Für eine Re-Sozialisierung der Medizin

Bernd Kalvelage
Klassenmedizin – Plädoyer für eine soziale Reformation der Heilkunst
Springer Heidelberg New York 2014

Rezension:
Wagner HO, Zimmermann T (2014). Für eine Re-Sozialisierung der Medizin. Zeitschrift für Allgemeinmedizin, 90, 12, 494-495.

„Jeder Kranke benötigt eine ‚individuelle Medizin’, die seinen sozialen Status, seine Möglichkeiten und Grenzen kennt und berücksichtigt.“

Bernd Kalvelage war 30 Jahre lang Hausarzt im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, einem so genannten „sozialen Brennpunkt“. Nach all seinen Erfahrungen hält er eine Behandlung „ohne Ansehen der Person“, so wie es eigentlich zum ärztlichen Selbstverständnis gehört, für keinen guten Ausgangspunkt der Heilkunst. Die Schichtzugehörigkeit seines Patienten unberücksichtigt zu lassen, hält er vielmehr für einen (Kunst-) Fehler, der dem Medizinbetrieb gar nicht mehr auffällt.

In seinem Buch „Klassenmedizin“ begründet der Autor ausführlich, warum das so ist: Der Medizinbetrieb habe den sozialen Blick auf die PatientInnen verloren, beklagt Kalvelage. Er belegt seine These akribisch, angereichert mit vielen Beispielen aus der eigenen Praxis, gewürzt mit scharfer Kritik an dem kläglichen Zustand der ärztlichen Selbstverwaltung und der totalen Durchökonomisierung des ärztlichen Handelns. Er hält einem Versorgungssystem den Spiegel vor, das es toleriert, dass Menschen aufgrund ihrer sozialen Lage früher sterben.

Neben dem somato-psychischen Blick auch noch an die soziale Situation der PatientInnen zu denken, stellt eine große Herausforderung dar. Doch im gegenwärtigen Versorgungssystem fehlt der Platz für eine Haltung, die meist unverschuldeten Notlagen der Menschen wirklich ernst zu nehmen. Dazu kommt, dass in Nachbarschaften wie Wilhelmsburg, in denen die Menschen körperlich und seelisch belasteter, also kränker sind, oftmals weniger Ärztinnen und Ärzte praktizieren. Und das obwohl gerade dort ein höherer Erklärungs- und Begleitungsbedarf besteht, um den Menschen die beste Medizin zu Verfügung zu stellen. Die Differenz in der Lebenserwartung zwischen der höchsten und niedrigsten Einkommensgruppe beträgt in Deutschland bei Männern ca. 11 Jahre und bei Frauen 8 Jahre. Diese Diskrepanz alleine unterschiedlichen und selbst verschuldeten Lebensstilen zuzuschreiben, greife zu kurz und sei außerdem zynisch, so Kalvelage. PatientInnen werden vom medizinischen Versorgungssystem in Deutschland für ihre soziale Lage bestraft. Es gilt das alte Bonmot „If you want to improve your health, change your social class“.

Kalvelage kritisiert die Zumutungen der gut situtierten Mehrheitsgesellschaft, bestimmten Kranken und Notleidenden mehr abzuverlangen als sie leisten können: Wieso wird von PatientInnen erwartet, die Verantwortung für das eigene Wohl und Wehe zu übernehmen, wenn sie davor nie in die Lage versetzt worden sind, diese Verantwortungsübernahme zu erlernen? Warum sollten PatientInnen selbstwirksam daran glauben, es läge in ihrer Macht zu gesunden, wenn sie alltäglich dem Gefühl von Ohnmacht, Abhängigkeit und ökonomischer Deprivation ausgesetzt sind?

Begriffe wie Shared-Decision-Making, Eigenverantwortung oder Primärprävention bilden zwar die modernen Trends der Fitness-Gesellschaft und deren Interessen ab, aber sie ignorieren, wie viele PatientInnen dabei auf der Strecke bleiben – im wahrsten Sinne des Wortes. Menschen in Not werden bewusst Ressourcen verweigert und ein abgehobener gesellschaftlicher Diskurs fordert mit „intellektuell beschlagener Oberschichtenbrille“ zur Erziehung der Unterschichten auf.

Wenn all das so ist, was bedeutet das für die hausärztliche Tätigkeit?

Der rote Faden des Buches ist die Einforderung einer bestimmten (haus)-ärztlichen Haltung: „Handle in deinem Verantwortungsbereich so, dass du mit dem Einsatz all deiner Ressourcen immer beim jeweils Letzten beginnst, bei dem es sich am wenigsten lohnt.“ Dieser Satz von Klaus Dörner ist auch für Kalvelage sein „kategorischer Imperativ“. Dabei erkennt er wie Dörner zunächst an, dass es sich dabei um eine Art kalkulierte Überforderung handelt. Der Handlungsmaxime dennoch zu folgen, bringt den handelnden Arzt klar in Stellung dagegen, die Schwächsten auszugrenzen. Mehr noch, die Haltung ist eine Kampfansage an die Ökonomisierung ärztlichen Handelns wie überhaupt des Sozialen.

Kalvelage will soziale Barrieren und Benachteiligungen überwinden. Das ist sein leidenschaftlicher Appell an uns Hausärztinnen und Hausärzte. Er möchte, dass wir uns dafür einsetzen, die Medizin vom Letzten her zu sehen. – Und das sei nicht nur als eine Bürde dem einzelnen Arzt im Sprechzimmer auferlegt, vielmehr müsse das gesamte Konzept medizinischer Versorgung dem Rechnung tragen, Klassenmedizin eben.

Als ein typisches Beispiel führt der Autor die Leitlinien an, die nach wie vor auf eine ausschließlich rationale Steuerung von Menschen setzen. Wo finden wir Hinweise auf die schichtabhängige Umsetzbarkeit von Therapiezielen, auf eine notwendige Orientierung an den Möglichkeiten eines Patienten, der in seinem ganzen Leben so etwas wie Selbstwirksamkeit kaum erfahren hat, auf verkürzte Lebenserwartung, weil eben Zugangshürden unüberwindbar geworden sind? Wo finden wir Ermunterung zur partizipativen Entscheidungsfindung, die Therapiewiderstände berücksichtigt und sich mit kleinen, bescheidenen Therapiezielen zufrieden gibt?

Er fordert Freiraum für eine so verstandene ärztliche Tätigkeit und sieht unsere Gesellschaft auf der schiefen Ebene, weil sie dabei ist, die Kontrolle über die Heilkunde zu verlieren – und sie an Ökonomen und Verwaltungsbürokraten abzugeben. Er möchte die Ärzteschaft wieder für ihren Kernauftrag sensibilisieren und sieht die HausärztInnen in besonderer Weise gefordert, da nur sie sich über die Beziehung zu ihren PatientInnen definieren. HausärztInnen erleben hautnah, wie sehr sich der moderne Medizinbetrieb mit seinen standardisierten Regelungen und Abläufen von den Bedürfnissen der PatientInnen entfernt hat.

Fazit

Bei „Klassenmedizin“ handelt es sich um ein Buch, auf das sich die geneigte Leserin und der geneigte Leser einlassen muss. Es ist fundierte, immer wieder empirisch und anekdotisch untermauerte Gesellschafts- und Medizinkritik. Es ist politisch, philosophisch und gleichzeitig sehr persönlich. Es macht uns die Kernaufgaben deutlich, hält uns den Spiegel vor, zwingt zum Nachdenken. Insofern ist das Buch riskant für die Lesenden: Kalvelages Blick zu folgen, bedeutet, zukünftig nicht mehr weg- oder vorbeischauen zu können. Denn wer sich einmal darauf eingelassen hat, kann in seinem Denken nicht mehr hinter die Perspektive zurück, die Kalvelage in aller Deutlichkeit und mit aller Dringlichkeit ausbreitet. – Auch wenn Kalvelages politische Haltung eher auf der linken Seite des politischen Spektrums verortet werden kann, ist das Werk gerade kein Buch für Linke oder nur für Ärztinnen und Ärzte in sozialen Brennpunkten mit ihren spezifischen Arzt-Patient-Konstellationen. Im Kern geht es Kalvelage ja um die ärztliche Haltung, nicht um die politisch-ideologische. Egal ob freiberuflich oder angestellt – ein Arzt ist nicht der KV, dem Controlling, nicht den Chefs, nicht den Krankenkassen, auch nicht seiner Einkommensmaximierung, sondern nur guter Medizin und den PatientInnen verpflichtet.

Mahnend erinnert uns Kalvelage, dass unsere professionelle Autonomie an eine zentrale Bedingung geknüpft ist: die ausschließliche Orientierung am Wohl unserer PatientInnen, der Not des Menschen, der vor uns sitzt. Der Autor entreißt uns dem Klammergriff der Ökonomie, zunächst einmal intellektuell. Er macht uns den Kopf frei und gibt uns unsere Unabhängigkeit zurück: Der ärztliche Auftrag ist nicht verhandelbar. Wir sind unverfügbar. Wir sind keine Dienstleister. Wir sind Treuhänder für die Sorgen und Nöte unserer PatientInnen.

Die Lektüre dieses Buches kann selbst HausärztInnen nach langjähriger Tätigkeit sehr nachdenklich zurücklassen. Es braucht wesentlich mehr Mut und Engagement, nicht nur um die „Klassenmedizin“ anzuwenden, sondern um einer derartigen Re-Sozialisierung der Medizin deutlich mehr Gehör zu verschaffen – innerhalb unserer eigenen Profession, in Politik und Gesellschaft.

#32c3 – best of chaos communication congress (part 9)

Collect It All: Open Source Intelligence (OSINT) for Everyone

Talk by M.C. McGrath (Transparency Toolkit)

From the program:

Governments post reports and data about their operations. Journalists publish documents from whistleblowers. But there is a third type of open data that is often overlooked – the information people and companies post about themselves. People need jobs. Companies need to hire people. Secret prisons do not build themselves.
By making it feasible for anyone to collect public data online in bulk and exploring ways to effectively use this data for concrete objectives, we can build an independent, distributed system of accountability.

Full video stream:

#32c3 – best of chaos communication congress (part 8)

Predicting Crime in a Big Data World

Talk by Whitney Merrill

Extract from the program:

„Yearly, the world is inundated with news about government data collection programs. In addition to these programs, governments collect data from third party sources to gather information about individuals. This data in conjunction with machine learning aids governments in determining where crime will be committed and who has committed a crime. Could this data serve as a method by which governments predict whether or not the individual will commit a crime? This talk will examine the use of big data in the context of predictive policing. Specifically, how does the data collected inform suspicion about a particular individual? In the context of U.S. law, can big data alone establish reasonable suspicion or should it just factor into the totality of the circumstances? How do we mitigate the biases that might exist in large data sets?“

Full video stream:

#32c3 – best of chaos communication congress (part 7)

A New Kid on the Block
Conditions for a Successful Market Entry of Decentralized Social Networks

Talk by Katharina Nocun

Extract from the program:

The leading social networks are the powerful new gatekeepers of the digital age. Proprietary de facto standards of the dominant companies have lead to the emergence of virtual “information silos” that can barely communicate with one another. Has Diaspora really lost the war? Or is there still a chance to succeed?

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#32c3 – best of chaos communication congress (part 5)

Media Coverage and the Public in the Surveillance Society:

Talk by Arne Hintz and Lina Dencik (University of Cardiff, Wales, GB)

Extracted from the program:

How have the media reported the Snowden revelations? Does the public care about surveillance, and how do people react? Do we need a ‚data justice‘ movement?

Full video stream:

#32c3 – best of chaos communication congress (part 4)

The possibility of an army

Talkperformance by Constantin Dullaart

Extracted from the program:

Using follower bombing as art performances, the artist Constant Dullaart continues the research into attention and identity as a commodity on social networks, and has recently created a large sum of custom created artificial Facebook identities.
Many websites offer an option to login in with Facebook credentials due to the strict controle of the service on the reliability and verification of the social medium. In a time where the open borders in Europe are under pressure, and Syrian identities are sold to people that long for a better future, virtual identity systems, and their reliability become a topical analogy.

Full video stream:

#32c3 – best of chaos communication congress (part 3)

Trust us and our business will expand!

Talkperformance by Andreas Zingerle, Linda Kronman

Extracted from the 32C3 halfnarp

The lecture outlines strategies by the „Artist against 419“ online community that uses open source intelligence to gather data and file reports about fraudulent websites. The lecture presents the artistic installation „Megacorp.“ (created by KairUs) that tries to visualize the global phenomenon of fake business websites.

Full video stream:

Nützliche Links zur Flüchtlingshilfe in Hamburg – #HHhilft

Umfassende Sammlung verschiedener Betreuungs- und Beratungs-Angebote auf hamburg.de

http://www.hamburg.de/fluechtlinge/4334084/betreuung-und-beratung/

Kirchliche Beratungsstelle Fluchtpunkt

http://www.fluchtpunkt-hh.de/scroll/aktuelles_beratung01.html

Ärztliche Versorgung von Flüchtlingen (aus ärztlicher Sicht inkl. Abrechnung)

http://www.kvhh.net/media/public/db/media/1/2009/10/72/telegramm_31_2015_sondertelegramm.pdf

In diesem KVH-Telegramm finden sich auf Seite 2 Hinweise für die Behandlung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und die Inanspruchnahme von Psychotherapie

http://www.kvhh.net/media/public/db/media/1/2009/10/72/telegramm_32_2015.pdf

Ärztekammer Flyer Menschen in Not helfen

http://www.aerztekammer-hamburg.org/files/aerztekammer_hamburg/wissenswertes/migranten/Flyer_menschen_in_not_helfen_2015.pdf

Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge ohne Papiere

http://www.medibuero-hamburg.org/deutsch
http://www.diakonie-hamburg.de/web/spenden/AnDOCken-Aerztliche-und-Soziale-Praxis-fuer-Menschen-ohne-Papiere

Hilfe für besonders schutzwürdige Flüchtlinge (minderjährig, krank, alt, schwanger etc.)

http://www.fz-hh.de/de/projekte/clearingstelle.php
http://www.fz-hh.de/download/flyer-clearingstelle.pdf

Flüchtlingszentrum Flyer mit Programmüberblick (getragen von AWO, Caritas, Rotes Kreuz)

Startseite Flüchtlingszentrum
http://www.fz-hh.de/download/Flyer_Fluchtlingszentrum-Hamburg_2015_DEEN.pdf

Work and Integration for Refugees (W.I.R.)

http://www.fz-hh.de/download/W.I.R/WIR-Infoblatt-MultiplikatorInnen-DEUTSCH.pdf (deutsch)
http://www.fz-hh.de/download/W.I.R/WIR-Infoblatt-MultiplikatorInnen-ARABISCH.pdf (arabisch)

Sozialpädagogische Familienhilfe (gerade für jene, die bereits aus den Unterkünften raus sind und eine Wohnung haben)

http://www.hamburg.de/basfi/start-spfh/

Privater Wohnraum für Flüchtlinge

http://www.hamburg.de/fluechtlinge-unterbringung/4506850/privater-wohnraum-aktuell/

Spenden für Flüchtlinge

http://www.hamburg.de/hh-hilft/4450014/spenden-fuer-fluechtlinge/
https://www.betterplace.org/de/projects/33167

Beantragung von Fördergeldern „Flüchtlinge & Ehrenamt“

http://www.buergerstiftung-hamburg.de/fonds_fluechtlinge_ehrenamt/

Arbeitsgemeinschaft Kirchliche Flüchtlingsarbeit Hamburg

http://www.hamburgasyl.de/helfen-spenden-ehrenamt-freiwillig-engagieren-fuer-fluechtlinge-hamburg.html

Fördern und Wohnen – Kontaktliste Erstaufnahmen

http://www.foerdernundwohnen.de/wohnen/einrichtungen-fuer-wohnungslose-menschen-und-zuwanderer/wohnunterkuenfte/zentrale-erstaufnahmeeinrichtung-fuer-asylbewerber.html

Inszenierte Wissenschaft – Das Schokolade-macht-schlank-Experiment

Eine Arte-Dokumentation legt offen, wie einfach (ok, sechs Monate sehr intensive Arbeit als Vorbereitung) es dieser Tage zu sein scheint, mit einer inszenierten wissenschaftlichen Studie rund um den Globus Schlagzeilen zu machen.

Die „Studie“ dokumentiert wie der wissenschaftlich-mediale Komplex funktioniert. Die beiden Filmemacher Diana Löbl und Peter Onneken haben das Setup erfunden und sich Experten als Berater dazu geholt, die das „Studiendesign“ entwickelten und die Daten auswerteten. Das Ergebnis der „Studie“ war vorab festgelegt: Schokolade macht schlank – eine Überschrift, die immer mal wieder durch die Druckerpressen und Startseiten der Netznachrichten rotiert (Spiegel Online 2012 und scinexx.de 2013).

Schließlich holten Löbl und Onneken für die Vermarktung den Wissenschaftsjournalisten John Bohannon ins Boot. Für das Science-Magazin inszenierte er 2013 eine andere verdeckte Operation, in dem er einen computer-generierten Nonsens-Aufsatz bei 304 Open Access-Zeitschriften einreichte und unglaubliche 157 Veröffentlichungszusagen erhielt. 

Interessanterweise behauptet nun der Publisher (fürs geübte Auge bspw. von Bohannon als einer jener predatory open access publisher zu erkennen, die alles drucken, was ihnen eingereicht wird), der Aufsatz sei sowieso niemals akzeptiert gewesen. Dennoch veröffentlichte der Verlag nun eine ordentliche „retraction notice“ unter der gleichen URL – http://imed.pub/ojs/index.php/iam/article/view/1087/728 – ein Verfahren dafür erfunden, einen bereits veröffentlichten Beitrag zurückzuziehen.

Bohannons Blogeintrag, um den Schwindel offen zu legen, ist ein bisschen zu selbstverliebt wie ich finde: „I fooled millions…“ – Seine Rolle in dem Spiel akzentuiert er schon sehr zu seinen Gunsten.

Der Film beleuchtet eindrucksvoll zwei gravierende Probleme:

Wie ist es möglich, angesichts der Flut biomedizinischer Fachaufsätze zu allen möglichen Fragen von Leben oder Tod die wissenschaftliche Qualität zu sichern?

Welche Auswirkungen hat ein völlig kritikloser Umgang mit vermeintlich wissenschaftlicher Forschung, wenn es Medien nur darum geht, ihren Konsumenten irgendetwas zu erzählen, das denen gefallen könnte?

Bei retractionwatch wird allerdings auch diskutiert, ob diese Fake-Studie überhaupt zurückgezogen werden durfte, wenn sie doch alle Kriterien erfüllt hat, die der Publisher eingefordert hat – und sich sonst auch kaum von vielem Schund unterscheidet, der gerade im ernährungswissenschaftlichen Bereich als „Studie“ durchgeht. Diesen Hintergrund haben Löbl und Onneker in ihrer Dokumentation ebenfalls gut ausgeleuchtet. Der Allgemeinarzt Gunter Frank (bekannt aus Buch, Funk, Fernsehen) hilft ihnen dabei, die Studienrezepte zu verstehen und die eigene Studie zu inszenieren.

Wer mehr wissen will: Die Qualität von Journalismus aus dem Gesundheits- und Ernährungsbereich wird in diesem Buch „Qualität im Gesundheitsjournalismus“, erschienen im SpringerVS-Verlag, diskutiert.

Zwischen Vereinbarkeitslüge und verlogenener Betroffenheit

Die beiden ZEIT-Redakteure Marc Brost und Heinrich Wefing haben Anfang 2014 im eigenen Haus ein Befindlichkeits-Essay veröffentlichen dürfen, das Mitleid erweckt – wegen der Rührseligkeit der Autoren und der Zwangsherrschaft, die ZEIT-Chefs über ihre Mitarbeiter ausüben müssen, wenn man den Berichten der beiden glauben mag. Von der Hölle (zwischen Kindern, Familie und Job) ist in dem Essay die Rede – und von der Vereinbarkeitslüge.

Immerhin erlauben es die bösen ZEIT-Chefs den durch sie geschundenen Männern, sich auf der eigenen Firmenseite über dieses Chefs-Zwangssystem zu beklagen. Beeindruckend. Das würde mir das UKE sicherlich nicht gönnen.

Jetzt befeuern Brost und Wefing die Vereinbarkeitsdebatte mit einem Buch, das mit dem Essay von vor einem Jahr eröffnet wird und genauso betitelt ist: „Geht alles gar nicht“. Die Autoren setzen den Diskurs fort („Jetzt reden die Väter“), den die Journalistinnen Susanne Garsoffky und Britta Sembach im letzten Herbst aus weiblicher Sicht vorangebracht hatten: „Die Alles-ist-möglich-Lüge“.

Leider haben die Brost und Wefing ihren Essay nicht wirklich ausgebaut, sondern nur ein bisschen aufgeblasen. Zum Buch hochgejazzt wird die Klageschrift mit Interviews, die zum Ziel haben, die These der Autoren zu stützen. Es wird gar nicht erst der Versuch unternommen, jemanden zu finden, der die These widerlegt.

Mich erstaunt, wie trotzig erwachsene Männer darauf beharren können, nichts ändern zu wollen – an den eigenen Ansprüchen und Erwartungen, an der Arbeitslast, an der Unvereinbarkeit im Allgemeinen und im Besonderen, nichts. Konsequenterweise sind diese Männer auch felsenfest überzeugt, gar nichts ändern zu können. Dafür sollen die anderen sorgen. Es braucht „gesellschaftliche Veränderungen, politische Reformen, ein Umdenken in den Unternehmen“.

Halt. Stopp. Wie war das mit dem Unternehmen, für das die beiden arbeiten? Spätestens hier offenbart sich die Pose der Autoren, die einer ehrlichen Haltung im Weg steht: Waren sie zunächst betroffen, sind sie spätestens bei ihrem Forderungskatalog verlogen. Brost und Wefing sind eben nicht bereit, selber einen ersten Schritt zu gehen. Job Sharing, Teilzeit, Verzicht hier oder da, um etwas anderes zu gewinnen? Verzicht auf ein Smartphone auf dem Spielplatz? Geht alles gar nicht.

Der Arbeitgeber ist offensichtlich eher stolz und veröffentlicht nun auch einen Auszug aus dem Buch. In den Chefetagen des Verlags scheint sich niemand wirklich angesprochen zu fühlen, wenn es im Buch um „die Chefs“ und die „Unternehmen“ geht, die dafür sorgen, dass das Leben der Väter zur Qual wird. Und die gequälten Väter? – Haben sich ihren Text in den vergangenen 12 Monaten (nebenberuflich) abgerungen – natürlich wieder zu Lasten der Familie, wie der Danksagung am Ende des Buches zu entnehmen ist, nicht etwa zu Lasten ihres Engagements bei DIE ZEIT.

PS.: Lange bevor beide Bücher erschienen sind, empfahl die Bloggerin und Unternehmerin Nicola Wessinghage sich vom Alles-ist-möglich-Mythos zu verabschieden. Folgerichtig setzt sich Wessinghage in ihrem Blog mit beiden Büchern auseinander: Mit den Männern und mit den Frauen.