Für eine Re-Sozialisierung der Medizin

Bernd Kalvelage
Klassenmedizin – Plädoyer für eine soziale Reformation der Heilkunst
Springer Heidelberg New York 2014

Rezension:
Wagner HO, Zimmermann T (2014). Für eine Re-Sozialisierung der Medizin. Zeitschrift für Allgemeinmedizin, 90, 12, 494-495.

„Jeder Kranke benötigt eine ‚individuelle Medizin’, die seinen sozialen Status, seine Möglichkeiten und Grenzen kennt und berücksichtigt.“

Bernd Kalvelage war 30 Jahre lang Hausarzt im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, einem so genannten „sozialen Brennpunkt“. Nach all seinen Erfahrungen hält er eine Behandlung „ohne Ansehen der Person“, so wie es eigentlich zum ärztlichen Selbstverständnis gehört, für keinen guten Ausgangspunkt der Heilkunst. Die Schichtzugehörigkeit seines Patienten unberücksichtigt zu lassen, hält er vielmehr für einen (Kunst-) Fehler, der dem Medizinbetrieb gar nicht mehr auffällt.

In seinem Buch „Klassenmedizin“ begründet der Autor ausführlich, warum das so ist: Der Medizinbetrieb habe den sozialen Blick auf die PatientInnen verloren, beklagt Kalvelage. Er belegt seine These akribisch, angereichert mit vielen Beispielen aus der eigenen Praxis, gewürzt mit scharfer Kritik an dem kläglichen Zustand der ärztlichen Selbstverwaltung und der totalen Durchökonomisierung des ärztlichen Handelns. Er hält einem Versorgungssystem den Spiegel vor, das es toleriert, dass Menschen aufgrund ihrer sozialen Lage früher sterben.

Neben dem somato-psychischen Blick auch noch an die soziale Situation der PatientInnen zu denken, stellt eine große Herausforderung dar. Doch im gegenwärtigen Versorgungssystem fehlt der Platz für eine Haltung, die meist unverschuldeten Notlagen der Menschen wirklich ernst zu nehmen. Dazu kommt, dass in Nachbarschaften wie Wilhelmsburg, in denen die Menschen körperlich und seelisch belasteter, also kränker sind, oftmals weniger Ärztinnen und Ärzte praktizieren. Und das obwohl gerade dort ein höherer Erklärungs- und Begleitungsbedarf besteht, um den Menschen die beste Medizin zu Verfügung zu stellen. Die Differenz in der Lebenserwartung zwischen der höchsten und niedrigsten Einkommensgruppe beträgt in Deutschland bei Männern ca. 11 Jahre und bei Frauen 8 Jahre. Diese Diskrepanz alleine unterschiedlichen und selbst verschuldeten Lebensstilen zuzuschreiben, greife zu kurz und sei außerdem zynisch, so Kalvelage. PatientInnen werden vom medizinischen Versorgungssystem in Deutschland für ihre soziale Lage bestraft. Es gilt das alte Bonmot „If you want to improve your health, change your social class“.

Kalvelage kritisiert die Zumutungen der gut situtierten Mehrheitsgesellschaft, bestimmten Kranken und Notleidenden mehr abzuverlangen als sie leisten können: Wieso wird von PatientInnen erwartet, die Verantwortung für das eigene Wohl und Wehe zu übernehmen, wenn sie davor nie in die Lage versetzt worden sind, diese Verantwortungsübernahme zu erlernen? Warum sollten PatientInnen selbstwirksam daran glauben, es läge in ihrer Macht zu gesunden, wenn sie alltäglich dem Gefühl von Ohnmacht, Abhängigkeit und ökonomischer Deprivation ausgesetzt sind?

Begriffe wie Shared-Decision-Making, Eigenverantwortung oder Primärprävention bilden zwar die modernen Trends der Fitness-Gesellschaft und deren Interessen ab, aber sie ignorieren, wie viele PatientInnen dabei auf der Strecke bleiben – im wahrsten Sinne des Wortes. Menschen in Not werden bewusst Ressourcen verweigert und ein abgehobener gesellschaftlicher Diskurs fordert mit „intellektuell beschlagener Oberschichtenbrille“ zur Erziehung der Unterschichten auf.

Wenn all das so ist, was bedeutet das für die hausärztliche Tätigkeit?

Der rote Faden des Buches ist die Einforderung einer bestimmten (haus)-ärztlichen Haltung: „Handle in deinem Verantwortungsbereich so, dass du mit dem Einsatz all deiner Ressourcen immer beim jeweils Letzten beginnst, bei dem es sich am wenigsten lohnt.“ Dieser Satz von Klaus Dörner ist auch für Kalvelage sein „kategorischer Imperativ“. Dabei erkennt er wie Dörner zunächst an, dass es sich dabei um eine Art kalkulierte Überforderung handelt. Der Handlungsmaxime dennoch zu folgen, bringt den handelnden Arzt klar in Stellung dagegen, die Schwächsten auszugrenzen. Mehr noch, die Haltung ist eine Kampfansage an die Ökonomisierung ärztlichen Handelns wie überhaupt des Sozialen.

Kalvelage will soziale Barrieren und Benachteiligungen überwinden. Das ist sein leidenschaftlicher Appell an uns Hausärztinnen und Hausärzte. Er möchte, dass wir uns dafür einsetzen, die Medizin vom Letzten her zu sehen. – Und das sei nicht nur als eine Bürde dem einzelnen Arzt im Sprechzimmer auferlegt, vielmehr müsse das gesamte Konzept medizinischer Versorgung dem Rechnung tragen, Klassenmedizin eben.

Als ein typisches Beispiel führt der Autor die Leitlinien an, die nach wie vor auf eine ausschließlich rationale Steuerung von Menschen setzen. Wo finden wir Hinweise auf die schichtabhängige Umsetzbarkeit von Therapiezielen, auf eine notwendige Orientierung an den Möglichkeiten eines Patienten, der in seinem ganzen Leben so etwas wie Selbstwirksamkeit kaum erfahren hat, auf verkürzte Lebenserwartung, weil eben Zugangshürden unüberwindbar geworden sind? Wo finden wir Ermunterung zur partizipativen Entscheidungsfindung, die Therapiewiderstände berücksichtigt und sich mit kleinen, bescheidenen Therapiezielen zufrieden gibt?

Er fordert Freiraum für eine so verstandene ärztliche Tätigkeit und sieht unsere Gesellschaft auf der schiefen Ebene, weil sie dabei ist, die Kontrolle über die Heilkunde zu verlieren – und sie an Ökonomen und Verwaltungsbürokraten abzugeben. Er möchte die Ärzteschaft wieder für ihren Kernauftrag sensibilisieren und sieht die HausärztInnen in besonderer Weise gefordert, da nur sie sich über die Beziehung zu ihren PatientInnen definieren. HausärztInnen erleben hautnah, wie sehr sich der moderne Medizinbetrieb mit seinen standardisierten Regelungen und Abläufen von den Bedürfnissen der PatientInnen entfernt hat.

Fazit

Bei „Klassenmedizin“ handelt es sich um ein Buch, auf das sich die geneigte Leserin und der geneigte Leser einlassen muss. Es ist fundierte, immer wieder empirisch und anekdotisch untermauerte Gesellschafts- und Medizinkritik. Es ist politisch, philosophisch und gleichzeitig sehr persönlich. Es macht uns die Kernaufgaben deutlich, hält uns den Spiegel vor, zwingt zum Nachdenken. Insofern ist das Buch riskant für die Lesenden: Kalvelages Blick zu folgen, bedeutet, zukünftig nicht mehr weg- oder vorbeischauen zu können. Denn wer sich einmal darauf eingelassen hat, kann in seinem Denken nicht mehr hinter die Perspektive zurück, die Kalvelage in aller Deutlichkeit und mit aller Dringlichkeit ausbreitet. – Auch wenn Kalvelages politische Haltung eher auf der linken Seite des politischen Spektrums verortet werden kann, ist das Werk gerade kein Buch für Linke oder nur für Ärztinnen und Ärzte in sozialen Brennpunkten mit ihren spezifischen Arzt-Patient-Konstellationen. Im Kern geht es Kalvelage ja um die ärztliche Haltung, nicht um die politisch-ideologische. Egal ob freiberuflich oder angestellt – ein Arzt ist nicht der KV, dem Controlling, nicht den Chefs, nicht den Krankenkassen, auch nicht seiner Einkommensmaximierung, sondern nur guter Medizin und den PatientInnen verpflichtet.

Mahnend erinnert uns Kalvelage, dass unsere professionelle Autonomie an eine zentrale Bedingung geknüpft ist: die ausschließliche Orientierung am Wohl unserer PatientInnen, der Not des Menschen, der vor uns sitzt. Der Autor entreißt uns dem Klammergriff der Ökonomie, zunächst einmal intellektuell. Er macht uns den Kopf frei und gibt uns unsere Unabhängigkeit zurück: Der ärztliche Auftrag ist nicht verhandelbar. Wir sind unverfügbar. Wir sind keine Dienstleister. Wir sind Treuhänder für die Sorgen und Nöte unserer PatientInnen.

Die Lektüre dieses Buches kann selbst HausärztInnen nach langjähriger Tätigkeit sehr nachdenklich zurücklassen. Es braucht wesentlich mehr Mut und Engagement, nicht nur um die „Klassenmedizin“ anzuwenden, sondern um einer derartigen Re-Sozialisierung der Medizin deutlich mehr Gehör zu verschaffen – innerhalb unserer eigenen Profession, in Politik und Gesellschaft.

Zwischen Vereinbarkeitslüge und verlogenener Betroffenheit

Die beiden ZEIT-Redakteure Marc Brost und Heinrich Wefing haben Anfang 2014 im eigenen Haus ein Befindlichkeits-Essay veröffentlichen dürfen, das Mitleid erweckt – wegen der Rührseligkeit der Autoren und der Zwangsherrschaft, die ZEIT-Chefs über ihre Mitarbeiter ausüben müssen, wenn man den Berichten der beiden glauben mag. Von der Hölle (zwischen Kindern, Familie und Job) ist in dem Essay die Rede – und von der Vereinbarkeitslüge.

Immerhin erlauben es die bösen ZEIT-Chefs den durch sie geschundenen Männern, sich auf der eigenen Firmenseite über dieses Chefs-Zwangssystem zu beklagen. Beeindruckend. Das würde mir das UKE sicherlich nicht gönnen.

Jetzt befeuern Brost und Wefing die Vereinbarkeitsdebatte mit einem Buch, das mit dem Essay von vor einem Jahr eröffnet wird und genauso betitelt ist: „Geht alles gar nicht“. Die Autoren setzen den Diskurs fort („Jetzt reden die Väter“), den die Journalistinnen Susanne Garsoffky und Britta Sembach im letzten Herbst aus weiblicher Sicht vorangebracht hatten: „Die Alles-ist-möglich-Lüge“.

Leider haben die Brost und Wefing ihren Essay nicht wirklich ausgebaut, sondern nur ein bisschen aufgeblasen. Zum Buch hochgejazzt wird die Klageschrift mit Interviews, die zum Ziel haben, die These der Autoren zu stützen. Es wird gar nicht erst der Versuch unternommen, jemanden zu finden, der die These widerlegt.

Mich erstaunt, wie trotzig erwachsene Männer darauf beharren können, nichts ändern zu wollen – an den eigenen Ansprüchen und Erwartungen, an der Arbeitslast, an der Unvereinbarkeit im Allgemeinen und im Besonderen, nichts. Konsequenterweise sind diese Männer auch felsenfest überzeugt, gar nichts ändern zu können. Dafür sollen die anderen sorgen. Es braucht „gesellschaftliche Veränderungen, politische Reformen, ein Umdenken in den Unternehmen“.

Halt. Stopp. Wie war das mit dem Unternehmen, für das die beiden arbeiten? Spätestens hier offenbart sich die Pose der Autoren, die einer ehrlichen Haltung im Weg steht: Waren sie zunächst betroffen, sind sie spätestens bei ihrem Forderungskatalog verlogen. Brost und Wefing sind eben nicht bereit, selber einen ersten Schritt zu gehen. Job Sharing, Teilzeit, Verzicht hier oder da, um etwas anderes zu gewinnen? Verzicht auf ein Smartphone auf dem Spielplatz? Geht alles gar nicht.

Der Arbeitgeber ist offensichtlich eher stolz und veröffentlicht nun auch einen Auszug aus dem Buch. In den Chefetagen des Verlags scheint sich niemand wirklich angesprochen zu fühlen, wenn es im Buch um „die Chefs“ und die „Unternehmen“ geht, die dafür sorgen, dass das Leben der Väter zur Qual wird. Und die gequälten Väter? – Haben sich ihren Text in den vergangenen 12 Monaten (nebenberuflich) abgerungen – natürlich wieder zu Lasten der Familie, wie der Danksagung am Ende des Buches zu entnehmen ist, nicht etwa zu Lasten ihres Engagements bei DIE ZEIT.

PS.: Lange bevor beide Bücher erschienen sind, empfahl die Bloggerin und Unternehmerin Nicola Wessinghage sich vom Alles-ist-möglich-Mythos zu verabschieden. Folgerichtig setzt sich Wessinghage in ihrem Blog mit beiden Büchern auseinander: Mit den Männern und mit den Frauen.

Nochmal: Vergiss Alzheimer!

Ich habe die Rezension dieses Buches von Cornelia Stolze schon einmal angefangen, kann sie aber nun erst verbessern und vervollständigen:

Endlich ein aufklärerisches Werk zu Alzheimer, das sich wunderbar ergänzt mit meinen Erfahrungen als Untersucher im Kompetenznetz Degenerative Demenzen (KNDD). Ein Buch, wie ich es gerne selber geschrieben hätte, :-). Ich wünsche mir, es öffnet vielen Leuten die Augen, lässt Ängste kleiner werden und hilft, die Dinge des Alterns gelassener zu nehmen. Schön wäre auch, wenn dadurch die Versprechungen von Industrie, Wissenschaft und denen, die sich als Mietmäuler zur Verfügung stellen, an jenen abperlen, die insbesondere als Angehörige mit dem Phänomen der nachlassenden Gedächtnisleistung und der nachfolgend eingeschränkten Alltagskompetenz ihrer Lieben zu tun haben.

Ich habe in der AgeCoDe-Kohorte des KNDD bisher ca. 1500 Interviews zur Erkennung von Alzheimer und anderen Demenzen gemacht. Ich besuche alte Menschen (seit 2003, damals >75 Jahre alt) zu Hause, inzwischen das 6. Mal – und ich schließe, nach all den neuropsychologischen Tests, den Gesprächen und Eindrücken aus dem Umfeld der Menschen: Es kann sich bei Alzheimer kaum um eine „richtige“ Erkrankung handeln, gut abgrenzbar von anderen Zuständen bspw. Allenfalls handelt es sich um einen Komplex von Symptomen: Entweder gehören sie zum normalen (Hirn)-Alterungsprozess oder sie treten als sekundäre Phänomene auf, verursacht vielleicht durch einen oder viele kleine Schlaganfälle, eine Depression, eine Schilddrüsenunterfunktion oder durch schlichten Wassermangel, weil alten Menschen das Durstgefühl abhanden kommt. Dass die halbe Welt Angst hat vor Alzheimer, ist ein gelungener Fall von Wissenschaftsmarketing – und darüber schreibt Stolze.

Wertvoll ist dieses Buch auch deswegen, weil die Journalistin nicht davor zurückschreckt, Namen und Adressen der ins Geschäft verwickelten zu nennen. Wiltfang, Hampel, Möller, Bayreuther – einschlägig bekannte Größen der Alzheimer-Forschung in Deutschland werden zitiert und direkt befragt, und entlarven sich dabei häufig selber. So wird öffentlich (auf der Webseite des KNDD) und in anderen Patientenmitteilungen beschönigt, wie gut die Erkrankung inzwischen diagnostiziert werden kann und wie Medikamente bspw. die Heimeinweisung verzögern. Aber in den Forschungsanträgen wird immerzu geklagt, wie wenig wir doch noch über die Ursachen wissen, wie unsicher die bisherigen diagnostischen Verfahren seien, wie wenig wirksam die bisher zur Verfügung stehenden Medikamente…

Insgesamt fasst Frau Stolze das Thema Alzheimer angenehm weit, schaut sich die Sache mit den Alzheiner-Medikamenten an, analysiert die Lobbyarbeit der wissenschaftlichen Fachgesellschaften und benennt Unsauberkeiten hinsichtlich der Verwendung und Vermarktung von Blutproben, die den Patienten im Rahmen wissenschaftlicher Studien abgenommen werden. Wie gesagt: Wertvoll!

Schließlich ein paar kritische Anmerkungen: Das Buch hätte ein etwas besseres Lektorat verdient. Die Autorin wiederholt sich an manchen Stellen. Das scheint ohne Absicht zu geschehen, denn die verschiedenen Stellen sind nicht bezogen aufeinander. Schließlich hätten ein Glossar, ein Stichwort- und ein Namensregister dem Buch zu noch mehr Wert verholfen.

Insgesamt ein wichtiges Buch, denn der Bedarf, die Hintergründe in diesem Bereich etwas auszuleuchten, ist groß.

Cornelia Stolze: Vergiss Alzheimer!

Mein aktuelles Lieblingsbuch.

Endlich ein aufklärerisches Werk zu Alzheimer, das sich wunderbar ergänzt mit meinen Erfahrungen als Untersucher im Kompetenznetz Degenerative Demenzen (KNDD). Ein Buch, wie ich es gerne selber geschrieben hätte, :-). Ich wünsche mir, es öffnet vielen Leuten die Augen, lässt Ängste kleiner werden, die Dinge des Alterns gelassener nehmen.

Ich habe in der AgeCoDe-Kohorte bisher ca. 1400 Interviews zur Erkennung von Alzheimer und anderen Demenzen gemacht. Ich besuche alte Menschen (seit 2003, damals >75 Jahre alt) zu Hause, inzwischen das 6. Mal – und ich schließe, nach all den neuropsychologischen Tests, den Gesprächen und Eindrücken aus dem Umfeld der Menschen: Es kann sich bei Alzheimer auf keinen Fall um eine Erkrankung handeln, sondern um einen normalen Alterungsprozess des Gehirns, der den einen früher trifft und einen anderen später.

Meine Hypothese: Wenn wir alle 120 Jahre alt würden, degenerierten alle unsere Hirne so, dass von außen jemand das Alzheimer-Etikett drauf kleben könnte.

Cover Vergiss Alzheimer

SPIEGEL-TV bedient sich ohne nachzufragen bei Blogger

Der Blogger Matt Wagner („Die Rückseite der Reeperbahn“) berichtet von einem Polizeieinsatz, den er vor dem Zimmerfenster seiner Wohnung in der Hamburger Seilerstraße gefilmt – und online gestellt hatte: „Hinlegen! Oder ich schiesse!“

Einen Tag später erhält er die Mitteilung, dass sein YouTube-Video von SPIEGEL-TV gezeigt wird – allerdings ohne Quellenangabe, ohne Nachfrage beim Autor und erst recht ohne Honorarangebot. Doch: In einem werbefinanzierten Umfeld wie SPIEGEL-TV ist das Honorar eine Selbstverständlichkeit.

Offenbar bedienten sich die SPIEGEL-TV-Leute einer sehr freien und unkonventionellen Auslegung des Open-Source-Gedankens.

Jetzt kümmert sich der Lawblog-Macher Udo Vetter um eine Nachhonorierung.

Lebensqualität bei ALS

Im Deutschen Ärzteblatt erschien vor kurzem eine Studie zur Lebensqualität von Menschen mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS), einer degenerativen Muskelerkrankung. Im Endzustand der Erkrankung kann der menschliche Körper keinerlei Eigenbewegung mehr ausführen. Die Patienten müssen künstlich beatmet werden. Das Hirn ist vollständig eingeschlossen, locked-in.

Ich habe anlässlich des Filmstarts von “Schmetterling und Taucherglocke” Ende März eine Interviewserie mit Niels Birbaumer (Locked-In-Syndrom – das eingeschlossene Hirn) veröffentlicht, der ALS seit Jahren erforscht und auch an der aktuellen Studie beteiligt war.

Das zentrale Ergebnis: Die Lebensqualität aus der Innensicht der Betroffenen ist nicht schlechter als die anderer Menschen auch. Sie sind auch nicht depressiver.

Allerdings geben natürlich nur die Leute Auskunft, die sich bspw. durch eine Beatmungsmaschine am Leben erhalten lassen. Die anderen sind entweder bereits verstorben bzw. verweigern sich der sicherlich anstrengenden Befragung. Die Verzerrung in der Auswahl der Patienten könnte eine Ursache dafür sein, dass die Betroffenen ihre Lebensqualität und ihre Stimmung als ganz gut einschätzen.

Die Studie gebietet es dennoch, innezuhalten und sich vor vorschnellen Einschätzungen über das Befinden von Schwerstkranken zu hüten, die nicht mehr in der Lage sind, ihre Gefühle ohne weiteres mitzuteilen.

Auch Menschen mit Demenz erleben wir als kaum noch zugänglich. Auch sie sind in einem bestimmten Stadium der Krankheit nicht mehr in der Lage, Mitteilungen über ihr Innenleben zu machen. Das sollten wir Außenstehenden aber nicht dahingehend interpretieren, dass in diesem Inneren nichts mehr oder nur noch Schreckliches stattfindet bzw. diejenigen sowieso nichts mehr mitkriegen.

Respekt und Würde sind nicht teilbar!

Christine Brinck: Mütterkriege

Bevor ich irgendetwas über dieses Buch schreibe, lege ich ein Bekenntnis ab: Ich gehöre in drei der vielen Schubladen, derer sich die Autorin bedient: Teilzeitarbeitender Vater (sehr gut), hat sein Kind mit 10 Monaten in Fremdbetreuung gegeben (sehr schlecht), wurde in der DDR in Krippe und Kita ab dem 1. Lebensjahr fremdbetreut (ganz, ganz schlecht).

Das Buch ist ein Beitrag zur aktuellen Debatte um Krippenausbau und Elterngeld, zum Disput um häusliche Erziehung und Fremdbetreuung. Dabei kommt die Autorin relativ schnell zur Erkenntnis, dass es für die meisten Eltern und insbesondere die Mütter nicht um ein Entweder-oder (Entweder erzieht Mama das Kind daheim oder es überlässt es der Krippe), sondern um ein entspanntes Sowohl-als-auch geht: Kindchen ein paar Stunden in eine gute Krippeneinrichtung und dann immer noch genügend gemeinsame Zeit für Eltern und Kind.

Leider gelingt es der Autorin nicht, in ihrem Buch das Sowohl-als-auch als gute Option in den Vordergrund zu rücken. Vielmehr verwendet sie vier Techniken, um auf recht brachiale Weise allen, die nicht ihrer vorgefertigten Meinung sind (siehe Schubladen oben) in die korrekte Spur zu verhelfen.

1. Erzählen der Wirklichkeit von den Rändern her, von den Extremen

Bis zu 50 Kinder in einer Gruppe, Betreuungszeiten zwischen 10 und 12 Stunden, drei Monate alte Kinder fremdbetreut, wechselndes, schlecht ausgebildetes Personal in den Kitas und Krippen. Mit dieser Auswahl an Extremen zeichnet Brinck das Bild bundesdeutscher Kita-Wirklichkeit. Was sie eigentlich nicht will (entweder-oder) macht sie so zur Leitlinie ihrer Argumentation. Schuldig bleibt sie allerdings eine Bestandsaufnahme, wie viele Kinder in welchem Alter wie viele Stunden tatsächlich in einer Einrichtung betreut werden. Und wenn sie dazu keine Zahlen gefunden hat, müsste sie welche einfordern.

2. Viel behaupten, wenig belegen

Die unter 1. beschriebenen Extreme werden durch das Buch hindurch als allgemeingültig unterstellt. Wie gesagt: Die Belege dafür fehlen.

Weiteres Beispiel gefällig? Familiäre Erziehung sei besser als jene vom Staat. Eine beredte Sprache sprächen da „die Ergebnisse früherer Massen-Fremdbetreuung in der DDR und den anderen Ostblock-Ländern.“ Welche Ergebnisse, wo?

Oder auch: „[…] doch sind unsere Rollen als Väter und Mütter nicht austauschbar, auch wenn die Gender-mainstreaming-Advokaten die Eltern am liebsten androgyn sehen würden.“ Quellen: Keine.

3. Mitgefühl simulieren, aber kneifen, wenn es drauf ankommt

Der Autorin geht es um das Wohl des Kindes. Doch die Krippen sollten nicht (hauptsächlich) für die Besserverdienenden und Besserausgebildeten da sein. Die könnten die Kinder ja verantwortungsvoll selber betreuen, könnten sich das auch leisten. Vielmehr wäre es notwendig, in den sozialen Brennpunkten die Fremdbetreuung massiv anzukurbeln. Für die Benachteiligten dieser Gesellschaft würden sich gut ausgestattete Betreuungseinrichtungen besonders eignen. Ach? Eine Frage dazu: Wie stellt sich die Autorin vor, dass die Eltern einwilligen, ihre Kinder in Obhut zu geben? All das erscheint doch sehr halbgar und wohlfeil.

4. Diffamierende Metaphern verwenden

Da reicht ein Beispiel: „Jeder, der sich einen Hund anschafft, um ihn anschließend in die Hundepension zu bringen, würde von Tierfreunden als unmenschlich gebrandmarkt. Mit einem Kind soll das aber gehen?“

Mit ein wenig Lektorat, einer gescheiteren Struktur, mit etwas mehr Belegen und weniger Behauptungen, mit etwas weniger Betroffenheitssimulation und weniger Schaum vor dem Mund hätte aus dem Buch ein konstruktiver Debattenbeitrag werden können. So wirkt es wie ein schnell zusammengewürfeltes Potpourri aus Meinung, Beleidigung und dünner Argumentation, um noch das Trittbrett des fahrenden Themenzuges zu erwischen.

Irgendwie unsympathisch.

Zwei-Klassen-Medizin oder drittklassige Wissenschaft?

Irgendwie verwunderlich, wenn plötzlich eine vor drei Monaten veröffentlichte Arbeit („Waiting times for elective treatments according to insurance status: A randomized empirical study in Germany„) des Kölner Instituts für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie (Direktor, beurlaubt: Prof. Karl Lauterbach, MdB) so eine rasante mediale Karriere macht.

Findet hier die gefühlte Wirklichkeit endlich mal ihren wissenschaftlichen Ausdruck? Hat ein Studienautor und Gesundheitspolitiker (Lauterbach) im richtigen Moment dem richtigen Blatt (Kölner Stadtanzeiger) das richtige Interview gegeben – und alle denken, endlich bringt mal einer Fakten, wovon wir sowieso schon lange überzeugt sind? Oder macht da einfach einer seine private Gesundheitspolitik?

Die unterschiedlichen Reaktionen jedenfalls sind im Deutschen Ärzteblatt zusammenfassend dargestellt.

Doch wie viel Substanz hat die Originalarbeit, auf die sich plötzlich alle stürzen – ohne sie gelesen zu haben, wie sich unschwer vermuten lässt?

Wenig, um es vorab auf den Punkt zu bringen:

1. Die häufig zitierten 189 (oder auch: rund 200) Praxen schrumpfen auf 128, die in die tatsächliche Auswertung eingehen. Es handelt sich also um 128 Patiententermine in 5 verschiedenen Fachgebieten, wobei manche stärker (HNO N=46) und manche weniger stark (Gastroenterologie N=10) vertreten waren. Die Aussagekraft ist also noch einmal deutlich kleiner, als gegenwärtig öffentlich diskutiert.

2. Zum Setting gehörte, dass die Anrufer in der jeweiligen Praxis explizit ihren Versichertenstatus (gesetzlich oder privat) zur Kenntnis geben mussten. Das ist eher ungewöhnlich, sowohl von Patientenseite als auch von Praxisseite. Sicherlich gibt es privat Versicherte, die sich mit dieser Info versuchen einen Vorteil zu verschaffen. Und sicherlich gibt es auch Praxen, die nachfragen. Doch Alltag im deutschen System ist das keinesfalls – zumindest nicht so, wie es im Design suggeriert wird. Die Studie erzeugt also erst einmal den Gegensatz (gesetzlich vs. privat), den sie dann später bestätigt findet. Redlich ist das nicht.

3. Das Verhältnis von Privatversicherten zu gesetzlich Versicherten lag in der Studie bei 1:1. In der Wirklichkeit ist das Verhältnis ungefähr 9:1, also auf 9 gesetzlich Versicherte kommt ein Patient mit privater Versicherung. Das mag von Region zu Region variieren, auch in der Region Köln/Bonn/Leverkusen mag der Anteil der privat Versicherten leicht höher liegen. Doch eine derartige Verzerrung zuungunsten der gesetzlich versicherten Patienten im Studiendesign zu verstecken, spricht auch nicht für die Qualität der Studie.

Zusammengefasst: Mit einer kleinen, kaum sehr aussagekräftigen Stichprobe versuchen die Autoren in einem Design, das ihre eigenen Vorurteile reproduziert, Ergebnisse zu erzeugen, die sich gesundheitspolitisch vermarkten lassen. Herr Lauterbach gehört bekanntermaßen zu den schärfsten Gegnern der privaten Krankenversicherung.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Auch ich bin ein großer Fan der Solidarversicherung. Doch dieser Idee wird ein schlechter Dienst erwiesen, wenn einzelne Interessierte auf diese drittklassige Weise versuchen, gesundheitspolitisch Stimmung zu machen. Die gesamte Studie ist also schon als politisches Manifest konzipiert. Das Schreckgespenst der Zwei-Klassen-Medizin wird absichtlich zu monströser Größe aufgeblasen.

Niemand bestreitet Verwerfungen im deutschen Gesundheitssystem. Ungerechtigkeiten und Ungleichbehandlungen sind gegenwärtig Teil des Systems. Doch schlechte Wissenschaft und Patienten, die durch die Vermarktung schlechter Wissenschaft in Wallung gebracht werden, helfen kaum, Systemfehler politisch zu beheben. Mit der Brechstange und im Alleingang wird auch Prof. Lauterbach das System nicht verändern.

Was kostet es, Medikamente zu vermarkten?

Die Ausgaben für die Vermarktung von Arzneimitteln sind immer mal wieder Anlass für Dispute zwischen den Medikamentenherstellern und deren Kritikern. Die Unternehmen behaupten, keineswegs gäben sie für das Marketing mehr aus als für Forschung und Entwicklung. Die Kritiker hingegen werfen der Industrie vor, alle direkten und indirekten Vermarktungskosten überstiegen die Forschungsetats sehr deutlich.

In einer frischen Bestandsaufnahme (Gagnon MA, Lexchin J (2008) The Cost of Pushing Pills: A New Estimate of Pharmaceutical Promotion Expenditures in the United States. PLoS Med 5(1): e1) unternehmen zwei kanadische Autoren den Versuch, die Arzneimittel-Vermarktungskosten in den USA für das Jahr 2004 zu schätzen. Sie vergleichen die Angaben zweier Marktforschungsunternehmen (IMS Health Care und CAM). Dabei befragt IMS Health vor allem die Hersteller, während die CAM-Daten auf einer Mischung basieren: Befragungen von Ärzten und interne Industrie-Daten.

Zu den Vermarktungskosten gehören verschenkte Medikamentenpackungen, die Gehälter und Provisionen der Pharmareferenten, Anzeigen- und Direktvertriebskosten, Tagungsunterstützungen, die Finanzierung von Anwendungsbeobachtungen. Die IMS-Zahl von rund 27,7 Mrd. US-Dollar Vermarktungskosten im Jahr 2004 ist die offizielle Zahl der Industrie. In dieser Höhe bewegt sich auch der Aufwand für Forschung und Entwicklung. Die Zahl stützt also das Argument, keineswegs würden mehr Ausgaben in die Vermarktung als in die Erforschung von Arzneimitteln gesteckt.

Die CAM-Zahl liegt bei etwa 33 Mrd. US-Dollar. Allerdings weist CAM auf so genannte „unmonitored promotion“ hin, deren Höhe auf weitere 14,4 Mrd. Dollar geschätzt wird. Dazu gehören ethisch bedenkliche Formen der Vermarktung wie der gezielte Hinweis auf einen möglichen Off-Label-Use, also die Empfehlung, das Medikament jenseits der Zulassungsindikation zu verwenden. Das wird ergänzt durch Vermarktung in Zeitschriften, die nicht von CAM erfasst werden, durch untertreibende Angaben der befragten Ärzte, durch Nichterfassung bestimmter Arzt-Gruppen. Die Autoren kommen zu dem Schluß, dass 2004 in den USA etwa 57,5 Mrd. US-Dollar in den Marketing-Budgets der Industrie drinsteckten – fast zweimal so viel wie in den Entwicklungsetats.

Insgesamt handelt es sich bei den Vermarktungskosten um eine schwer fassbare Größe. Aber der PLoS-Beitrag macht sehr anschaulich, welche Angaben unbedingt in eine solche Rechnung hinein gehören – und er unterläuft die Strategie der Hersteller, die tatsächlichen Vermarktungskosten gering zu rechnen oder ganz zu verschleiern.

Mangel auf Kuba bessert die Gesundheit

Einen sehr interessanten Aufsatz zum Zusammenhang von Wirtschaftskrise und Gesundheitsstatus veröffentlichte vor kurzem das American Journal of Epidemiology: Impact of Energy Intake, Physical Activity, and Population-wide Weight Loss on Cardiovascular Disease and Diabetes Mortality in Cuba, 1980–2005.

Im Zuge der Wirtschaftskrise (1989-2000) nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion reduzierte sich die Kalorienaufnahme der kubanischen Bevölkerung. Weil das Öl knapp wurd, nahm gleichzeitig die körperliche Aktivität zu. Das führte im zweiten Teil der 1990er Jahre zu einer deutlichen Reduzierung des Körpergewichts. Die Diabetes-Sterblichkeit verringerte sich dramatisch – und auch die Sterblichkeitsziffern für Herzerkrankungen und Schlaganfall veränderten sich positiv.

Die Ergebnisse zeigen, dass eine Reduktion der Energiezufuhr gesundheitsrelevante Effekte hat. Zwar verzichteten die Kubaner nicht freiwillig auf die Kalorien, und auch die vermehrte körperliche Aktivität (Fahrrad fahren, Gehen) wurde ihnen abgenötigt. Dennoch wird dadurch sichtbar, welche langfristigen Effekte präventive Maßnahmen haben.

Niemand sollte allerdings die falschen Schlüsse ziehen und nun eine Beschränkung der verfügbaren Kalorienmengen fordern, um das Risiko für Herzerkrankungen und Diabetes positiv zu beeinflussen. Die Zwangskrise einer ganzen Volkswirtschaft führt zu einer Reduktion der Energiezufuhr in allen Bevölkerungsteilen, also auch bei jenen, die möglicherweise sowieso schon mangelernährt sind. Das Risiko für Kinder und Alte wächst, unter dem Mangel zu leiden. Die Studie weist das für die Alten nach. Deren Gesamtsterblichkeit ging im untersuchten Zeitraum leicht in die Höhe.

Gleichwohl stellt sich die Frage, wie sinnvoll bevölkerungsbezogene Präventionskampagnen unter Freiwilligkeitsbedingungen sind. Alle wissen, was Sie tun müssten, aber es gibt keine Möglichkeiten, die Verhaltensänderungen zu erzwingen. Zumal die Studie ein weiteres Ergebnis liefert: Ab dem Jahr 2000 bessert sich die kubanische Wirtschaftslage – und die Diabetes- und Herzkreislauf-Sterberaten steigen wieder.