommen, wie man die Potentiale kontrolliert. Die individuelle Strategie der Kontrolle muß zuerst gefunden werden.

Z: Wann hatten sie die Idee, auf diese Weise das Problem völlig fehlender Motorik zu umgehen?

Fortsetzung: Teil 3