Am Mittwoch letzter Woche (05.03.08) ist der Hacker, Computerphilosoph und Gesellschaftsanalytiker Joseph Weizenbaum gestorben. Ich habe ihn 1998 besucht, um ihn für die Zeitschrift Psychologie Heute (Heft 12/98) zu interviewen. Ich veröffentliche das ausführliche Gespräch erneut, verteilt über vier Blogeinträge. Es hat wenig von seiner Aktualität eingebüßt, obwohl es entstanden ist, bevor Internet, Handy und Laptop zu wirklichen Massenphänomen wurden. Zeitlos also das Gespräch, trotz der rasanten Entwicklungen gerade in diesem Bereich und ein Zeichen dafür, wie werthaltig Weizenbaums Betrachtungen sind.
Teil 1 10.03.08, Fortsetzung:
Zettmann: Auch das wird uns seit Jahren versprochen: Den Computer, leicht zu handhaben wie ein Toaster und multifunktional wie früher nur ein Großrechner.
Weizenbaum: Ja, aber die Leute zeigen größere Skepsis als früher, weil sie mittlerweile ein paar Erfahrungen gemacht haben. Nehmen wir das Internet. Ich vergleiche es manchmal mit der Encyclopedia Brittannica. Die Leute kaufen sich das, weil sie denken, es ist gut für die Kinder, die können dort nachschlagen, forschen lernen usw. Das Ding kommt ins Haus, ein paar Wochen lang ist es reizvoll und interessant, dann steht es da die nächsten 20 Jahre…
Z: … und wird an die nächste Generation vererbt.
W: Ja, ich habe eine Ausgabe von 1912 zu Hause, das wurde sicherlich auf diese Weise benutzt. Die Menschen glauben nun, das Internet beherberge alles Wissen der Welt. Das Kind hat dann leichten Zugang zu diesem Wissen, das Kind wird besser in der Schule usw. Bald jedoch lernen sie, daß das einfach nicht der Fall ist. Um das Einfachste im Internet zu suchen, bspw. das Kinoprogramm in Berlin, ist viel schwerer, als das Kino anzurufen, und zu fragen, oder in die Tageszeitung zu gucken. Ich weiß, daß das da ist und ich bin nicht unerfahren, ich kann es auch finden. Ich benutze das Internet täglich. Ich kann da sehr viel finden, die jünger als zehn Jahre sind. Aber beispielsweise historische Sachen sind sehr schwer zu finden, denn die damaligen Dokumente sind nicht maschinenlesbar.
Z: Daraus könnte der Vorschlag erwachsen, ein Beschäftigungsprogramm zu entwickeln, alle Bibliotheken nach und nach digital zu erfassen.
W: Diesen Vorschlag hat bestimmt schon jemand gemacht. Jetzt also fangen Leute an, Erfahrungen zu machen, daß diese Maschinen gar nicht so einfach zu bedienen sind. Auch in der Kontroverse über Computer in der Schule sehe ich Licht am anderen Ende des Tunnels, ein kleines Licht zumindest. Denn die Schulen, die mit Computern ausgestattet sind, entdecken auch, was sie da gekauft haben. Es ist eine Illusion zu glauben, wenn man den Computer einmal hat, dann geht alles wie von alleine und alles wird glänzend. Insbesondere Software kostet viel Geld. Deren Hersteller wie Microsoft, aber auch die Hardware-Lieferanten machen ein gutes Geschäft, in dem sie Waren produzieren, die mit den im letzten Jahr gekauften nicht mehr funktioniert. Also muß ich ein neues System erwerben. Heute muß man sagen, es ist immer zu früh einen Computer zu kaufen, denn der nächste ist immer besser.
Z: Aber die Geschäfte florieren…
W: All das ist künstlich aufgeblasen und wird von Leuten unterstützt, die entweder sehr viel Geld damit verdienen oder furchtbar naiv sind. Ich glaube, viele sind in der zweiten Kategorie.
Z: Leute, die keine Ahnung haben, treffen Entscheidungen, deren Tragweite sie nicht abschätzen können.
W: Es ist schon lange her, daß ich zu der Erkenntnis gekommen bin, daß Computer in der Kinderschule Unsinn sind. In Amerika werde ich öfter gebeten, zu einer Sitzung einer Schulaufsichtsbehörde zu kommen, um über Computer in der Schule zu reden. Wenn diese Leute vor der Entscheidung stehen, Computer zu beschaffen, frage ich sie als erstes: Warum? Zu den Antworten zählen bekannte Argumente wie jenes, daß der Computer ein Teil des Berufslebens der Kinder sein wird. Darauf sollen sie vorbereitet sein.
Z: … in einer Art staatlich finanzierter Computerfahrschule.
W: So etwas, genau. Aber ich sage denen, nein, es werden nur wenige Kindern direkt mit Computern zu tun haben. Denn wir sind inmitten einer Entwicklung, in der der Computer als einzelnes Gerät verschwindet: in den Fotoapparat, in den Kühlschrank, ins Auto. Die meisten Computer sehen wir nicht. Wenn man in ein Versicherungsbüro oder zu einem Immobilienhändler kommt, sehen sie die Bildschirme auf den Tischen, jeder Angestellte hat einen. Und doch hat nicht mehr jeder einen Computer, denn der läuft für alle im Hintergrund. Die Angestellten füllen Masken und Formulare aus, geben Daten ein. Was hinter den Kulissen passiert, wissen sie nicht – und brauchen es auch nicht zu wissen.
Z: Die modernen Systeme erlauben es den meisten Anwender/innen, an der Oberfläche zu bleiben.
W: Die allermeisten Anwendungen sind intransparent, und darauf ist die Computerindustrie zurecht stolz. Niemand braucht zu wissen, was die Maschine konkret macht. Einem Pilot in einem computergesteuerten Flugzeug hilft es überhaupt nichts, zu wissen, wie etwas programmiert ist, wenn etwas schiefgeht. Er muß nur wissen, wie er ein Flugzeug fliegt. Wer mit Programmieren Geld verdient, muß wissen, wie ein Rechner funktioniert, aber das sind bei weitem die wenigsten Anwender. In 20 Jahren werden wir wahrscheinlich im Verhältnis so wenige Programmierer finden in der industrialisierten Welt wie heute Automobildesigner. Wir produzieren jedes Jahr Millionen von Autos, aber wieviele Ingenieure brauchen wir dazu? Viele müssen wissen, wie sie einen Auto fahren, aber wie es konstruiert ist, müssen nur wenige wissen. Zurück zur Kinderschule: Ich frage also die Behörde, was wollen sie lehren? Dann antworten sie, wir wollen den Computer demystifizieren.
Z: Die Maschine ist keine magische Box…
W: Genau. Dann frage ich, auf welcher Ebene der Erklärung wollen sie die Maschine demystifizieren? Sie antworten dann, sie wollten bespielsweise drag-and-drop erklären, also das Markieren eines Abschnitts im Text und dessen Verschieben an eine andere Stelle im Text. Oder sie wollen das Rechtschreibeprogramm erklären, wie wird ein Wort gesucht und als falsch oder richtig erkannt. Das alles sollen unsere Kindern wissen. Ich sage, ok, sie bekommen erklärt, daß im Hintergrund verschiedene Subprogramme ablaufen, aber auch die wiederum sind doch sehr mysteriös… Sollen sie nicht wissen, wie die wiederum funktionieren? Wie werden die Textteile gespeichert und verschoben? Dann erhalte ich die Antwort, das sei dann die zweite Ebene der Erklärung. Und sie können sich vorstellen, auf der fünften Ebene landen wir dann bei der Quantenmechanik. Die Leute, die hier in der Bundesrepublik 40 Millionen Mark für Computer in den Schulen ausgeben, haben keine Ahnung. Sie wissen zuerst einmal gar nicht, worauf ich hinauswill, wenn ich ihnen die Ebenen vor Augen führe. Und wenn sie wissen, was ich meine, dann haben sie keinen Weg zu entscheiden, welche Ebene sie eigentlich vermitteln wollen. Ich denke, sie müßten doch intensiv darüber nachgedacht haben, was denn der Computer in der Schule soll. Doch das haben sie nicht.
Nehmen sie BASIC – eine Programmiersprache. Eine der schlimmsten Ideen, die jemand je von Computern hatte. Leute haben entschieden, es soll BASIC sein, das die Kinder in der Schule lernen sollen. Das haben Leute entschieden, die keine Idee hatten, was es bedeutet, BASIC zu lernen – in dem Fall, etwas ganz falsch zu lernen. Heute ist das vorbei. Für fast jeden Punkt, den ich erwähnt habe, erweisen sich die Schulaufsichtsbehörden als uninformiert. Was sie wissen, ist zum größten Teil falsch – oder wird morgen falsch sein. Besonders schlimm finde ich, daß das heute knappe Geld ausgerechnet für Computer ausgegeben wird. Stattdessen sollten dafür mehr Lehrerinnen und Lehrer eingestellt werden. Auch neue Schulbänke und ein frischer Anstrich bekäme manchen Schulen besser als ein teuer eingerichtetes Computerkabinett.
Z: Wenn keine Computerkabinette, was soll die Schule dann leisten?
Teil 1: 10.03.08