Gelber Curry und das Gedächtnis

Im American Journal of Epidemiology erschien im November 2006 ein bemerkenswerter Aufsatz einer Forschergruppe aus Singapur: Curry Consumption and Cognitive Function in the Elderly: Die Autoren meinen nachgewiesen zu haben, dass der häufige Verzehr von gelbem Curry zu einer besseren Gedächtnisleistung, gemessen im Mini-Mental-State-Test, führt.

Die Substanz, die im Mittelpunkt steht: Curcumin, vom Curry-Gewürz Turmeric, seine anti-oxydativen und entzündungshemmenden Wirkungen. In tierexperimentellen Studien reduzierte Curcumin beta-amyloid, jene Ablagerungen, die eng in Zusammenhang mit der Alzheimer-Erkrankung stehen. In dieser epidemiologischen Studie kontrollierten die Autoren für insgesamt 21 konfundierende Variablen: Alter, Geschlecht, diverse Erkrankungen, den Genuss von scharfen Chilischoten und eine Reihe anderer Größen.

Ergebnisse des Vergleichs zwischen den drei Bevölkerungsgruppen (Chinesen, Malayen, Inder):

Viel Curry-Konsum (also mindestens wöchentlich bis täglich) ist mit einer (adjustiert) besseren Leistung im MMS verbunden. Jene Gruppen mit wenig oder gar keinem Curry-Verzehr (einmal im halben Jahr oder seltener) schneiden im MMSE im Schnitt um einen Punkt schlechter ab. Bei all dem überlappen die Vertrauensbereiche.

Mir stellen sich die Ergebnisse so dar: Wie viel Curry die Inder auch essen, die Chinesen haben immer die bessere Leistung im MMSE. Das schreiben allerdings die Autoren nicht. Trotz Kontrolle für Bildung, gibt es weiterhin einen heftigen Bildungseffekt. Also, wer lange zur Schule geht, oder gar studiert, hat als gesunder Mensch auch ohne Curry-Konsum gute Chancen im Leistungstest gut abzuschneiden.

Alzheimer-Medikamente – Stand der Dinge

Die (öffentliche) Diskussion in Deutschland über die modernen Anti-Dementiva (Cholinesterase-Hemmer) begann mit einer Meldung im SPIEGEL im August 2004. Im Zuge unserer systematischen Übersichtsarbeit zur Wirksamkeit der Medikamente Donepezil, Rivastigmin und Galantamin gab ich zu Protokoll: „Ich würde die Medikamente meiner Oma nicht geben“, denn die Studien strotzen vor methodischen Mängeln, die nachgewiesenen Effekte sind klein und ihr klinischer Nutzen ist sehr umstritten.

Der Aufschrei bei Psychiatern, Gerontologen, der Alzheimer-Gesellschaft und industrie-finanzierten Lobby-Vereinen wie der Hirnliga e.V. war groß.

  • „Warum stürzen Sie sich gerade auf die Alzheimer? Diese Menschen kriegen sowieso schon so wenig!“
  • „Sie verunsichern die Patienten.“
  • „Bei den Kardiologen ist die Datenlage doch auch nicht anders!“
  • „Ein Schmarr’n.“

Als die Ergebnisse unserer Arbeit im British Medical Journal erschienen, verschärfte sich der Ton zunächst noch einmal: David G. Wilkinson, persönlich betroffen, weil wir eine seiner Galantamin-Studien kritisiert haben, verstieg sich zu diesen Sätzen:

„To paraphrase Oscar Wilde this kind of review panders to the cynics who know the price of everything but the value of nothing.[…] If this stance is also taken by the similar committee in Germany the Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) it will be a triumph for the English and German Generals and a complete betrayal of those suffering in the trenches yet again. The kind of irresponsible pseudoscience demonstrated in this paper only fuels this perverse zeitgeist.“

Inzwischen hat das IQWiG seinen Vorbericht veröffentlicht. Das Institut bewertet zwar die methodische Qualität der Studien ähnlich kritisch wie wir – es kommt aber am Ende zu einem deutlich freundlicheren Fazit. In unserer Stellungnahme zum Vorbericht haben wir darauf hingewiesen: Es ist ein Widerspruch, die Studien nach strengen Regeln methodisch zu bewerten, dann aber die Ergebnisse der methodischen Bewertung bei der Einschätzung der Wirksamkeit außen vor zu lassen.

Wir warten gespannt auf den Endbericht.

Dementia Fair Congress – Bremen

Ich halte heute einen Vortrag auf dem Dementia Fair Congress: „Anti-Dementiva – was haben wir gelernt aus der Debatte?“.

Ungewohnt für einen Fachkongress kommen hier Fachleute aus Pflege, medizinischer Grundlagenwissenschaft, Stadtplaner, Versorgung, aus der Selbsthilfe und aus der klinischer Forschung zusammen, um sich über die ungezählten Facetten der menschlichen Gedächtnisentwicklung im Alter auszutauschen.

Dieser Austausch zwischen den Beteiligten in Forschung, Versorgung, zwischen Angehörigen und Wissenschaft, zwischen Profis und Laien wird gerade rund um die Demenz zukünftig die einzige Chance sein, neue Wege zu gehen. Weil die Erkrankung so vielgestaltig auftritt und weil so viele Bereiche des Lebens davon berührt werden, reicht Betreuung und Pflege der Erkrankten nicht mehr aus. Vielmehr geht es um Aktivierung, Zuwendung, Kommunikation, Erhalt der Lebensqualität. Und die Bereitschaft, auch im Alltag mit stark vergesslichen Personen umgehen zu lernen – sei es im Supermarkt, in der Apotheke oder an der Straßenkreuzung.

Gesundheitsreform 2007 – Teil 2

Fortsetzung vom 02.02.07

– Wahltarife: Ab 01.04.2007 haben Versicherte die Möglichkeit, in der GKV verschiedene Wahltarife in Anspruch zu nehmen. Da zahlt dann einer keinen Zusatz-Beitrag, weil er einen Selbstbehalt-Tarif wählt. Ein anderer zahlt den Höchstsatz, weil er sich partout nicht weniger riskant verhalten möchte. Der Endpunkt einer solchen Entwicklung sind radikal individualisierte Tarife. Damit wäre dann auch das Ende der Solidargemeinschaft erreicht.

– Leistungsausweitungen: In der Kinderheilkunde, in der Geriatrie/Gerontologie/Demenzversorgung und in der Palliativmedizin soll das Leistungsspektrum deutlich ausgeweitet werden. So werden empfohlene Impfungen Pflichtleistungen der Kassen. Es wird den Rechtsanspruch auf häusliche Krankenpflege und auf rehabilitative Maßnahmen geben.

Was immer die Abgeordneten beschlossen haben, die Buchmacher nehmen Wetten entgegen, wie viel davon nach 2009 wirklich umgesetzt (sein) wird. Sowohl die CDU als auch die SPD bekennen öffentlich, der Beschluss sei eine Grundlage für die weitere Entwicklung des eigenen Modells (Kopfpauschale vs. Bürgerversicherung) – vorausgesetzt, die nächsten Wahlen ergeben eine eigene Mehrheit.

Dieses Eingeständnis spricht für sich: Die Politiker tun so, als reformierten sie. Dabei kaufen sie sich nur Zeit, bis sich das Mehrheits-Klima wieder zu ihren Gunsten verändert. Gibt es etwa Probleme im Gesundheitssystem? War da was? Hat das Publikum etwas davon verstanden? Wissen die Politiker, worüber sie abgestimmt haben?

Gesundheitsreform 2007 – Teil 1

Was immer die Abgeordneten heute im Bundestag meinen, beschlossen zu haben – der Eingriff in das sozialstaatliche System, wie wir es kennen, ist massiv. Über mögliche Folgen gehen die Meinungen weit auseinander.

Verabschiedet haben die Parlamentarier das GKV-WSG, das Gesetzliche Krankenversicherungs-Wettbewerbs-Stärkungsgesetz. Mit diesem Gesetz werden erstmals alle Menschen in Deutschland krankenversichert sein. Jene, die bis heute durch das Netz fallen, werden zurückgeholt ins System. Es gibt zudem den Krankenkassen in Form von Wahltarifen mehr wettbewerbliche Elemente an die Hand.
Zukünftig werden die Finanzströme neu geregelt und die Verwaltungsstrukturen der Krankenkassen sollen sich verschlanken.

Weitere Elemente des Beschlusses:

– Der Gesundheitsfonds, ab 01.01.2009. Alle Beiträge der Versicherten fließen zunächst in einen großen Topf. Aus diesem Topf erhält jede Kasse einen nach Alter, Geschlecht und Krankheitsstatus gewichteten Anteil pro Patient. Reichen einer Kasse die Mittel aus dem Fonds nicht aus, um Kosten deckend zu arbeiten, darf sie bei ihren Mitgliedern einen zusätzlichen Beitrag erheben. Die Arbeitgeberseite braucht diesen Extra-Obulus nicht an die Kasse zu entrichten. Die Versicherten tragen allein das Risiko eventuell steigender Kosten.

– Den Krankenkassen wird etwas Gestaltungsmacht genommen. Sie dürfen nicht mehr selber festlegen, welchen Beitrag sie erheben. Den legt zum 01.01.2009 der Gesetzgeber fest. Innerhalb dieses Rahmens allerdings haben die Kassen mehr Gestaltungsfreiheit (siehe Wahltarife).

Alle Kassen werden versuchen, einen Zusatzbeitrag zu vermeiden. Deswegen werden sie sich eng an ihren Pflichtleistungskatalog halten. Darüber hinaus gehende Angebote werden mittels Zusatzversicherungen finanziert.

Morgen geht’s weiter.

Aktive und passive Sterbehilfe

Vor wenigen Tagen besprach ich im Unterricht mit Medizinstudierenden im ersten Semester dieses Thema. Was es heißt, lebensverlängernde Maßnahmen zu unterbinden und damit passiv Sterbehilfe zu leisten. Was es bedeutet, jemanden aktiv vom Leben in den Tod zu befördern. Welche Verantwortung ein einzelner Mensch dabei übernimmt. Und in welches Dilemma gerade sie als Ärzte und Ärztinnen irgenwann geraten werden.

In der Diskussion mit den Studis machte mich der Bericht einer Studentin besonders nachdenklich: Ihr Großvater (90) war im letzten Jahr sehr lange bettlägrig. Schließlich legten die Ärzte ihm sogar eine Magensonde. Die Qual war für alle Beteiligten sehr groß. Der Opa schien sich zu quälen. Die Familie sah ihn leiden.

Alle waren sich einig, dass es doch das Beste wäre, wenn Opa nicht länger leiden müsste und sie ihn nicht länger leiden sehen müssten. Da keine Patientenverfügung existierte, beharrte der behandelnde Arzt allerdings auf der Maximaltherapie.

Irgendwann besserte sich Zustand des Patienten. Heute kann er wieder selbständig essen.

So sehr ich Wahlfreiheit und Selbstbestimmung unterstütze, diese Geschichte zeigt, wie anmaßend und unangemessen es ist, sich als Fremdbestimmer zum Entscheider über ein anderes Leben aufzuschwingen. Und genau diese Gefahr besteht, wenn es gesetzliche Regelungen gibt, die Euthanasie erlauben. Die Diskussion in den Niederlanden zeigt, dass die Indikation früher oder später ausgeweitet wird, wenn einmal der rechtliche Rahmen dafür zur Verfügung steht…

Wie reagiert eine Gesellschaft mit solchen Möglichkeiten, der irgendwann die 80- bis 90jährigen eine zu große Last werden?

„Herr Doktor, kriege ich denn nun den Alzheimer?“

Ich besuche eine Patientin, 84 Jahre alt. Das Gespräch ist zu Ende. Ich habe meine Jacke bereits wieder angezogen. Sowohl mir als auch der Patientin ist klar, dass sich ihre Gedächtnisleistung seit meinem letzten Besuch verschlechtert hat.

Plötzlich greift sie nach meiner Hand und fragt: „Herr Doktor, krieg ich denn jetzt den Alzheimer?“ Dabei schaut sie eindringlich und ernst. Ich zögere eine Sekunde und sage dann: „Ich sehe, Sie wollen eine offene Antwort. Ich weiß um ihre körperlichen Erkrankungen: Herzinfarkt. Bypässe. Hochdruck. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden Sie an etwas anderem sterben, bevor einen Alzheimer kriegen.“

Die Patientin ist immer noch ernst, aber ihr Blick hellt sich deutlich auf. Sie sagt: „Herr Doktor, das beruhigt mich jetzt aber. Vielen Dank.“

und die moral von der geschicht? der situation und der person angemessene offenheit helfen betroffenen mit beginnenden gedächtnisbeeinträchtigungen häufig mehr als jedes drucksen oder verleugnen.

gesundheitspolitik als theater

wie schlecht muss politik sein, wenn sie für ihre inszenierung soviel donner und getöse braucht?

im heutigen akt bringen die beteiligten gutachten zur zukünftigen be- und entlastung einzelner bundesländer durch den gesundheitsfond gegeneinander in stellung. gutachten im übrigen, von denen kenner der materie sagen, sie seien eh für die tonne, weil NIEMAND in der republik über zuverlässige daten verfügt, die derlei prognosen überhaupt erlaubten.

das hektische fingerzeigen quer durch die republik (csu auf die ministerin schmidt, spd auf die cdu/csu-ministerpräsidenten) auf die vermeintlich bösen buben und mädels im stück, lenkt von der tatsache ab, dass hier am ende eine hand die andere wäscht: gibst du mir ein bisschen mehr markt im gesundheitssystem (sagt die cdu), gebe ich dir ein bisschen mehr dirigismus und kontrolle! gibst du mir ein bisschen mehr zentralgewalt (sagt die spd), gebe ich dir ein wenig mehr wettbewerb und konkurrenz. so viel einmütiges politikverständnis war selten in der republik. und alle welt denkt, die beiden würden sich streiten…

brauchen wir nun eine reform des gesundheitssystems oder müssen wir zuerst reformierte politiker ins amt wählen? oder müssen wir sie ins amt putschen?

Systematisches Review zu Alzheimer-Medikamenten im BMJ erschienen

Heute erscheint im British Medical Journal der Aufsatz: Kaduszkiewicz H, Zimmermann T, Beck-Bornholdt HP, van den Bussche H (2005). Cholinesterase inhibitors for patients with Alzheimer’s disease: systematic review of randomized controlled trials. British Medical Journal, 331, 321-327.

Eine aufreibende, intensive, lehrreiche Beschäftgung mit der Studienlage zur Wirksamkeit der neuen Anti-Dementiva (Cholinesterase-Inhibitoren) findet mit dieser Veröffentlichung ihren Aufsehen-erregenden Abschluss.

Die Reaktionen sind erheblich… Mehr dazu später…

Vertrauensvolle Kontrolle

Erschienen in der tageszeitung am 27.02.2003

Die freie Arztwahl gehört zu den Grundfesten des deutschen Gesundheitssystems. Doch die Erfahrung zeigt: Sie schadet den PatientInnen und treibt die Kosten in die Höhe

Wenn der Bauch wehtut oder der Kopf dröhnt, wenn Glieder oder Muskeln schmerzen, dann geht man zum Arzt. Die meisten PatientInnen sind in solchen Fällen fest davon überzeugt, dass mit ihrem Körper „irgendetwas nicht stimmt“. Denn in unserer Kultur ist es fast zwingend, für solche Leiden den Körper verantwortlich zu machen.

Das Problem ist nur: Bei knapp einem Drittel aller PatientInnen lassen sich keine organischen Ursachen für die Erkrankung feststellen – und das gilt selbst, wenn sich stark beeinträchtigende körperliche Symptome zeigen. In den Facharztpraxen für Kardiologie, Neurologie oder auch Orthopädie wird sogar nur die Hälfte der Symptome als organisch verursacht erklärt.

Gelingt es der Ärztin in diesen Fällen nicht, die PatientInnen von der meist fixen Idee einer körperlichen Ursache abzubringen, droht Doktor-Hopping: Auf der Suche nach einer organischen Ursache lassen sich PatientInnen mit solch einer „funktionellen Symptomatik“ häufiger untersuchen, stärker invasiv behandeln und unter größerem Kostenaufwand laboranalytisch vermessen als die durchschnittliche PatientIn einer Praxis. Im Zweifel gilt offenbar: Kommt es zu einer „Diagnose ohne Befund“, liegt die nächste Praxis nicht weit – der freien Arztwahl sei Dank.

Diese freie Arztwahl gehört zu den Grundfesten des deutschen Gesundheitssystems. Doch: Sie schadet den PatientInnen und treibt die Kosten in die Höhe. Das lässt sich vor allem an den Beschwerden vorführen, für die sich keine organischen Ursachen feststellen lassen, da sie zu den größten Kostenblöcken im Versorgungssystem gehören. Doch die daraus resultierenden Probleme des Gesundheitssystems lassen sich im Wesentlichen auf alle Krankheiten übertragen.

Problematisch am Doktor-Hopping ist, dass jede aufgesuchte Ärztin einen anderen Namen für die Beschwerden erwähnt – und zwar in Abhängigkeit vom eigenen Fachgebiet: Was für die Internistin wie ein Reizdarm aussieht, stellt sich der Rheumatologin wie ein Weichteilrheumatismus dar. Und nur in Ausnahmefällen kommt es tatsächlich irgendwann zu einem körperlichen Befund.

Die Konsequenzen einer solcherart organisierten Versorgungsstruktur sind offensichtlich: PatientInnen mit funktioneller Symptomatik sind zwar ökonomisch wertvoll, aber dennoch nicht unbedingt gern gesehen. Sie gelten oft als schwierig oder sogar querulatorisch und erweisen sich gelegentlich als absolut beratungsresistent.

Die vorsichtige Nachfrage der Ärztin, ob eventuell auch Stress oder sonstige psychosoziale Belastungen für die Symptome verantwortlich gemacht werden könnten, quittieren sie mit der Gegenfrage, ob die Medizinerin meine, sie seien verrückt – im besten Fall. Im schlechtesten Fall verlieren solche MedizinerInnen ihre Kundschaft. Die freie Arztwahl beschleunigt solche Beziehungsabbrüche, wenn sich die Medizinerin nicht den Kundenwünschen und -erwartungen gemäß verhält.

Ohne Zweifel hat sich das Verhalten der PatientInnen in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert: Sie sitzen im Schnitt häufiger in einer Arztpraxis. Sie gehen wegen leichterer Beschwerden in die Sprechstunde. Sie sind weniger bereit als frühere Generationen, ein aus dem Gleichgewicht geratenes körperliches Befinden längere Zeit zu tolerieren. Gesundheit ist in diesem Sinne zu einer Ware geworden, die sich erwerben lässt, wenn sie nach subjektivem Ermessen (scheinbar) abhanden gekommen ist.

Darüber hinaus sind Schmerz und körperliches Leiden stark soziokulturell überformt. Die jeweilige Kultur entscheidet etwa, ob der Geburtsschmerz allein der Frau, allein dem Mann oder beiden zusteht. Die Individuen der postmodernen Industriegesellschaften allerdings akzeptieren nur noch die Abwesenheit jeglicher unangenehmer Empfindungen als wünschenswerten Wohlfühlzustand. Wer unter einer Beschwerde leidet und deshalb von Krankheitsängsten geplagt wird, versucht möglichst frühzeitig durch den Besuch bei mindestens einer Expertin zu klären, was man dagegen tun könne.

Die freie Wahl einer Ärztin verstärkt diese konsumistische Haltung. Der Körper und das körperliche Erleben zerfällt in seine funktionsfähigen und nicht funktionsfähigen Einzelteile, deren Reparaturbedarf in freier Entscheidung einer entsprechenden Spezialistin überantwortet wird. Schmerzt ein Gelenk, ist entweder die Orthopädin oder die Rheumatologin zuständig, schmerzt der Kopf, wird die Neurologin tätig – oder auch die Hals-Nasen-Ohren-Ärztin.

Das wäre nicht weiter schlimm, wenn die Selbstüberweisung der PatientInnen an eine behandelnde Spezialistin mit den möglichen Ursachen einer körperlichen Funktionsstörung in Einklang stünde. Doch die Entscheidung, eine bestimmte Expertin aufzusuchen, um Beschwerden abzuklären, beruht auf ausgesprochen unzuverlässigen Vermutungen darüber, in welchem Organsystem die Ursache für die Störung zu suchen sein könnte. Die Erfahrung lehrt: Dort, wo es wehtut, liegt in den seltensten Fällen die Ursache für den Schmerz.

Allein dies reichte als Grund schon aus, der Hausärztin größeres Gewicht in der Erstversorgung der Patientin zuzugestehen. Beide könnten dann gemeinsam herausfinden, welche weitere Abklärung der Beschwerden sinnvoll und notwendig sein könnte – so wie es auch Gesundheitsministerin Ulla Schmidt fordert. Doch damit nicht genug. Das häufige Phänomen, verschiedene MedizinerInnen aufzusuchen, um mehrere „unabhängige“ Meinungen in Erfahrung zu bringen, birgt weitere Gefahren für die Gesundheit.

Zum einen wird der Glaube an eine organische Ursache verfestigt. Zum anderen wachsen Verwirrung und Verunsicherung aufseiten der PatientInnen. Jede Spezialistin kauderwelscht nämlich der Betroffenen zwischen Tür und Angel ein paar lateinische Worte ins Ohr – und empfiehlt dieses oder jenes Präparat und eine Wiedervorstellung, wenn die Beschwerden sich nicht bessern.

Gleichzeitig führen die verschiedenen Medikamente, die unabhängig verschrieben, aber nun gemeinsam eingenommen werden, zu Nebenwirkungen, die wiederum kaum kontrollierbar sind. Oft hat die Patientin dann den Eindruck, die ursprünglichen Beschwerden verschlimmern sich. Die Folge: Sie sucht eine weitere Ärztin auf. Ein Teufelskreis.

Das vielstimmige Konzert ärztlicher Meinungen und deren unabhängig voneinander verordnete Verschreibungen gefährden die Gesundheit der PatientInnen. Deswegen erwiese es sich als außerordentlich konstruktiv, das hausärztliche Lotsenmodell aus dem Hause Schmidt gegen den Widerstand der betroffenen SpezialistInnen politisch durchzusetzen. Das ideologisch überfrachtete Gut der freien Arztwahl zu opfern scheint ein kleiner Preis, verglichen mit dem Gewinn, der daraus erwüchse: besser versorgte PatientInnen.