Aufstand der Hausärzte

Es steht gerade (wieder einmal) schlecht um den Ruf der Hausärzte in diesem Land: Von TAZ über FAZ bis zum unsäglichen Beitrag von Report Mainz prangern einige Journalisten sie diese Woche als unfähige, gierhalsige Abzocker an, die ihre Patienten instrumentalisieren, um die eigenen Interessen durchzusetzen.

Dabei übersehen die gesundheitspolitischen Kommentatoren, dass sie sich selber von den Lobbyisten der Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) instrumentalisieren lassen und dem PR-Gesäusel des FDP-Ministers auf den Leim gehen, wenn sie behaupten, die Hausärzte gehörten doch sowieso zu den besonders Privilegierten, denen man allenfalls die Honorarzuwächse kürzen möchte, der Zuwachs an sich aber gar nicht in Frage gestellt würde.

Wie sehr hier brutaler, gesundheitsökonomischer Verteilungskampf inszeniert wird, bei der ärztliche Standesverbände, Kassenärztlichen Vereinigungen und (vor allen anderen) die Ersatzkassen um die Marktführerin BarmerGEK und die Pleitekandidatin DAK in seltener Eintracht gesundheitspolitisch geisterfahren, um sinnvolle Reformen im System zu blockieren, entgeht den hausarztkritischen Betrachtern in der schreibenden Zunft komplett.

Mit einigem Aufwand proben die Hausärzte nun den Aufstand: Röslerol & co werden in Stellung gebracht – allein die Botschaft ist schwer zu vermitteln.

Die Feinheiten des Versorgungssystems zwischen Kollektiv- und Selektivvertrag, die Honorarkämpfe zwischen Allgemein- und Gebietsärzten, die ungleichen Machtverhältnisse in den Gremien der ärztlichen Selbstverwaltung, die Weigerung der großen Krankenkassen, Ihrer gesetzlichen Pflicht zur hausarztzentrierten Versorgung nachzukommen, der Nachwuchsmangel in der hausärztlichen Medizin, den selbst Herr Rösler einräumt – all das geht unter im Geklingel der Worte um Geld und Angst.

Die Ängste der Allgemeinärzte vor dem Existenz- und Bedeutungsverlust und die mit der jetzigen Kampagne erneuerten Ängste wegen eines möglichen Zusammenbruchs der wohnortnahen Versorgung, dem Wegbrechen der Versorgung insbesondere alter, chronischer kranker Menschen bis hin zur Warnung vor dem Verlust von Menschenleben, die der Geschäftsführer des Hausärzteverbandes, Eberhard Mehl, unter die Leute bringt.

Am Ende bleibt leider der fatale Eindruck: Nicht der Erhalt sinnvoller Reformstrukturen und ein weiterer Ausbau einer neuen Versorgungsqualität ist das Ziel der Allgemeinmediziner, sondern die bloße Besitzstandswahrung. Breite gesellschaftliche Unterstützung für ein womöglich berechtigtes Anliegen kommt auf diese Weise leider nicht zustande.

Regierung will doch bei der Hausarztversorgung nach §73b sparen

Da habe ich vor wenigen Tagen noch (naiv) angenommen, Hausarztzentrierte Versorgung nach §73b SGB 5 sei von den Sparplänen der Regierung ausgenommen, weil die CSU sich dagegen sperren würde. Jetzt kann ich hier nachlesen, die Regierung möchte diese Art der Versorgung doch am ausgestreckten Arm verhungern lassen.

Noch ist ja nichts in Paragrafen verankert und beschlossen durch das Parlament. Noch könnten die CSUler erkennen, wie sehr sie sich hier von der FDP haben über den Tisch ziehen lassen, wenn Sie an dieser Stelle sinnvolle Strukturreformen durch Austrocknen unmöglich machen.

Im Gegenzug dafür ist die Lohnnebkostensenkungspartei FDP bereit, nicht nur den Arbeitnehmer-, sondern auch den Arbeitgeberbeitrag zur Krankenversicherung zu erhöhen: Beide steigen nach den jetzt veröffentlichten Plänen demnächst um 0,3%. Erst dann wird der Arbeitgeberbetrag eingefroren. Über den Arbeitsnehmerbetrag hüllen sich die Verantwortlichen in Schweigen. Ob durch Anhebung des Arbeitnehmeranteils am allgemeinen Beitragssatz oder durch ungedeckelte Zusatzprämien in Euro und Cent: Sämtliche weiteren Ausgabensteigerungen gehen zu Lasten der Versicherten.

Wieder einmal fällt also den (Gesundheits)-Politikern in diesem Land nichts anderes ein, als die Patienten zur Kasse zu bitten. Klar, die Politstrategen sind ja nicht blöd, kurzfristig werden auch die anderen Spieler um Milliarden-Abschläge gebeten (Arzneimittelhersteller, Apotheken, Krankenhäuser, Ärzte), die mittelfristige Planung jedoch sieht ausschließlich (Zusatz)-Beiträge der Versicherten vor.

All das und der ganze andere Murks, den die Gesundheitspolitik verantwortet, spielt mir dennoch in die Hände: Je länger keinerlei strukturelle Reformen wie bspw.

  • Aufhebung der sektoralen Gliederung,
  • Bündelung der Sicherstellung ambulant und stationär in einer Hand,
  • die Beschränkung oder Abschaffung der Selbstverwaltung,
  • eine echte Hausarztversorgung (verpflichtend für alle),
  • die Erweiterung der Einnahmebasis für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) durch Einbezug von Kapital und Vermögen,
  • eine Einbindung der Privaten Krankenversicherung ins Solidarsystem,
  • ein durchforsteter Leistungskatalog in der GKV, der Nutzloses und Sinnloses nicht mehr erstattet,
  • bei Diagnostik und Medikation präklinischer Syndrome (bspw. Prä-Diabetes, Mild Cognitive Impairment),
  • die Überprüfung der Zulassungskriterien für neue Arzneimittel oder
  • eine Preisregulierung für Arzneimittel, die über das Solidarsystem finanziert werden

angeschoben werden, desto mehr Zeit bleibt, Leute zu sammeln, selber einen Vorschlag zu entwickeln, aufzuschreiben und damit eine neue soziale Bewegung zu entfachen. Vielleicht bleibt uns ja doch nichts anderes übrig, als die Dinge selber in die Hand zu nehmen, wenn die Politiker nicht in der Lage sind, sie gescheit und gerecht zu regeln.

Mal sehen, was sich machen lässt.

Versorgung durch den Hausarzt nach §73b SGB 5

Aus den Reihen der CDU-Gesundheitspolitiker (Spahn und Koschorrek) ist in den letzten Tagen zu vernehmen, dass sie für die Abschaffung der geschiedsten Verträge zur hausarztzentrierten Versorgung plädieren. Noch ist diese Idee nicht offiziell im Sparmaßnahmenkatalog gelandet – und vermutlich wird sie das auch nicht, weil die CSU schon Widerstand angekündigt hat.

Dennoch bietet es sich an, darauf hinzuweisen, wie wenig manche Politiker verstanden haben, wie notwendig solche Veränderungen im deutschen Gesundheitssystem sind, wie sie die Hausärztverträge nach §73b darstellen:

  • Stichwort Einzelleistungsvergütung nach EBM als Steckenpferd und Existenzsicherung der KVen – dagegen stehen die pauschalen Vergütungen in den HA-Verträgen. Das ist ein erster Schritt, die sprechende Medizin zurück in die Praxen zu bringen, denn befreit vom Gedanken an mögliche Abrechnungsziffern, sind womöglich neue Dynamiken zwischen Hausärztin und Patientin möglich.
  • Unterrepräsentanz der Hausärzte in den Vertreterversammlungen der KVen – deswegen haben die Hausärzt/innen angefangen, Ihre Belange in die eigenen Hände zu nehmen.
  • Durch diese andere Art der Vergütung besteht erstmals die Möglichkeit, aus dem Hamsterrad auszusteigen, dass die Hausärzte zwingt, immer mehr Patienten einzubestellen, um für diese immer weniger Vergütung zu erlösen. Die hohe Arztkontaktrate in Deutschland ist doch ein Symptom eines absurden Systems, das wir hinter uns lassen müssen. Diese Verträge sind ein erster Schritt, etwas mehr Vernunft ins Versorgungsspiel zu bringen.
  • Eindämmen der Selbstüberweisung durch die Patienten: Patienten, die meinen, sie wüssten schon selber, welchen Facharzt sie brauchen, liegen damit meist nicht richtig. Zumal Studien (schon vor zehn Jahren und mehr) zeigten, dass dieselbe Patientengruppe mit unspezifischen Symptomen beim Rheumatologen eine Fibromyalgie und beim Gastroenterologen eben einen Reizdarm angedichtet bekommt (Aaron LA, Buchwald D 2001: A Review of the Evidence for Overlap among unexplained Clinical Conditions. Ann Intern Med. 134: 868 – 881. Aktuell: Lahmann, Henningsen, Noll-Hussong, Dinkel 2010: Somatoforme Störungen, Psychother Psych Med 2010; 60: 227–236)
  • Wenn es denn politisch gewollt ist, die hausärztliche Versorgung zu erhalten, dann müssen die strukturellen Bedingungen der Arbeit eines Hausarztes oder einer Hausärztin verbessert werden, die Vergütung ist wichtig, aber sicherlich nicht die zentrale Hürde dafür, den Facharzttitel AfA zu erwerben und sich niederzulassen.

Niemand, schon gar nicht die Hausärzte, die ein politisches Rollback fürchten, sollten die politischen Vorstöße falsch verstehen: Hier geht es nicht darum, etwas einzusparen. Die Verträge nach §73b unterliegen der Gesamtbereinigung und entziehen nur dem KV-System das Geld, das ansonsten über die üblichen Ausschüttungsmechanismen verteilt würde.

Bei solchen Vorstößen geht es vielmehr darum, einen drohenden Macht- und Bedeutungsverlust abzuwenden – und eine dringend notwendige Renovierung des Systems, bei dem es Gewinner und Verlierer geben wird, zu unterlaufen. Willfährige Politiker verkleiden das dann in einen Sparvorschlag. Dass mit der hausarztzentrierten Versorgung keine Monopole geschaffen wurden, kann man schon daran sehen, dass bspw. die KV Meck-Pomm gemeinsam mit dem Hausärzteverband Meck-Pomm die Verträge abwickelt. Den KVen steht es ja frei, eigene Verträge nach §73b abzuschließen, wenn Gemeinschaften von Leistungserbringern, die auch hausärztlich tätig sein können (nach §73 Satz 1a), sie dazu ermächtigen.

Allerdings kommt der meiste Widerstand nicht einmal von der KV-Seite. Die gesetzlichen Krankenkassen blockieren und verlangsamen diese Entwicklung, seit §73b 2004 das erste Mal ins SGB 5 geschrieben wurde. Beispielsweise werden bei der TK (meine Versicherung, Vertragsstart für mich als Versichertem laut Auskunft Call-Center 01.01.11) keinerlei Anreize mehr für die Patientenseite in Aussicht gestellt. Ja, die TK weist in Ihrem Informationsblatt explizit darauf hin, entgegen landläufiger Meinung sei es eben nicht der Fall sei, dass die Praxisgebühr im Hausarzt-Vertrag entfiele. D.h., die Kassen werden zwar vom Gesetzgeber gezwungen, solche Verträge zu machen, aber gerade die großen Kassen werden sie nicht offensiv bewerben bzw. werden sie ihren Versicherten nicht schmackhaft machen. Nach dem Motto: Wenn keiner die Hausarztzentrierte Versorgung (HAZV) in Anspruch nimmt, lässt sich am Ende gut argumentieren, die Patienten wollten das ja gar nicht.

Und da bin ich bei Bertelsmann und dieser seltsamen Studie von 2008, die von interessierten Kreisen leider immer noch gegen die Hausarzt-Modelle ins Feld geführt wird. Ich verweise auf einen früheren Eintrag im Weblog, in dem ich mich mit dieser Art von „Untersuchung“ beschäftigt habe: Hausarztmodelle teuer und ohne Nutzen – und an dieser Stelle vermisse ich als statistisch-methodisch arbeitender Wissenschaftler schmerzlich ein Korrekturverfahren für politischen Bias, :-).

Krankenkassen gehen pleite

Endlich werden Krankenkassen nicht nur fusioniert, sondern ganz geschlossen. Die Versicherten zerstreuen sich in alle Winde und verteilen sich auf die verbleibenden Versicherer. So findet eine andere Art der Risikostreuung statt. Die Kassen müssen jeden Neukunden nehmen, der von einer anderen Kasse kommt, egal wie teuer er demnächst zu behandeln ist, egal ob die Patientin mit einem guten (Einnahme höher als die Ausgabe) oder einem schlechten (Ausgaben höher als die Einnahmen) Risiko Kassenmitglied wird. Vor Jahren schon hat Ulla Schmidt die Parole ausgegeben, 30 bis 40 dieser Unternehmen würden völlig ausreichen. Doch warum nicht die Marktbereinigung zu Ende denken?

In Frankreich sind 90% der Bürger in einer Krankenkasse versichert… Was spricht dagegen, die gesetzlich Versicherten in einer Kasse zu versichern, wenn doch der verpflichtende (Regel)-Leistungskatalog für alle Kassen gleich zu sein hat? Wird hier nicht ein Pseudo-Wettbewerb zwischen den Versicherern aufrecht erhalten, der dem System ziemlich teuer kommt? Haben nicht in Wahrheit die Selbstverwalter im System, die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen), die Krankenhäuser, die pharmazeutische Industrie den größten Vorteil von diesem Pseudo-Markt?

Ist nicht die Nachfrageseite (also die Patienten) immer schlechter gestellt als die Anbieterseite (Ärzte, Krankenhäuser, Apotheken), die das Blaue vom Himmel erzählen können, wie hilfreich, toll und sinnvoll diese oder jene Maßnahmen sind, die in Wahrheit nur den eigenen ökonomischen Bedürfnissen, den (selbst auferlegten) Sachzwängen und Interessen dienen – häufig aber nicht oder nur nachrangig den Interessen derjenigen, die als Kranke auf sie angewiesen sind?

Ist das nicht ein komplett absurdes System, das auf diese Weise organisiert ist – und sich dann auch noch Markt nennt? Oder verstehe ich da was falsch? Was ist denn nun ein Markt? Kann ich als kranker Mensch überhaupt ein Marktteilnehmer sein? Und wenn ja, wie soll das gehen, wenn ich bewusstlos in ein Krankenhaus gefahren werde? Oder wenn der Kardiologe sagt, bei diesem Herzen und diesen „Symptomen“ müsste er mich mal zur Koronarangiographie einbestellen… Woher weiß ich denn als Patient, dass da jemand seinen Herzkathetertisch amortisieren muss und jeden drüber schiebt, der im riskanten (und damit abrechnungsfähigen) Alter angelangt ist?

PS.: Im Feld kursiert übrigens der Witz, Koronar-Patienten bekämen demnächst einen Reißverschluss, um das Prozedere bei der Wiedereinbestellung zu vereinfachen…

Gesundheitsausgaben in Deutschland 2008

Das Statistische Bundesamt hat Zahlen zu den Gesundheitsausgaben in Deutschland 2008 veröffentlicht. Demnach gaben wir im Referenzjahr rund 263 Milliarden Euro für Gesundheit aus, davon rund 131 Milliarden für die ambulante und rund 95 Milliarden für die stationäre Versorgung. Der Pro-Kopf-Anteil stieg von 3080 Euro im Jahre 2007 auf 3210 Euro.

Die Zahlen basieren auf „dem Konzept des „System of Health Accounts“, welches von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem Statistischen Amt der Europäischen Union (Eurostat) zum Zweck der internationalen Vergleichbarkeit von Gesundheitsausgaben empfohlen wird.“

Deswegen unterscheiden sich die Zahlen beispielsweise von denen, die der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung veröffentlicht. OECD-gemäß gehen „sämtliche Güter und Leistungen mit dem Ziel der Prävention, Behandlung, Rehabilitation und Pflege, die Kosten der Verwaltung sowie Investitionen der Einrichtungen des Gesundheitswesens“ in die Rechnung ein. „Forschung und Ausbildung im Gesundheitswesen, sowie Ausgaben für krankheitsbedingte Folgen (zum Beispiel Leistungen zur Eingliederungshilfe) und Einkommensleistungen, wie die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall werden nachrichtlich nachgewiesen.“

Regierungskommission, Kopfpauschale, Selbstverwaltung

Heute trifft sich die Regierungskommission Gesundheitswesen das erste Mal. 8 Ministerinnen und Minister, bei 15 Ministerien inklusive Kanzleramt mehr als die Hälfte der Regierung, werfen ihr Gewicht in die Waagschale, um das Gesundheitssystem voranzubringen.

Als Begleitmusik zu diesem Treffen veröffentlichte die Märkische Allgemeine vor ein paar Tagen einige Zahlen, die in der aktuell aufgeheizten Debatte sogleich auf fruchtbaren Boden fallen: 29 Euro pro Kopf als Einstieg in den Systemwechsel sollen von Röslers Ministerium angeblich geplant sein. Als Ausgleich soll der Extrabeitrag von 0,9 Prozent wegfallen, der im Moment von den Arbeitnehmern alleine getragen wird – seitdem die damalige rotgrüne Regierungsmehrheit diesen Sonderbeitrag 2004 beschlossen hat.

Wenn dies tatsächlich die angedachte Richtung ist, dann wird klar: Hier soll kein Versicherter entlastet werden. Hier wird zunächst einmal tief in die Tasche gegriffen. Eine Kopfpauschale in dieser Höhe würde (bei rund 50 Millionen vollversicherten Mitgliedern in der GKV) gigantische 17,5 Milliarden Euro in den Gesundheitsfonds spülen. Die Entlastung von 0,9 Prozent dagegen bringt den Versicherten – entsprechend der Faustregel 1 Prozent Beitrag = 10 Milliarden Euro – genau diese Summe. Netto werden die Versicherten also mit 7,5 Milliarden zur Kasse gebeten.

Aber wer weiß, vielleicht streicht das Ministerium ja noch andere Zuzahlungen, die momentan anfallen (Medikamente, Krankenhausaufenthalte, Praxisgebühr). Gleichwohl: Eine (von Kritikern befürchtete) Entlastung von Besserverdienenden ist auf diese Weise nicht mehr in Sicht. Allerdings ist auch nicht klar, woher die benötigten 5 Milliarden Euro Sozialausgleich kommen sollen.

Die Regierungskommission wird Herrn Röslers Konzept lauschen. Er wird zähneknirschendes Wohlwollen ernten und heute abend in den Nachrichten zitiert werden, er selber sei ganz entspannt und ganz froh und alles sei auf einen guten Weg gebracht – oder so ähnlich. Bis zur Wahl in NRW im Mai wird sowieso nix beschlussreif.

Und das zahlende Publikum? Sitzt da, ist genervt und resigniert. Und das System schüttet weiter Geld ohne Ende an diejenigen aus, die behaupten, uns immer gesünder machen zu wollen. An die, die unser Geld verwalten und entscheiden, wie viel davon in ihren Taschen bleibt, an die „Vampire in der Blutbank“, wie der SPIEGEL (32/2005) die Selbstverwaltung im Gesundheitssystem einmal nannte.

Wahrscheinlich müssen wir als zahlendes Publikum genau da aktiv werden: Diese Form der Selbstverwaltung in Frage zu stellen.

Update 18.03.2010
Laut Ärzteblatt sagt Minister Rösler zu den angeblichen Überlegungen, eine 29 Euro-Kopfpauschale einzuführen: „Das ist ausdrücklich nicht mein Modell.“

Regierungskommission Gesundheitswesen

Die Bundesregierung hat am vergangenen Mittwoch beschlossen, eine „Regierungskommission zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung des Gesundheitswesens“ einzusetzen.

In der Kommission sitzt das halbe Kabinett:

Der Bundesminister für Gesundheit, Dr. Philipp Rösler (Vorsitzender)
Der Bundesminister des Innern, Dr. Thomas de Maizière
Die Bundesministerin der Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Der Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble
Der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Rainer Brüderle
Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Ursula von der Leyen.
Die Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Ilse Aigner
Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Kristina Schröder

Was soll das? Was will uns die Regierung damit bedeuten? Warum ist der Innenminister dabei, wenn es um die Finanzierung des Gesundheitssystems geht? Was steht denn dann bei so einem Treffen (1. Sitzung am 17.03.10) auf der Tagesordnung?

Ich wette, alle werden nach dem ersten Treffen erklären, sich für ein solidarisches Gesundheitssystem einzusetzen. Den Rest kann sich der Interessierte dann denken: Die einen wollen das jetztige Beitragssystem erhalten, die anderen wollen auf eine Gesundheitsprämie aka Kopfpauschale aka Kopfprämie umstellen. Die CDU/CSU sichert sich eine 5:3-Mehrheit in der Kommission.

Politischer Stillstand, hochkarätig inszeniert, Potemkinsche Dörfer vom Feinsten, Deutschland 2010.

Nun merkt auch die PKV, was Schwarz-Gelb will

Die Private Krankenversicherung (PKV), namentlich durch ihren Verbandschef Leienbach, hat der Berliner Zeitung am vergangenen Wochenende ihr Leid geklagt und die eigene Enttäuschung über die bisherige Arbeit der Koalition kundgetan. Unter anderem hätte die Regierung längst den Zugang zur PKV wieder erleichtern können. Außerdem passt den Privaten die ganze Richtung nicht: Mehr Steuergeld ins System. Diese GKV-Subventionen müssen nämlich die privat Versicherten (als Steuerzahler) ebenfalls mitbezahlen.

Hinter all dem steckt die Bedrohung des Geschäftsmodells der PKV: Kommt es zu einer Kopfpauschale mit Sozialausgleich aus Steuermitteln (subventionierte Kopfprämie nennt es Leienbach), gibt es für kaum einen abhängig Beschäftigten, der viel verdient, einen Grund die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) zu verlassen und sich bei der PKV (voll) zu versichern. Deren Prämien wären nämlich nur bei den jungen, gesunden Männern konkurrenzfähig mit der Gesetzlichen. Insgesamt wäre selbst die höchste gegenwärtig diskutierte Kopfprämie (etwa €200) preiswerter als die regulären Tarife der Privaten. Selbstverständlich ist Leienbach der Ansicht, privat Versicherte hätten auch andere Gründe als die preiswerten (Einstiegs)-Prämien die GKV verlassen. Auch die bevorzugte Behandlung sei ein wichtiger Grund…

Doch: Einen Verbleib fast aller Beitragszahler in den GKV könnten sich die meisten politisch Verantwortlichen nur wünschen. Aber hat das auch schon jemand der FDP gesagt? Hat die CSU dem Koalitionsvertrag deswegen zugestimmt? Weil CDU und CSU den Privaten auf diese Weise das Wasser abgraben werden?

Oder stehen uns doch viel kältere Absichten ins Haus: Eine verpflichtende Grundsicherung für alle, und die in der GKV? Wahlweise Zusatzversicherungen in der PKV, und dann nur noch dort? Nix genaues weiß niemand über die wahren Absichten dieser Koalition. Wachsam bleiben, ist im Moment die einzige Chance. Und genau auf das Gejammer aus dem System selber zu hören. Im Moment jedenfalls scheint es nicht gut auszusehen für die PKV…

Erstaunlicherweise gibt der Verbandschef nun öffentlich zu, dass privat Versicherte bspw. fünfmal höhere Laborkosten verursachen als gesetzlich Versicherte. Zudem ruft er nach einem Verhandlungsmandat für die PKVen ähnlich dem der GKVen, die in der ambulanten Versorgung als Verbände mit den Kassenärztlichen Vereinigungen über Leistungsmengen und Honorare verhandeln. Außerdem fordert er Öffnungsklauseln in der Gebührenordnung, damit nicht alles mehr so hochpreisig abgerechnet werden kann, wie das gegenwärtig der Fall ist – mit teilweise horrenden Auswirkungen auf die Beiträge der Versicherten.

Interessant das alles. Sehr interessant.

Unsinnige Kritik an der Kopfpauschale

Der vielstimmige Empörungskanon gegen die von der schwarz-gelben Koalition beabsichtigte Kopfprämie (aka Gesundheitsprämie, aka Kopfpauschale) verwendet ein Standardargument, das leider durch seine vielfache Wiederholung nicht richtiger wird: Angeblich wolle die Koalition, dass der Manager genauso viel Krankenkassenbeitrag bezahlt wie die Putzfrau oder wie sein Fahrer.

Gewerkschaften reden so, die Linke und manche selbst aus der CDU.

Wer auch immer das Argument in den kommenden Auseinandersetzungen erneut verwendet, erweist sich als schlechter Kenner der Gegebenheiten im Gesundheitssystem: Ein Manager oder ein Oberarzt, die Einkommen deutlich oberhalb der Versicherungspflichtgrenze (etwa 4000 Euro Brutto im Monat) kriegen, haben sich schon lange aus der Solidargemeinschaft verabschiedet. Die sind bereits privat versichert und zahlen weniger Beitrag als sie in der Gesetzlichen Krankenversicherung zu entrichten hätten.

Erfindet die Koalition einen gescheiten Sozialausgleich, dann werden genau diese Leute, die sich aus der Solidarität verabschiedet haben, über das Steuersystem wieder eingefangen. Herr Rürup hat das für die CDU schon 2004 einmal durchgerechnet, woran ein Kommentar im Kölner Stadtanzeiger erinnert.

Dass sich der Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb oder Gelbschwarz, wie ich es nenne, eher wie ein Konjunkturprogramm für den medizinversicherungs-industriellen Komplex liest, steht auf einem anderen Blatt. Nur mit deutlich unsinnigen Argumenten sollte niemand dem darin enthaltenen Programm begegnen.

Gesundheitssystem – Aufbruch oder Abbruch?

Um nicht falsch verstanden zu werden: Nur weil ich mich gestern eher despektierlich über die gesundheitspolitischen Absichten der Gelbschwarzen geäußert habe, bedeutet das nicht, dass ich nicht gerne bereit wäre, der neuen Regierung und ihren Plänen eine Chance zu geben!

Meine Verzweiflung über den Stillstand, die Verknöcherung, die strukturelle Veränderungsresistenz und die flächendeckende Ressourcenverschwendung im System ist so groß, dass ich (fast) jedem Versuch wohlwollend gegenüber stehe, das System radikal zu reformieren.

Diese Art von Reform scheint uns ja nun ins Haus zu stehen. Nur müssen die Gelbschwarzen die Beitragszahler überzeugen, dass sie nicht nur mehr zahlen, sondern auch eine bessere Versorgung bekommen. Und der erwartbare Empörungskanon aus Gewerkschaften, Sozialverbänden und Rot-Rot-Grün (Entsolidarisierung, ungerechte Umverteilung, Abschaffung des Sozialsstaats) braucht gelassene Entgegnungen.

Leider fällt den Vertretern von Solidarität und Gerechtigkeit seit Jahrzehnten nichts anderes ein, als mehr und mehr und noch mehr Geld in dieses System einzuspeisen. Eine Kopfprämie mit Sozialausgleich aus dem Steuertopf ist nicht per se unsolidarisch. Entscheidend ist der Mechanismus, der verhindert, dass der Sozialausgleich nach Kassenlage hoch oder runter gefahren werden kann.

Was ist solidarisch am bisherigen System, die den Beitrag bei Einkommen von 3675 Euro Brutto deckeln? Jeder Euro, der darüber hinaus verdient wird, geht nicht in die Berechnung des Beitrags ein. Was ist solidarisch am bisherigen System, wenn eine vierköpfige Familie mit einem Einkommen (bspw. 6000 Euro) nur einen Beitrag entrichtet, während eine vierköpfige Familie mit zwei abhängig Beschäftigen, die beide zusammen ebenfalls 6000 Euro erlösen, zwei Kassenbeiträge entrichten muss?

Der designierte Minister Rösler muss sich an seinen eigenen Worten messen lassen: Wir sind fest davon überzeugt, dass unser Gesundheitssystem besser wird, aber definitiv nicht teurer. Warum die Kopfprämie verteufeln, wenn plötzlich wirklich alle – und nicht nur die Beitragszahler der Gesetzlichen Krankenversicherung für den Sozialausgleich zu sorgen haben, über das Steuersystem?

Die zentrale Frage zur Zukunft des Systems lautet sowieso: Wer trägt die wohl unvermeidlichen Ausgabensteigerungen durch eine älter werdende Bevölkerung, durch medizinische Innovation, durch die umgreifende Präventions-Hysterie? Nur wer hier einen sozialen Ausgleich hinkriegt, reformiert das System wirklich – wenn es denn die Absicht ist, weiterhin allen die Segnungen des Systems zukommen zu lassen.