Vom Risiko, privat versichert zu sein…

In der öffentlichen Diskussion um die Zwei-Klassen-Medizin wird zweifelsfrei vorausgesetzt, dass es irgendwie besser wäre, privat versichert zu sein: Ein privat Versicherter bekomme angeblich eher einen Arzttermin, habe Zugang zu den besseren Medizinern, den besseren Therapien und werde insgesamt im System bevorzugt behandelt.

Dieser rosige Blick auf die Wirklichkeit der privaten Krankenversicherung (PKV) dient vor allem einem Zweck: Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) wegen ihrer vermeintlich schlechteren Versorgung abzuwerten. Seht her, wie gut es dem privat, wie schlecht es dem gesetzlich Versicherten geht. In den vergangenen Wochen hat sich niemand zu Wort gemeldet, der darauf hinweist, dass es sich bei der Bevorzugung privat Versicherter um (häufig) unnütze Überversorgung handelt. Im letzten Jahr berichteten die Zeitschrift Capital und die FAZ – In den Klauen der Halbgötter aus journalistischer Sicht über das Phänomen.

Ein Blick auf die Rahmenbedingungen genügt, und vom schönen Schein der PKV bleibt nicht mehr viel übrig. Alles fängt bei der Risikoprüfung an, die ein Wesensmerkmal dieser Krankenversicherung ist. Wer krank ist, alt oder mit einem anderen Malus behaftet, zahlt höhere Beiträge oder wird gleich abgelehnt. Wenn nicht der Beamtenstatus eine Privatkasse dazu verleitet, denjenigen zu versichern. Eine psychische Erkrankung in der Vorgeschichte kann zu einem gesenkten Daumen seitens der PKV führen. Daraus resultiert eine insgesamt, im Vergleich zur GKV, gesündere Versicherten-Population. Seit dem 01.07.2007 ist es gleichwohl möglich, ohne Risikoprüfung in die PKV aufgenommen zu werden bzw. zurückzukehren.

Dass allerdings diese eher gesünderen Patienten in einer Studie Qualität der Gesundheitsversorgung in Deutschland berichteten, sie gingen häufiger zum Facharzt, würden häufiger stationär behandelt und häufiger nicht-akut-notwendigen OPs ausgeliefert, verwirrt dann doch. Außerdem bekamen privat Versicherte in der Studie, an der das IQWiG beteiligt war, häufiger unnötige Doppeluntersuchungen, warteten kürzer sowohl bei den Fachärzten als auch bei geplanten Operationen. Da schließt sich der Zwei-Klassen-Medizin-Kreis: Weil es sich um die lukrativeren Patienten handelt, werden sie zwar bevorzugt behandelt, kommen deswegen gleichwohl in den Genuss möglicherweise unnützer Überversorgung.

Doch zu viel des Guten reicht nicht. Die PKV erstattet den behandelnden Ärzten immer wieder Heilversuche, die allenfalls dem Geldbeutel des Behandlers dienen kaum aber dem Patienten. Lucentis bei trockener Makula-Degeneration (MD) ist ein nicht unbeliebter Versuch von Augenärzten, ihren privatversicherten Patienten, die ihren Blick nicht mehr scharf stellen können, Hoffnung zu verticken. Was für die feuchte, die altersbedingte MD erlaubt ist, kann doch für die trockene nicht so falsch sein! Eine Zulassung jedoch gibt es für diese Indikation nicht.

Doch nicht nur Überversorgung ist problematisch bei der PKV. Auch Unterversorgung ist zu vermelden, bspw. in der Versorgung von schwangeren Frauen und Wöchnerinnen. Geburtsvorbereitungskurse werden nicht erstattet. Und Wöchnerinnen stellt die PKV keine Haushaltshilfe zur Verfügung, wie die GKV es tut, auch nicht, wenn der Bedarf erwiesen ist. Auch finanziert die PKV keine Rückbildungsgymnastik. All das gehört zum Privatvergnügen der Schwangeren. Schwangerschaft sei eben keine Krankheit.

Zum Schluss noch eine Bemerkung zum Versicherungsbeitrag. Die PKV nimmt in der Regel weniger Beitrag als die GKV (Arbeitnehmer- plus Arbeitgeberanteil). Dafür allerdings gibt es in der PKV die Versicherung von Familienmitgliedern nur gegen Aufschlag oder gar einen eigenen Beitrag.

Wer die GKV also nur an der Höhe des Beitrages bemisst, sollte nicht zur Seite schieben, was es dafür gibt: In einer vierköpfigen Familie, in der nur einer verdient, zahlt auch nur einer Beitrag – zumindest so lange die Eltern verheiratet sind. Aber das ist eine andere, eine familien-, keine gesundheitspolitische Baustelle…

Demenz, Schlaganfall, Qualität der Versorgung

Unter dem Titel „Den Schwerkranken das Leben erleichtern“ erschien heute im Hamburger Abendblatt eine Zusammenfassung unserer Arbeit hier am Institut für Allgemeinmedizin, Uni-Klinik Hamburg-Eppendorf.

Wir arbeiten an wichtigen Zukunftsthemen (Ich verstehe mich sowieso als Zukunftsforscher!) wie der Versorgung von Schlaganfallpatienten, der Versorgung und der Lebensqualität von Menschen mit Demenz, all das aus Patientensicht, aus Sicht der versorgenden Hausärzte, der Pflegedienste, der Angehörigen. Dafür haben wir Mittel in zweistelliger Millionenhöhe eingeworben, die Personalstärke vervierfacht in den vergangenen fünf Jahren.

Ein Laden, der brummt, der Themen setzt und vorantreibt. Ein Laden, zu dem ich gerne gehöre, :-).

Neues Pflegegesetz – was haben pflegende Angehörige davon?

Am 14.03.08 verabschiedete der Bundestag ein neues Pflegegesetz – das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesetzlichen Pflegeversicherung. Dessen Eckpunkte habe ich hier zusammengefasst. Ausführlich stellt das Bundesgesundheitsministerium die Veränderungen in diesem Dokument dar.

Vorgestern habe ich beschrieben, was sich für Menschen mit Demenz ändert. Heute fasse ich zusammen, was pflegende Angehörige vom Gesetz erwarten können.

1. In einem akuten Versorgungsfall eines Angehörigen, gewährt das Gesetz einem Arbeitnehmer eine kurzzeitige Freistellung von bis zehn Tagen, um die nötigsten Dinge in die Wege zu leiten. Das soll dazu dienen, entweder eine bedarfsgerechte Pflege zu organisieren oder die Versorgung mit Pflege einfach nur selbst sicherzustellen.

2. Darüber hinaus gewährt das neue Gesetz pflegenden Angehörigen den Rechtsanspruch, für bis zu 6 Monaten befristet von der Arbeit freigestellt zu werden, um selbst die Pflege des Angehörigen zu übernehmen – in Unternehmen mit mehr als 15 Mitarbeitern. Pflegt der Angehörige mehr als 14 Stunden wöchentlich ist schon jetzt geltendes Recht, dass die Pflegekasse die Rentenversicherungsbeiträge zu übernehmen hat. Im Falle einer gesetzlichen Familienversicherung bleibt der Kranken- und Pflegeversicherungsschutz gewährt.

Liegt keine Familienversicherung vor, muss sich der Arbeitnehmer freiwillig in der Krankenversicherung weiterversichern. Dafür zahlt er den Mindestbeitrag. Damit ist auch die Pflegeversicherung abgedeckt. Auf Antrag erstattet die Pflegekasse den Mindestbeitrag zurück. In der Arbeitslosenversicherung bleibt der Arbeitnehmer weiter versichert, die Beiträge erstattet ebenfalls die Pflegekasse.

Innerhalb einer Frist von zwei Wochen (Notsituation) muss die Pflegekasse über den Antrag auf Pflegezeit befinden.

3. Anspruch auf Verhinderungspflege. Wer einen Angehörigen pflegt, hat auch bisher schon Anspruch auf Erholungsurlaub. In der fraglichen Zeit wird dem Angehörigen eine Pflegevertretung zur Verfügung gestellt. Im neuen Gesetz wird die Vorpflegezeit für die erstmalige Inanspruchnahme einer Pflegevertretung von zwölf auf sechs Monate verkürzt. Zudem wird die Zeit des Erholungsurlaubs der Pflegeperson zukünftig bei der Rentenversicherung gutgeschrieben.

4. Das Pflegegeld, also die Geldleistung für Pflegepersonen, wird schrittweise erhöht. Bei Pflegestufe 1 in 10-Euro-Schritten von derzeit 205 Euro auf 235 Euro im Jahr 2012. Bei Stufe 2 von 410 Euro in 10-Euro-Schritten auf 440 Euro. Und bei Stufe 3 von derzeit 665 Euro über 675 (2008) und 685 (2010) bis auf 700 Euro im Jahr 2012.

ARD-Sendung „Polylux“ gehackt

Ein „Kommando Tito von Hardenberg“ hat sich per Video auf Youtube dazu bekannt, der Redaktion und der Redaktionsleitung (Tita von Hardenberg) der TV-Sendung „Polylux“ die gefälschte Geschichte eines Drogenabhängigen untergeschoben zu haben.

Zitat aus dem Bekennermaterial:

„Wir, Angehörige des „Kommandos Tito von Hardenberg“ der Hedonistischen Internationale haben heute, am 10. April des Jahres 2008 das öffentlich-rechtliche Musik- und Drogenformat „Polylux“ angegriffen. Unser Angriff auf den boulevard-medialen Komplex soll unsere grundlegende Opposition ausdrücken gegen Praktikantenausbeutung und schlechtes Fernsehprogramm.“

Danke für den Hack, „Kommando Tito von Hardenberg“. Danke für diese revolutionäre Tat. Die Verantwortlichen beim gebührenfinanzierten Haussender des Formats, dem Rundfunk Berlin-Brandenberg (RBB), sollten das doch zum Anlass nehmen, die Arbeitsmethoden der Redaktion etwas näher zu beleuchten. Oder den pseudo-coolen, dusseligen und – nunmehr belegt – schlecht recherchierten Schnick-Schnack gleich ganz aus dem Programm streichen.

Neues Pflegegesetz – was haben Demenzkranke davon?

Am 14.03.08 verabschiedete der Bundestag ein neues Pflegegesetz – das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesetzlichen Pflegeversicherung. Dessen Eckpunkte habe ich hier zusammengefasst. Ausführlich stellt das Bundesgesundheitsministerium die Veränderungen in diesem Dokument dar.

Heute fasse ich zusammen, wie sich die Versorgungssituation für Menschen mit Demenz zukünftig verändert.

1. Zu Beginn einer Demenzerkrankung erfüllen die betroffenen Menschen meist die Kriterien nicht, die an die Vergabe einer qualifizierten Pflegestufe (1-3) verbunden sind. Häufig ist zunächst die Alltagskompetenz beeinträchtigt. Dafür ist die Pflegestufe 0 vorgesehen. Für den damit verbundenen, erhöhten Betreuungsaufwand stehen ab 01.07.08 jährlich bis zu 2400 Euro zur Verfügung. Je nach Aufwand schüttet die Pflegekasse einen Betreuungsbetrag von 100 oder 200 Euro monatlich aus.

2. Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz haben halbjährlich Anspruch auf einen Beratungsbesuch durch einen Pflegedienst bzw. eine neutrale, unabhängige Beratungsstelle zu Lasten ihrer Pflegeversicherung.

3. In den letzten Jahren haben sich neue Wohnformen etabliert. Demenz-Wohngemeinschaften sind entstanden. Menschen, die sich für diese Art des Zusammenlebens entscheiden, können nunmehr ihre Leistungsansprüche „poolen“. D.h., mehrere Versicherte nehmen gemeinsam bspw. eine oder mehrere Pflegekräfte in Anspruch, die sich um sie kümmern. So lassen sich Ansprüche auf grundpflegerische und vor allem auf hauswirtschaftliche Versorgung bündeln.

4. Pflegeheime mit vielen Demenz-Erkrankten können nun Personal einstellen, um für Menschen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf zusätzliche Angebote, so genannte Betreuungsassistenzen anzubieten. Die Finanzierungspflicht liegt in vollem Umfang bei den gesetzlichen und den privaten Pflegekassen.

Allerdings: Die Leistungsverbesserung und -ausweitung in der Pflegeversicherung hat ihren Preis. Der allgemeine Beitrag steigt deswegen um 0,25% des Bruttoeinkommens. Für Kinderlose von 1,95% auf 2,2%, für alle anderen von 1,7% auf 1,95%.

Christine Brinck: Mütterkriege

Bevor ich irgendetwas über dieses Buch schreibe, lege ich ein Bekenntnis ab: Ich gehöre in drei der vielen Schubladen, derer sich die Autorin bedient: Teilzeitarbeitender Vater (sehr gut), hat sein Kind mit 10 Monaten in Fremdbetreuung gegeben (sehr schlecht), wurde in der DDR in Krippe und Kita ab dem 1. Lebensjahr fremdbetreut (ganz, ganz schlecht).

Das Buch ist ein Beitrag zur aktuellen Debatte um Krippenausbau und Elterngeld, zum Disput um häusliche Erziehung und Fremdbetreuung. Dabei kommt die Autorin relativ schnell zur Erkenntnis, dass es für die meisten Eltern und insbesondere die Mütter nicht um ein Entweder-oder (Entweder erzieht Mama das Kind daheim oder es überlässt es der Krippe), sondern um ein entspanntes Sowohl-als-auch geht: Kindchen ein paar Stunden in eine gute Krippeneinrichtung und dann immer noch genügend gemeinsame Zeit für Eltern und Kind.

Leider gelingt es der Autorin nicht, in ihrem Buch das Sowohl-als-auch als gute Option in den Vordergrund zu rücken. Vielmehr verwendet sie vier Techniken, um auf recht brachiale Weise allen, die nicht ihrer vorgefertigten Meinung sind (siehe Schubladen oben) in die korrekte Spur zu verhelfen.

1. Erzählen der Wirklichkeit von den Rändern her, von den Extremen

Bis zu 50 Kinder in einer Gruppe, Betreuungszeiten zwischen 10 und 12 Stunden, drei Monate alte Kinder fremdbetreut, wechselndes, schlecht ausgebildetes Personal in den Kitas und Krippen. Mit dieser Auswahl an Extremen zeichnet Brinck das Bild bundesdeutscher Kita-Wirklichkeit. Was sie eigentlich nicht will (entweder-oder) macht sie so zur Leitlinie ihrer Argumentation. Schuldig bleibt sie allerdings eine Bestandsaufnahme, wie viele Kinder in welchem Alter wie viele Stunden tatsächlich in einer Einrichtung betreut werden. Und wenn sie dazu keine Zahlen gefunden hat, müsste sie welche einfordern.

2. Viel behaupten, wenig belegen

Die unter 1. beschriebenen Extreme werden durch das Buch hindurch als allgemeingültig unterstellt. Wie gesagt: Die Belege dafür fehlen.

Weiteres Beispiel gefällig? Familiäre Erziehung sei besser als jene vom Staat. Eine beredte Sprache sprächen da „die Ergebnisse früherer Massen-Fremdbetreuung in der DDR und den anderen Ostblock-Ländern.“ Welche Ergebnisse, wo?

Oder auch: „[…] doch sind unsere Rollen als Väter und Mütter nicht austauschbar, auch wenn die Gender-mainstreaming-Advokaten die Eltern am liebsten androgyn sehen würden.“ Quellen: Keine.

3. Mitgefühl simulieren, aber kneifen, wenn es drauf ankommt

Der Autorin geht es um das Wohl des Kindes. Doch die Krippen sollten nicht (hauptsächlich) für die Besserverdienenden und Besserausgebildeten da sein. Die könnten die Kinder ja verantwortungsvoll selber betreuen, könnten sich das auch leisten. Vielmehr wäre es notwendig, in den sozialen Brennpunkten die Fremdbetreuung massiv anzukurbeln. Für die Benachteiligten dieser Gesellschaft würden sich gut ausgestattete Betreuungseinrichtungen besonders eignen. Ach? Eine Frage dazu: Wie stellt sich die Autorin vor, dass die Eltern einwilligen, ihre Kinder in Obhut zu geben? All das erscheint doch sehr halbgar und wohlfeil.

4. Diffamierende Metaphern verwenden

Da reicht ein Beispiel: „Jeder, der sich einen Hund anschafft, um ihn anschließend in die Hundepension zu bringen, würde von Tierfreunden als unmenschlich gebrandmarkt. Mit einem Kind soll das aber gehen?“

Mit ein wenig Lektorat, einer gescheiteren Struktur, mit etwas mehr Belegen und weniger Behauptungen, mit etwas weniger Betroffenheitssimulation und weniger Schaum vor dem Mund hätte aus dem Buch ein konstruktiver Debattenbeitrag werden können. So wirkt es wie ein schnell zusammengewürfeltes Potpourri aus Meinung, Beleidigung und dünner Argumentation, um noch das Trittbrett des fahrenden Themenzuges zu erwischen.

Irgendwie unsympathisch.

Reine Verhandlungssache

Neulich, unser Sohn bei seiner Mama auf dem Arm:

Er: „Kommt das neue Baby auch auf den Arm?“
Sie: „Ja.“
Er: „Bei Papa!“
Sie: „Bei Mama und Papa.“
Er schüttelt den Kopf: „Bei Papa.“

Auch wer wann mit welcher Wickeltischauflage auf den Wickeltisch darf, wer wo im Bett liegt, wer wo auf welchem Stuhl sitzt, sind Teil der Verhandlungen, in die der „große“ Sohn gegenwärtig verstärkt einsteigt. Ohne die Extraportion diplomatisches Geschick geht zukünftig also nix mehr.

Immerhin: Als Söhnchen bei einer anderen Gelegenheit auf Mamas Arm saß, riß er sich seinen Schnuller aus dem Mund und warf ihn in Mamas Ausschnitt: „Für das Baby!“

Demenz, Würde und eine Walter-Jens-Homestory mit fadem Beigeschmack

Diese Woche gibt Inge Jens im STERN einen tiefen, zu tiefen Einblick in das Leben mit ihrem Demenz-erkrankten Ehemann, dem Tübinger Geisteswissenschaftler und Schriftsteller Walter Jens. Dessen gesamtes professionelles Leben gründet auf Text und Sprache, auf Kommunikation, auf Schreiben und Lesen. Doch dieser Teil seiner Identität ist durch die Erkrankung ausgelöscht.

Das Interview ist sicherlich aufrichtig. Aus Frau Jens sprechen Verzweiflung und Hilflosigkeit, aber auch Kälte und Distanz. Dennoch bleibt das Motiv dieser Bloßstellung vollständig im Dunkeln. Was will uns Frau Jens verdeutlichen? Dass es jeden treffen kann? Dass Demenz ganz und gar furchtbar ist, vor allem für die Angehörigen? Oder gibt es in der Familie offene Rechnungen? Was auch immer das Motiv sein mag, aus dem Interview lässt es sich nicht erschließen. Den alten Mann so vorzuführen, scheint mir doch arg unwürdig.

Neulich schrieb Tilman Jens in FAZ: „Meine Mutter, mein Bruder und ich sind uns einig, wir wollen, wir werden sein Leid nicht verstecken.“ Das lässt sich auch als Drohung verstehen.

Denn nun ist diese STERN-Geschichte dabei rausgekommen, weil die Familie das Leid des Professors nicht verstecken will. Warum will sie das nicht? Warum geht die Familie mit dem Leid des Alten hausieren?

Und: Grenzt es nicht an Mißbrauch von Einverständnisunfähigen, wenn solche Bildstrecken wie die im STERN veröffentlicht werden?

Das eingeschlossene Hirn – Teil 5

Ende der 1990er Jahre entwickelte der Tübinger Psychologe Niels Birbaumer ein computergestütztes Gedankenübersetzungsgerät. Das Gerät eröffnete Menschen mit dem Locked-In-Syndrom die Möglichkeit, wieder mit der Außenwelt zu kommunizieren, zu schreiben, das Licht im Zimmer an und aus zu schalten. Aus Anlass des Filmstarts von „Schmetterling und Taucherglocke“ (wieder)-veröffentliche ich ein Gespräch mit Birbaumer (Psychologie Heute 11/98) über die Neuroprothese, die dahinter stehende Lerntheorie und den Konstruktivismus.

Teil 4

Zettmann: Beschäftigt sie als Psychologe der Gedanke, welche Auswirkungen direkte Schnittstellen auf die menschliche Identität haben könnten?

Birbaumer: Eigentlich nicht. Natürlich beschäftigt es mich aus philosophischer Sicht, weil wir dadurch mit alten philosophischen Fragen konfrontiert werden. Wenn man das aber spezifisch betrachtet, das eigene Gehirn zu kontrollieren, dann wirkt das auf den ersten Blick etwas futuristisch und philosophisch besonders interessant. Bei genauerem Hinschauen ist das aber alles nicht viel mehr wie Fußballspielen. Es ist eine Methode, bei der man statt der Muskelzellen die Gehirnzellen über Training zu bestimmten Fertigkeiten bringt. Die Mechanismen sind exakt dieselben wenn sie einen Sport oder eine Sprache lernen: Klassisches und instrumentelles Lernen, es unterscheidet sich durch nichts von etwas anderem.

Z: Ist es nicht ein neue Qualität menschlichen Erlebens, durch Gedankenübertragung eine Maschine zu steuern?

Birbaumer: Das glaube ich nicht. Wenn ihre Muskeln intakt sind, setzen sie die ja auch mit einem Gedanken in Bewegung. Und damit können sie ein Rad steuern oder ein Auto. Gehirnzellen sind nichts anderes wie Muskelzellen, die zum Denken da sind. Und die funktionieren nach denselben Prinzipien. Ein Gedanke ist nichts anderes als eine elektrische Veränderung und die kann einen Muskel steuern, einen Gedanken entwickeln oder in unserem Fall einen Rechner bedienen. Da sehe ich keinen besonderen qualitativen philosophischen Sprung. Der Vorteil ist, näher an die Psyche heranzukommen. Ich komme näher an das Geschehen heran, das die Psychologie zum Gegenstand hat. Die Prinzipien nach denen das funktioniert sind immer dieselben, so wie sie die Herren Pawlow, Skinner oder Thorndyke formuliert haben.
Das interessiert zwar die Psychologen heute nicht mehr, weil sie sich mit anderen, angeblich besseren Dingen beschäftigen – aber deswegen kommt die Psychologie als Wissenschaft speziell in Deutschland nicht weiter.

Z: Aus konstruktivistischer Sicht klingt das nach einem arg vereinfachten Weltbild…

Birbaumer: Natürlich, als Konstruktivist bereitet einem das Probleme. Die entstehen aber schon in der Praxis, wenn man mit solchen Patienten arbeitet wie wir. Die können ihre Welt nicht mehr konstruieren, sondern die sind in dieser Welt eingeschlossen. Und trotzdem ist ihre innere Welt überhaupt nicht anders wie unsere. Sie ist nur nicht mehr mitteilbar, sie hat keine Wirkungen mehr und es kann daher mit ihr nichts mehr konstruiert werden. Aber die Innenwelt wird weiter konstruiert, ein wenig verändert zwar, aber weiter konstruiert. Das erkennt man, wenn man direkt mit dem Gehirn der Patienten kommuniziert. Dann sehen sie, dass es die Konstruktion des Gehirn selbst ist, die die Welt konstruiert. Wenn sich die Konstruktivisten darauf einlassen, bin ich auch wieder Konstruktivist. So wie der Konstruktivismus sich jetzt gebiert, mit diesem ganzen Piaget´schen Rummel und diesen Pseudokonstruktionsideen, dass der Mensch sich die Welt konstruiert und dass das, was wir hier vor uns haben die Konstruktion der Innenwelt und sonst nichts sein soll, halte ich für absoluten Blödsinn und für gefährlich. Wir konstruieren uns nicht die Welt, unabhängig von der Welt. Das geben die Konstruktivisten natürlich auch zu, aber sie sagen, die Welt sei unsere Konstruktion. Das stimmt nicht, weil die Korrelation zwischen der Welt und unseren Hirnkonstruktionen der Welt so hoch ist, dass ich nicht mehr sagen kann, das habe ich konstruiert: Es ist die Welt, die mein Gehirn konstruiert, nicht umgekehrt.

Z: Zumal ich ja mit meinem Gehirn in eine bereits vorfindbare Welt hinein geboren werde…

Birbaumer: … und das Gehirn ist zu Beginn eine Tabula Rasa. Nehmen sie ein Kind, sperren sie es 20 Jahre ein, es lernt nie Sprache, lernt nie Sozialverhalten, konstruiert keine Welt. Und unsere Patienten sind das in diesem Spätzustand. Die verändern sich psychisch in einer Reihe von Faktoren, aber sie können keine Welt mehr konstruieren. Aber mit Hilfe unseres Gerätes können sie es bis zu einem gewissen Grade.

Z: Wird es über solche oder ähnliche Schnittstellen möglich sein, direkt an Sinneszentren heranzukommen?

Birbaumer: Ja, natürlich. Wir experimentieren mit dem MEG, bei dem ich die Hirnaktivität sehr viel genauer, mit Zonen von 1 mm Größe, erfassen kann. Es lassen sich als auf 1 mm genau die Magnetfelder messen, die sich dann wieder kontrollieren lassen. Zwischen 10000 und 100000 Zellen können nach einem entsprechenden Lernprozeß reguliert werden. Damit können sehr spezifische Dinge verändert werden, z. B. einzelne Sinneseindrücke. Allerdings glaube ich nicht, dass sich diese Technik für Prothesen eignet, denn eine Sinnesprothese bspw. bei Blinden muß noch spezifischer sein. Dort müssen einzelne Nervenzellen angesprochen werden können, da kommen wir in der notwendigen Genauigkeit nicht ran.
Das ist aber auch nicht mein primäres Interesse. Als Psychologe interessieren mich Leistungsverbesserungen oder -verschlechterungen, Änderungen der Ausdehnungen kortikaler Felder, Verbesserung ganz spezifischer Lernleistungen. Für solche tatsächlich psychologischen Probleme oder für Krankheiten, bei denen solche Probleme eine Rolle spielen – Alzheimer‘sche Erkrankung, Epilepsie, Parkinson, alle chronisch-degenerativen neurologischen Erkrankungen. Dafür könnte unsere Methode in Zukunft von Nutzen sein.

Z: Herr Birbaumer, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Zwei-Klassen-Medizin oder drittklassige Wissenschaft?

Irgendwie verwunderlich, wenn plötzlich eine vor drei Monaten veröffentlichte Arbeit („Waiting times for elective treatments according to insurance status: A randomized empirical study in Germany„) des Kölner Instituts für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie (Direktor, beurlaubt: Prof. Karl Lauterbach, MdB) so eine rasante mediale Karriere macht.

Findet hier die gefühlte Wirklichkeit endlich mal ihren wissenschaftlichen Ausdruck? Hat ein Studienautor und Gesundheitspolitiker (Lauterbach) im richtigen Moment dem richtigen Blatt (Kölner Stadtanzeiger) das richtige Interview gegeben – und alle denken, endlich bringt mal einer Fakten, wovon wir sowieso schon lange überzeugt sind? Oder macht da einfach einer seine private Gesundheitspolitik?

Die unterschiedlichen Reaktionen jedenfalls sind im Deutschen Ärzteblatt zusammenfassend dargestellt.

Doch wie viel Substanz hat die Originalarbeit, auf die sich plötzlich alle stürzen – ohne sie gelesen zu haben, wie sich unschwer vermuten lässt?

Wenig, um es vorab auf den Punkt zu bringen:

1. Die häufig zitierten 189 (oder auch: rund 200) Praxen schrumpfen auf 128, die in die tatsächliche Auswertung eingehen. Es handelt sich also um 128 Patiententermine in 5 verschiedenen Fachgebieten, wobei manche stärker (HNO N=46) und manche weniger stark (Gastroenterologie N=10) vertreten waren. Die Aussagekraft ist also noch einmal deutlich kleiner, als gegenwärtig öffentlich diskutiert.

2. Zum Setting gehörte, dass die Anrufer in der jeweiligen Praxis explizit ihren Versichertenstatus (gesetzlich oder privat) zur Kenntnis geben mussten. Das ist eher ungewöhnlich, sowohl von Patientenseite als auch von Praxisseite. Sicherlich gibt es privat Versicherte, die sich mit dieser Info versuchen einen Vorteil zu verschaffen. Und sicherlich gibt es auch Praxen, die nachfragen. Doch Alltag im deutschen System ist das keinesfalls – zumindest nicht so, wie es im Design suggeriert wird. Die Studie erzeugt also erst einmal den Gegensatz (gesetzlich vs. privat), den sie dann später bestätigt findet. Redlich ist das nicht.

3. Das Verhältnis von Privatversicherten zu gesetzlich Versicherten lag in der Studie bei 1:1. In der Wirklichkeit ist das Verhältnis ungefähr 9:1, also auf 9 gesetzlich Versicherte kommt ein Patient mit privater Versicherung. Das mag von Region zu Region variieren, auch in der Region Köln/Bonn/Leverkusen mag der Anteil der privat Versicherten leicht höher liegen. Doch eine derartige Verzerrung zuungunsten der gesetzlich versicherten Patienten im Studiendesign zu verstecken, spricht auch nicht für die Qualität der Studie.

Zusammengefasst: Mit einer kleinen, kaum sehr aussagekräftigen Stichprobe versuchen die Autoren in einem Design, das ihre eigenen Vorurteile reproduziert, Ergebnisse zu erzeugen, die sich gesundheitspolitisch vermarkten lassen. Herr Lauterbach gehört bekanntermaßen zu den schärfsten Gegnern der privaten Krankenversicherung.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Auch ich bin ein großer Fan der Solidarversicherung. Doch dieser Idee wird ein schlechter Dienst erwiesen, wenn einzelne Interessierte auf diese drittklassige Weise versuchen, gesundheitspolitisch Stimmung zu machen. Die gesamte Studie ist also schon als politisches Manifest konzipiert. Das Schreckgespenst der Zwei-Klassen-Medizin wird absichtlich zu monströser Größe aufgeblasen.

Niemand bestreitet Verwerfungen im deutschen Gesundheitssystem. Ungerechtigkeiten und Ungleichbehandlungen sind gegenwärtig Teil des Systems. Doch schlechte Wissenschaft und Patienten, die durch die Vermarktung schlechter Wissenschaft in Wallung gebracht werden, helfen kaum, Systemfehler politisch zu beheben. Mit der Brechstange und im Alleingang wird auch Prof. Lauterbach das System nicht verändern.