Ich habe schon in meinem Kommentar zur freien Arztwahl darauf hingewiesen: Etwa ein Drittel aller Beschwerden, mit denen Patienten eine Hausarztpraxis aufsuchen, bleiben organisch unerklärt (Henningsen P, Zipfel S, Herzog W (2007). Management of functional somatic syndromes. The Lancet, 369, 9565, 946 – 955). Die mit der körperlichen Symptomatik verbundene funktionelle Einschränkung gibt den Störungen ganz pragmatisch ihren Namen.
Doch warum organisch bzw. medizinisch unerklärt, wenn es doch der Körper ist, der nicht korrekt funktioniert?
Körperliche Beschwerden an sich sind uns allen wohl vertraut. Manchmal hämmert der Kopf bis zum Zerplatzen. Manchmal schmerzen die Glieder und der Rücken. Manchmal fließt der Schweiß unkontrollierbar. Hin und wieder regt sich der Darm in kaum nachvollziehbaren Zyklen und die Magensäure steigt die Speiseröhre hinauf. Ab und an ertönt ein lästiges Fiepen im Ohr, welches aus uns selbst zu kommen scheint. Ein anderes Mal wird uns schwindelig oder unser Herz beginnt zu rasen…
Epidemiologische Befragungen zeigen, dass innerhalb einer Woche rund drei Viertel der Bevölkerung einmal über ein solches körperliches Symptom klagt. Die meisten der unspezifischen Signale des Körpers verschwinden nach kurzer Zeit. Wir erkennen sie als vorübergehend und entwickeln eigene Selbsthilfeprogramme, den Kater, den Durchfall oder das Pfeifen im Ohr zu kontrollieren. Um die Regungen des Körpers zu verstehen, greifen wir auf nahe liegende Erklärungsmuster zurück, in deren Licht uns die Beschwerden als „normal“ oder „berechtigt“ erscheinen: eine durchzechte Nacht, ein verdorbenes Kantinengericht, laut dröhnende Boxen auf der letzten Drum’n‘Bass-Party.
Darüber hinaus wissen wir um das Wechselverhältnis zwischen Körpersymptomen und psychosozialen Belastungen. Der Zusammenhang ist fest in der Sprache verwurzelt – ohne dass wir uns dessen immer Gewahr sind. Da „klingen Worte immer noch in den Ohren“. Eine Nachricht „macht schwindelig und kippt jemanden aus den Latschen“. Eine Prüfung „schlägt dem Prüfling auf den Magen“. Eine Ungerechtigkeit „versetzt das Blut in Wallung“. Oder ein Verlust „tut im Herzen weh und geht an die Nieren“. So lange wir auf diese Weise eine Erklärung für die leidvollen Körperreaktionen bekommen, die Symptome abklingen und das Gleichgewicht zurück kehrt, kommen wir nicht auf die Idee, damit einen Arzt zu behelligen.
Bei etwa einem Viertel der Betroffenen entwickelt sich jedoch eine dauerhafte Störung der körperlichen Befindlichkeit. Die Symptome verselbstständigen sich, der Kopf hämmert fortgesetzt, der Durchfall dauert wochenlang. Das körperliche Unwohlsein beginnt, den alltäglichen Gang der Dinge und die Lebensqualität zu beeinträchtigen. Halten die Beschwerden weiter an, sehen wir keinen anderen Ausweg, als uns in die fachkundigen Hände eines Mediziners zu begeben. Der Fachmann soll nun klären, welche körperliche Veränderung das Symptom erzeugt.
In dem Moment nämlich, in dem die Beschwerden länger andauern, als wir es gewohnt sind, tritt die Sorge vor einer körperlichen Ursache in den Vordergrund. Mögliche psychologische Erklärungsmuster verlieren an Erklärungskraft. Angesichts der erlebten, massiven Beeinträchtigung, die ja unseren Arztbesuch erst auslöst, erscheint es uns zwingend, dass mit unserem Körper „etwas nicht stimmt“.
Leider erweist sich unsere Annahme, dass stark beeinträchtigende, körperliche Symptome auch organisch erklärbar sein müssten, häufig als falsch. So zeigt eine repräsentative Erhebung (Hessel A, Geyer M, Schumacher J, Brähler E (2002). Somatoforme Beschwerden in der Bevölkerung Deutschlands. Zeitschrift für psychosomatische Medizin und Psychotherapie 48, 1, 38-58), wie verbreitet Körperbeschwerden ohne organischen Befund bei den Patienten sind: 30% der Befragten berichteten Rückenschmerzen, die das Wohlbefinden stark beeinträchtigten, für die der Arzt auch nach zwei Jahren keine (körperlichen) Ursachen finden konnte. Darüber hinaus klagten im selben Zeitraum 25% über Gelenkschmerzen, 20% über Schmerzen in Armen und Beinen, 19% über Kopf- und Gesichtsschmerzen, 13% über Völlegefühl. Damit bekommt mindestens ein Drittel der Patienten in Deutschland eine „Diagnose ohne Befund“ attestiert.
Und dann sprechen die Ärzte von funktionellen Beschwerden.
Morgen: Was passiert, wenn der Arzt nichts findet?